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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1323–1325

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Merks, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gott und die Moral. Theologische Ethik heute.

Verlag:

Münster: LIT 1998. 414 S. gr.8 = Schriften des Instituts für christliche Sozialwissenschaften, 35. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-2597-3.

Rezensent:

Lars Reuter

Die Frage nach dem Proprium einer christlichen Ethik spitzt sich zu in einer Gesellschaft, in der den Kirchen insbesondere in den Bereichen der Sexualethik oder Biomedizin wenig Autorität eingeräumt wird. Dies überrascht wenig, denn je stärker die Autonomie des menschlichen Individuums zur Begründung sittlicher Urteile und der ihnen folgenden Handlungen dient, desto schwieriger gestaltet es sich, allgemein gültige Normen zu formulieren, die nicht nur richtig, sondern auch wahr sind. Dieser Autoritätsverlust, der mit der zunehmenden Individualisierung einhergeht, trifft natürlich nicht nur das kirchliche Milieu, aber er produziert hier gerade bei eher hierarchisch strukturierten Kirchen - wie der römisch-katholischen - Unbehagen, wenn nicht gar Abwehr. Manche sehen so beispielsweise in der päpstlichen Enzyklika ,Veritatis Splendor' den Versuch, den klaren Schein der Wahrheit in die korrumpierten Gesellschaften der bröckelnden Moderne zu werfen. Nebenbei werden deshalb die (katholischen) Moraltheologen gemaßregelt, die mittels einer in der Vernunft begründeten sog. ,autonomen Moral' versuchten, das vom Konzil angestrebte ,aggiornamento' der Kirche, d. h. ihre Anpassung an die heutige Zeit, auch auf dem Gebiet der Ethik durchzuführen.

M. sympathisiert mit dem Anliegen dieser Schule: "In ihrem Kern besagt Autonomie in diesem Kontext: Die moralische Ordnung ist als Entfaltung der eigenen Verantwortlichkeit zu verstehen" (6). M. strebt nun in "Gott und die Moral" an, eine "[t]heologische Ethik heute" vorzulegen. Ausgangspunkt hierfür ist in systematischer Hinsicht eben dieser Begriff der Autonomie, während auf persönlicher Ebene nach M. ein weiterer Grund in der Frustration darüber zu finden sei, dass "[n]eerlandica non legetur" (10). Das vorgelegte Werk stellt nämlich eine Sammlung früherer und größtenteils auch veröffentlichter Arbeiten dar, von denen etliche auf Niederländisch erschienen sind, was offensichtlich auf Grund der genannten Behauptung als problematisch erlebt wird. Die Beiträge reichen von Bistumszeitungskolumnen über Lexikaeinträge bis zu eigenen Monographien, wobei das Niederländische gelegentlich durchschimmert.

Wegen seines Genres, das dem einer Anthologie gleicht, findet sich in diesem Buch nun keine systematisch durchgearbeitete Darlegung einer solchen Ethik, sondern eher ihr Aufriss. Die Kapitelüberschriften präsentieren allerdings selbst dem flüchtigen Betrachter das Anliegen, um das es geht, deutlich: "Freiheit und Verantwortung", "Verantwortung und Gehorsam", "Heilige Texte, Glaube und Vernunft", "Grenzerfahrungen", "Inkulturation", "Kirche in der Demokratie" lassen sich in gewisser Weise schon als Programm, zumindest aber als Eckpunkte einer solchen Ethik begreifen.

Grob skizziert geht es also darum, zu begründen, warum "das dominium des Menschen über seine Akte zugleich auch ein dominium über seine Normen ist und sein muss. Nur so kann der Mensch dem dominium über die Erde gerecht werden. Solch eine Herrschaft aber schließt den Begriff der Verantwortlichkeit nicht aus, sondern setzt ihn gerade voraus. Abusus non tollit usum!" (44). Dies galt, wie M. einräumt, zwar immer schon und ist z. B. von dem von M. gelegentlich zitierten B. Schüller eindeutig nachgewiesen und begründet worden, aber es wird nun eben auch im "Kontext neuzeitlicher Möglichkeiten technischer Entwicklung ... sichtbar" (ebd.). M. benutzt, wie vor ihm auch schon die Tradition, den Aquinaten als den Referenzpunkt für den Primat menschlicher Vernunft im Prozess ethischer Normierung. Da hiernach der Mensch als freie causa secunda Gottes aufzufassen ist, die neben der unfreien Natur wirkt, entsteht somit kein Konkurrenzverhältnis zwischen Gott und Mensch, ein scholastisches fundamentum divisionis, das Luther nach Peschs These, die M. zitiert, so nicht mehr nachvollziehen konnte. Es wäre interessant gewesen, an dieser Stelle an einer tieferen axiomatischen Reflexion über diesen recht wesentlichen Punkt moraltheologischer Wirkungsgeschichte teilhaben zu dürfen, aber M. unterlässt sie und skizziert in ganz groben Zügen Luthers Position, denn es sei seine "Absicht ... nicht, Luthers Urteil zum liberum arbitrium, das in die kompliziertesten Zusammenhänge einer theologischen Anthropologie führt, hier ausgiebig zu diskutieren" (63). So bleibt es bei einem oberflächlichen Durchgang, der von Sir 15,14 ausgehend Spuren der Regimentenlehre und ihrer Wirkung auf die reformatorische Auffassung der Begrenztheit menschlicher Freiheit im Angesichte Gottes verfolgt.

Überhaupt scheint M. historische Komplexität nicht sehr zu schätzen. In einem Versuch, die mangelnde Modernität der katholischen Kirche zu erläutern, führt er auf S. 331 aus: "Erst in den letzten Jahrhunderten, sagen wir grobweg nach der traumatischen Erfahrung des Auseinanderfallens der einen Kirche im Westen in die Kirchen der Reformation und den römischen Katholizismus (sic!), und nach der Reaktion hierauf durch das Konzil von Trient (1543-1563), hat die katholische Kirche sich stets mehr festgeklammert an dem, was sie damals als den wahren Glauben und die wahren mores ecclesiae formuliert hatte. Von einem Mitgehen mit den Entwicklungen der modernen Zeit war zu einem großen Teil keine Rede." Nich aus systematischer, aber noch weniger aus kirchenhistorischer Sicht kann eine solche Darstellung befriedigen, zumal sie nicht eindeutig definiert, was denn unter dem Wort "Kirche" zu verstehen sei. Außerdem hat m. E. schon H. Jedin befriedigend aufgezeigt, dass Trient eben nicht in erster Linie als Akt der Gegenreformation, sondern als Begehren nach katholischer Reform zu begreifen ist.

Mittels der Vernunft kann also der Mensch die lex naturalis als lex aeterna begreifen, wobei es nach M.s Meinung kurzschlüssig wäre, einen Unterschied "[z]wischen Glaubensmoral und natürlicher Moral" (230) zu behaupten. Man scheint nämlich hierbei zu vergessen, "daß es sich auch bei natürlicher Moral um Moral handelt, um den Willen, das Gute zu tun. Und es wird vergessen, was G. Rothuizen zu Recht unterstrichen hat, nämlich daß die Fähigkeit zu Moralität selbst schon Gnade" sei (ebd.). Damit löst sich auch, zumindest nach katholischer Auffassung, die Spannung zwischen Natur und Gnade und die hiermit verbundene Frage nach der tatsächlichen Reichweite menschlicher Freiheit. M. verficht also nicht das Proprium einer christlichen Ethik und schon gar nicht die einer spezifisch katholischen Moral. "Die Frage nach der Christlichkeit [der Moral] kann daher nicht sein: Was trägt der Glaube gegen die Vernunft oder exklusiv ohne sie zur Moral bei, sondern höchstens: Was trägt er zur Vernunft bei ... Spezifisch christlich muß daher heißen, nicht exklusiv christlich, sondern dann schon eher: typisch" (103). Und was kann der Glaube beitragen? Er kann menschliche Vernunfterfahrung transzendieren, die sittliche Vernunft dynamisieren und den Rahmen für die Konkretisierung sittlicher Vernunft bilden (ebd.). Er erfüllt damit weitestgehend die Funktion, die insbesondere B. Schüller eindeutig als Paränese identifiziert hat. Unwesentlich ist das ganz sicher nicht, denn "[d]ie Bibel ist für uns Christen der bevorzugte Ort, wo Menschen das, was sie im Hören auf Gottes Stimme vernahmen und sahen, an uns weitergeben. Von ihnen können und sollen wir durchaus lernen - vor allem lernen, dass wir uns um das jeweils von uns Geforderte selbst mit Sinn und Verstand sorgen sollen" (236).

In den Schlusskapiteln plädiert M. für eine Pluralität von Kirche-Sein (337), für deren Berechtigung er im Entstehen des biblischen Kanons einen Beweis sieht. Das bedeutet auch, dass "[d]ie Freiheitsrechte von Menschen, wenn es wirklich Menschenrechte sind, ... nicht an den Toren der Kirche, auch nicht teilweise, aufhören [können]. M. E. ist der Umgang mit den Menschenrechten in der Kirche selbst der Prüfstein für die wirkliche Akzeptation des Menschenrechtsdenkens" (379). Der Band schließt mit einem Epilog, in dem die Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Dogmatik verteidigt wird. "Die Eigenheit der Ethik liegt hier in ihrer spezifischen Rationalität" (401), und daher kann, so M. am Schluss, die Autonomie der Moral und "die darin sich ausdrückende Sensibilität für das Moralische ein bevorzugter Ort möglicher Gottesbegegnung sein ... Das gilt selbst da, wo der explizite Zugang zur christlichen Offenbarung und ihrer dogmatischen Dimension nicht unmittelbar gegeben ist" (414). Man merkt M. an, dass er die Väter der autonomen Moral katholischer Provenienz (besonders Auer, Böckle, Fuchs, und Schüller) schätzt. Sein Beitrag ist ein Plädoyer der Verteidigung und lehnt sich oft stilistisch und häufig auch inhaltlich an diese Form an. Index und Bibliographie fehlen leider.