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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1319–1321

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Braun, Kathrin

Titel/Untertitel:

Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York: Campus 2000. 309 S. 8 = Campus Forschung, 802. Kart. DM 68,-. ISBN 3-593-36503-0.

Rezensent:

Lars Klinnert

Die Göttinger Politikwissenschaftlerin Kathrin Braun (B.) unternimmt in ihrer Habilitationsschrift den Versuch einer philosophischen Analyse der bioethischen Diskussion. Im ersten Teil ihrer Arbeit (vgl. 18-195) legt sie dar, warum Bioethik nach ihrem Verständnis einen Angriff auf die Universalität der Menschenrechte darstellt. Mit Hilfe von Michel Foucaults Begriff der ,Biomacht' deckt sie auf, dass sich das in den meisten bioethischen Ansätzen im Mittelpunkt stehende Konzept der individuellen Autonomie mit gesellschaftlicher Normierung und institutioneller Bewirtschaftung des Lebens verbinden und so gerade zu Autonomieverlust führen kann; als Beispiele nennt sie humangenetische Beratung und Patiententestamente. Bioethik dient demnach dazu, die Vorstellung von Leben als einer knappen Ressource zu propagieren, durch deren Verteilung und Verwaltung die Frage nach Leben und Tod zur Machtfrage wird (vgl. 18-39). Dass "institutionelle Arrangements, ... soziale Ungleichheit hinsichtlich des Zugangs zu Gesundheit, ja, die Definition von Gesundheit und Krankheit selbst" (56) zum Thema gemacht werden, hält B. innerhalb der Strukturen und unter dem Begriff der Bioethik nicht für möglich. Diese verfolge vielmehr "die kollektivistische Unterordnung der Individuen unter einen vermeintlich übergeordneten Zweck und die Einteilung der Menschen in Kategorien von verschiedenem moralischen Status" (286).

Eine solche Tendenz arbeitet B. nicht nur in dezidiert utilitaristischen Positionen (z. B. Peter Singer), sondern auch in liberalindividualistischen Ansätzen (z. B. Ronald Dworkin) heraus (vgl. 108-161). Selbst Hans Jonas laufe Gefahr, die Erhaltung der Menschheit der Integrität des Individuums überzuordnen (vgl. 162-178); Jürgen Habermas fehle im Rahmen seiner Diskurstheorie zumindest das systematische Argument, der Ausgrenzung von sprach- und handlungsunfähigen Menschen zu widersprechen (vgl. 179-195).

Dem stellt B. in Anschluss an Immanuel Kant entgegen, dass "das Vernunft-, Freiheits- und Moralvermögen der menschlichen Gattung Grund für ihre Würde" (70) ist. Jede Herabwürdigung des einzelnen Menschen durch Instrumentalisierung bedeute eine Herabwürdigung für die Menschheit. Diese "Vorstellung der Repräsentanz der Menschheit im einzelnen Menschen" (71) kann als säkulare Fassung der Gottebenbildlichkeitsvorstellung verstanden werden (vgl. ebd.). Da die Mensch- heit biologische Gattung und regulative Idee zugleich ist, gehören ihr bedingungslos alle an, "die als Mensch geboren sind, unabhängig davon, in welchem Maße sie individuell das Vernunft- oder Freiheitsvermögen ... ausgebildet haben" (15). Das Kriterium des Geborenseins ist also das einzige nichtwillkürliche Kriterium der Zuerkennung von Menschenwürde, da es empirisch feststellbar und zugleich universell ist. Jede Verknüpfung der Menschenwürde mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten wäre hingegen von Willkür bestimmt; die Entscheidung darüber, wer ein Subjekt von Menschenrechten ist, obläge dann denjenigen, die zufällig die Macht dazu hätten (vgl. 250).

Zu Recht stellt B. fest, dass angesichts der heutigen Fortpflanzungs- und Geburtsmedizin der Beginn menschlichen Lebens in der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gesehen werden muss, will man keine willkürlichen Zäsuren in der embryonalen Entwicklung setzen, um aus ihnen moralische oder rechtliche Folgen abzuleiten. Problematisch ist jedoch ihr Schluss, dass bereits vorgeburtlichen menschlichen Existenzweisen voller menschenrechtlicher Schutz zukommen solle, der dann allerdings für die Dauer der Schwangerschaft hinter die Würde der Mutter zurücktrete. Nach dieser Auffassung wäre es konsequent, Schwangerschaftsabbrüche uneingeschränkt zu erlauben, nichtimplantierte Embryonen in vitro aber um jeden Preis am Leben zu erhalten. Überzeugender wäre m. E. die umgekehrte Argumentation, dass einem Fötus, der in der Symbiose mit der Mutter zu einem selbständigen menschlichen Wesen heranwächst, größerer Schutz zukommt als einem Embryo in vitro, der sich ohne Implantation in die Gebärmutter überhaupt nicht fortentwickeln kann. Aus dieser Sicht wäre es sinnvoll, in bestimmten Fällen durch Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen von vornherein zu verhindern. Hier müsste man untersuchen, ob nicht ein gewisser Gradualismus in der embryonalen Entwicklung als pragmatische Entscheidungshilfe möglich und erforderlich ist, ohne den Wert sich entwickelnden menschlichen Lebens prinzipiell abzustufen.

Doch nicht nur auf Grund des personalen Status des Embryos, sondern auch wegen der Gefahr einer Ausgrenzung von als normabweichend klassifizierten Menschen lehnt B. die Präimplantationsdiagnostik ab. Darüber hinaus stellen sich völlig neue Herausforderungen an das Menschenwürdekonzept für sie dort, wo es um die Integrität nicht eines bereits existierenden, sondern eines zukünftigen menschlichen Wesens geht wie bei Keimbahnmanipulation und dem Klonen: Wo Menschen nach Maßgabe der Zwecke anderer geschaffen werden, ist die Menschheit im kantischen Sinne verletzt. Insbesondere sind tierisch-menschliche Hybridbildungen abzulehnen, da sie die Abgrenzbarkeit der menschlichen Gattung und daher die Möglichkeit der Zuerkennung von Menschenrechten überhaupt gefährden (vgl. 85-107).

Einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Bioethik und utilitaristischen Ansätzen (vgl. 14, 40f.) meint B. auch in den beiden internationalen Dokumenten zur Regelung des rechtlichen und ethischen Umgangs mit den Herausforderungen der Biomedizin feststellen zu können, die sie im zweiten Teil untersucht - dem ,Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedi- zin' des Europarates (der sog. Bioethik-Konvention) und der ,UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom und zu den Menschenrechten' (vgl. 196-281). Diese Dokumente erwecken ihrer Einschätzung nach lediglich den Schein einer Regulierung moralisch umstrittener Praktiken, dienen aber in Wirklichkeit dazu, eine größere Akzeptanz der Biomedizin sowie mehr Rechtssicherheit für die Forschung zu erreichen, und höhlen so den Schutz der Menschenwürde gerade aus (vgl. 247f.).

Eine ausführlichere theoretische Fundierung der an Kant orientierten Würdekonzeption hätte der Arbeit gut getan: B. stellt überzeugend dar, warum das Prinzip der jedem menschlichen Wesen zukommenden Würde nicht durch die Bindung menschenrechtlichen Schutzes an bestimmte Kriterien für Personalität ersetzt werden kann. Dieser Ansatz kann dazu beitragen, die theologisch zur Begründung der Menschenwürde herangezogene Rede von der Gottebenbildlichkeit außertheologisch anschlussfähig zu machen: Wenn man den Menschen als - unabhängig von seinen Eigenschaften und Fähigkeiten - immer schon in die Geschichte Gottes und seiner Mitmenschen eingebunden betrachtet, wird deutlich, dass, wer die Würde anderer missachtet, die Grundlage seines eigenen Menschseins zu zerstören droht.

Gerade an den Grenzen des Lebens kann es nun aber zu Situationen kommen, in denen eben nicht mehr eindeutig zu sagen ist, welche Entscheidung denn nun die Würde eines Individuums befördert oder was eine unzulässige Instrumentalisierung darstellt. Es gibt ethische Konflikte, die sich nicht einfach mit dem pauschalen Verweis auf die Menschenwürde erledigen lassen. Dass es faktisch (gerade auch in der Theologie) durchaus Positionen gibt, die sich derartigen Problemen unvoreingenommen stellen, zugleich aber an der Universalität der Menschenwürde festhalten, übersieht B.s einseitige Sicht von Bioethik. Ein solches Schwarz-Weiß-Schema führt zwangsläufig dazu, einen Angriff auf die Menschenwürde bereits überall dort zu unterstellen, wo bestimmte Fragen (z. B. nach dem Beginn und Ende des Lebens oder nach fremdnütziger Forschung an einwilligungsunfähigen Personen) nicht mit der eigenen moralischen Selbstsicherheit und Eindeutigkeit entschieden werden (vgl. 219-222).

Damit soll das Gefahrenpotential der von B. kritisierten Ansätze nicht bestritten werden. Eine Auseinandersetzung mit ihnen darf jedoch nicht als abgekoppelter "Gegendiskurs" (289) stattfinden, der dann leicht als irrational abgetan werden kann oder gar von der Eigendynamik der technologischen Entwicklung bzw. des Marktes überrollt wird. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es jedenfalls aussichtsreicher, sich auf der rechtlich-politischen Ebene über konsensfähige Mindeststandards zu verständigen (wie in der Bioethik-Konvention) als in moralische Fundamentalopposition zu gehen.

Es verhält sich eben nicht so einfach, dass sich "auf der einen Seite [die] Kräfte [versammeln], die an einer Nichtteilbarkeit der Menschenwürde festhalten, und auf der anderen Seite die Interessen der wissenschaftlich-technologischen Innovation sowie diejenigen, die diese unter Verwendung der Kategorie Nutzen zu legitimieren suchen" (247). Vielmehr richten wir uns alle in unserem Umgang mit der Medizin (sei es im Blick auf uns selbst oder auf unsere Kinder) mehr oder weniger an der Kategorie des Nutzens aus und sind daher herausgefordert, nach gemeinsamen Vorstellungen von Gesundheit zu suchen, die eine würdige Lebensperspektive für alle Menschen ermöglichen (vgl. 86f.), um von ihr her zwischen Chancen und Risiken moderner Technologien abzuwägen.