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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1310–1313

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sauter, Gerhard

Titel/Untertitel:

Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 391 S. 8. Kart. DM 36,80. ISBN 3-525-03298-6.

Rezensent:

Notger Slenczka

Das Fach Dogmatik hat bei Studierenden im Allgemeinen keinen guten Ruf; nach meinem Eindruck ist während des Studiums und auch danach, im Angesicht des Examens, die Orientierungslosigkeit in diesem Fach am größten. Ein wesentlicher Grund dafür ist sicher der Umstand, dass hier nicht in erster Linie lernbare Inhalte getrost nach Hause getragen werden können. Vielmehr ist die Sache der Dogmatik der Geltungsanspruch dieser Inhalte, genauer: die Rechenschaft über das Recht und das Unrecht von Geltungsansprüchen insgesamt.

1. Das anzuzeigende Werk von Gerhard Sauter verspricht in dieser Situation nicht einen Zugang, sondern Zugänge - im Plural - zur Dogmatik. Entsprechend sind die Abschnitte des Werkes nicht streng durch die Logik eines durchgängig einheitlichen Gedankenganges verbunden, sondern umreißen aus unterschiedlichen Perspektiven die Bezüge, in denen sich theologische Lehre vollzieht. Die Teile und Abschnitte können je für sich gelesen werden (vgl. 53), interne Verweise erschließen dabei Voraussetzungen, die in anderen Teilen des Buches ausführlicher hergeleitet wurden.

Ein Blick in das Begriffsregister führt auf eine erste Eigentümlichkeit des Buches, die sich aus dem theologischen Ansatz S.s ergibt: In diesem Register nämlich sind Begriffe, "die für dieses Buch spezifisch sind", kursiv gesetzt (381 ff.); geht man diese Begriffe durch, so fällt auf, dass es sich dabei um Begriffe handelt, die wissenschaftstheoretische, hermeneutische, semantische bzw. sprach- oder argumentationstheoretische Sachverhalte bezeichnen. Im Grunde handelt es sich um eine Art organon der Theologie, eine Einführung in die Regeln und Grundlagen des reflektierten sprachlichen Vollzuges des Glaubens und deren Begründung, und in diesem Sinne bietet das Buch die Anleitung zur theologischen Urteilsfähigkeit, die der Untertitel apostrophiert.

Diese Anleitung erfolgt - zunächst immer noch ganz äußerlich - in einer Art Gespräch mit einem (verständigen) Leser, dessen Fragen, Vorbehalte und Einwände - etwa die in einigen Passagen reflektierte zeitgenössische Abneigung gegen eine lehrhafte Fixierung des Glaubensinhaltes, gegen die Heteronomie überlebter Formeln, gegen den Begriff ,Dogma' (etwa 44 ff.; vgl. 109 ff.; 140 u. ö.) - in ihren Voraussetzungen aufgeklärt, in ihrem Wahrheitsmoment festgehalten, insgesamt aber dadurch entkräftet werden, dass der positive Sinn dieser ,Elemente der Urteilsbildung' herausgearbeitet wird, der eben nicht darin liege, ein offenes Gespräch über die Glaubensinhalte abzubrechen oder eingeforderte Begründungsleistungen zu verweigern, sondern ein solches Gespräch überhaupt erst zu ermöglichen (etwa: 82 ff.).

S.s Grundposition lässt sich dahin zusammenfassen, dass die Dogmatik einem Grundzug des Glaubens dient, der wesentlich durch ,Externität' gekennzeichnet ist - also so verfasst, dass er sich als in einem anderen begründet und von einem anderen her konstituiert weiß (25-30; vgl. 38; 56; 61 f.; 106-109; 122; 144-146; 273 f.; 285; 332). Die Dogmatik hat ihren Ort und ihre Aufgabe in diesem Verweis des Glaubens bzw. der Kirchengemeinschaft auf ihren Grund einerseits und in der auf den Glauben zielenden Verheißung Gottes andererseits; sie ist aus dem Glauben kommende Rede von der Verheißung als Grund und Ziel dieses Glaubens auf Glauben hin. Die wesentlichen Aufgaben der Dogmatik seien die Wahrung dieser Externität einerseits und die Entfaltung der Glaubensbezogenheit dieser Inhalte andererseits; S. grenzt sich hier insbesondere gegen eine Deutung der objektivierenden Aussagen der Dogmatik als Selbstaussage des Glaubens ab (etwa: 61 f.; 245); dogmatische Sätze seien keine sekundären Expressionen, gehen auch nicht in ihrer performativen Funktion auf (116 ff.), sondern objektivieren deshalb zu Recht, weil sie vom Grund des Glaubens, der nicht dieser selbst sein kann, handeln (etwa 61 f.). In genau diesen externen Grund des Glaubens weist die Dogmatik ein, deren Aufgabe die Beantwortung der Frage "warum wir glauben, wenn wir glauben, was wir glauben" (vgl. 36; 41) ist. Die Begründungsleistung erfolgt gerade im sprachlich manifestierten Nachvollzug der Verweisungsbezüge des Glaubens auf seinen Grund und der Entfaltung des Zusammenhanges des Handelns Gottes am Menschen.

2. Der erste Teil des Buches (,1. Dogmatik als Phänomen') schreitet auf dieser Grundlage die Bezüge der Dogmatik ab; die Herleitung der Dogmatik und die Entfaltung des Sinnes ihrer Bindung an die Schrift sowie des Sinnes des ,Dogma' im ersten Abschnitt, wo ich die Begründung der Ausbildung eines Schriftkanons für besonders bedenkenswert halte: Der Kanon stellt gerade in der Vielfalt und Komplexität der in ihm befassten Aussagen und im Unterschied zu Systematisierungsversuchen wie dem Marcions einen beständigen Hinweis auf die Externität des Handelns Gottes gegenüber dem menschlichen Reden von ihm dar (38); die gleichzeitig mit dem Schriftkanon entstandene ,regula fidei' suche die Schrift nicht zu ersetzen, sondern auf ihre Einheit hin zu erschließen (38; 40, vgl. 280-296).

Die folgenden Abschnitte des ersten Teils versuchen in immer neuen Durchgängen die Notwendigkeit und die Grenze dogmatischen Redens verständlich zu machen. Dabei liegt eben das Zentrum immer wieder im Versuch, gerade die Bedeutung auch der limitativen Lehraussagen zu erschließen, die einerseits Konsens und so Kirchengemeinschaft in der Wahrheit ermöglichen (106), die dabei aber die Frage nach dem Grund des Glaubens nicht abschneiden, sondern immer wieder eröffnen; diese Bedeutung und die Gesprächsoffenheit dogmatischer Fixierungen werden immer wieder an Beispielen - der Argumentation des Paulus im 1Kor (30 ff.), den Lehraussagen des Nicänum und des Chalcedonense (86 ff.), der Barmer Theologischen Erklärung (74-82) oder anhand von CA VII (106 ff.) - konkretisiert.

Der zweite Teil des Buches (,2. Dogmatik in der Kirche') überrascht auf den ersten Blick, denn er bietet einen Durchgang durch kirchliche Handlungsfelder von den Sakramenten bis hin zur Kirchenleitung und Mission, die in ihren Grundlagen entfaltet und im Blick auf zeitgenössische Deviationen aufgeklärt werden; der Teil erklärt sich als die materiale Durchführung der Aufgabe der Dogmatik in der Frage nach den Gründen kirchlichen Handelns (vgl. 140; 144), in der das kirchliche Handeln auf seine Grundlage im Handeln Gottes bezogen und an dieser Grundlage gemessen wird: das kirchliche Handeln ist Handeln als Hinweis auf das vorgängige Handeln Gottes; und diese Externität begründend und kritisch zur Geltung zu bringen, ist nach S. eine Aufgabe der Dogmatik (142-148), die jener Teil exemplarisch einlöst (vgl. 241 f.).

Der dritte Teil schließlich (,3. Dogmatik - auf den Weg gebracht') nimmt wieder Themen des ersten Teiles auf - etwa das Kirchenjahr als Disposition der Dogmatik (vgl. 247 ff. mit 131 ff.; weitere Rückgriffe 259 f.) - und entfaltet von hier aus den Sinn des Systemcharakters der Dogmatik. Ausgangspunkt dieses besonders typischen Teils ist die Diskursivität der Dogmatik, die nicht als Nebeneinander von Informationen oder als Deduktion aus einem Zentrum zu verstehen ist, sondern als Abschreiten eines Weges, der sich von den sprachlichen Verweisungs- und Begründungszusammenhängen leiten lässt, in denen das Handeln Gottes zur Sprache kommt. Das Grundmodell der Dogmatik sei das Kirchenjahr mit seinen Christusfesten, die der Reihe nach zu durchlaufen und zu vergegenwärtigen das Wesen des Glaubens ist, der nur in diesem zeitlichen Fortschreiten die innere Fülle des Handelns Gottes ausmisst (247-251) und gerade darin die dem Glauben eigentümliche Spannung von Rückbezug und Erwartung des Kommenden aufrechterhält. Die Dogmatik sei im Grunde nichts anderes als das Sich-Leiten-lassen von dem auch im Kirchenjahr sich niederschlagenden inneren Verweisungsgefüge des göttlichen Handelns am Menschen und das Entfalten dieses Gefüges; entsprechend treten für S. auch die klassischen Fragen nach dem Gegenstand und nach dem Einsatzpunkt der Dogmatik in den Hintergrund (vgl. 261 ff.; 278 ff.) zu Gunsten einer ,Charakteristik' der Dogmatik (263 ff.), in der noch einmal das Grundanliegen des Vf.s kulminiert: Die Theologie bringe nicht einen Gegenstand zur Darstellung, sondern stelle das ihr vorgegebene Handeln Gottes in der Vergangenheit auf Zukunft hin dar, wie eine Skizze ein Gesicht auf das ihm Wesentliche, Typische oder Unverkennbare pointiert. Die Dogmatik basiert auf Grundaussagen, die zusammen ein Ganzes ergeben und insgesamt als Antworten auf die Fragen nach Gottes Sein, nach Gottes Offenbarung und nach Gottes Handeln am Menschen die Grundlinien dieses ,Gesichtes' vorzeichnen - S. exemplifiziert diese Grundlinien durch die altkirchliche Trinitätslehre, die (recht zu verstehende) Zuordnung von Natur und Gnade bei Thomas von Aquin und die Bestimmung des Verhältnisses von Sünder und Gott bei Luther. Diese Grundlinien seien den Axiomen anderer Wissenschaften vergleichbar, die ebenfalls Fragehinsichten, Forschungsmöglichkeiten und einen erschließenden Sprachraum eröffnen.

Der vierte Abschnitt (,4. Dogmatik in der Krise: Holzwege und Sackgassen') skizziert Fehlentwicklungen der Dogmatik, von denen ich zwei herausgreife: die Absage an die Fundamentaltheologie und damit an die theologische Prinzipienlehre bzw. die der materialen Dogmatik vorausgeschickten Prolegomena- insgesamt also die Absage an den Versuch, theologische Aussagen durch den Rekurs auf von allen Menschen geteilte Voraussetzungen zu plausibel zu machen (311-313 ff.). Dagegen profiliert sich das Programm S.s insgesamt als die Entfaltung der inneren Logik bzw. der Verweisungsbezüge von Glaubensaussagen unter der Voraussetzung, dass deren Grund in dem von ihr skizzierten unableitbaren Handeln Gottes selbst liegt, auf das sie zurückverweist.

Die Absage an von der materialen Dogmatik unterschiedene Prolegomena, die sich bereits im Einsatz des Buches niederschlägt (24 ff.), verweist zugleich auf den theologiegeschichtlichen Ort, dem sich das Denken S.s insgesamt verpflichtet weiß. Dieser Hinweis auf den theologiegeschichtlichen Ort erlaubt eine zwanglose Überleitung zur zweiten von S. diagnostizierten Fehlentwicklung, dem mit Recht unter dem Titel ,kontextuelle Theologien' konstatierten Versuch, den Geltungsanspruch theologischer Aussagen eben durch den Hinweis auf deren Ort - kontextuelle (historische, soziologische, politische oder psychologische) Bedingtheit und Funktionalität - zu limitieren (328 ff.). S. führt hier wie in früheren Veröffentlichungen eine ausgesprochen sinnvolle Unterscheidung - die zwischen dem Entdeckungszusammenhang und dem Begründungszusammenhang theologischer Aussagen - ein, der es erlaubt, die Frage nach der Geltung einer Einsicht im Ganzen des Zusammenhanges theologischer Aussagen unabhängig von der Frage nach den Entstehungsbedingungen eines Gedankens in seiner Ursprungssituation zu stellen. Gleichgültig nun, ob nicht gerade im Raum der Theologie der Zusammenhang kontextueller Bedingungen und theologischer Aussagen doch enger ist als etwa der Zusammenhang der wissenschaftlichen Einsichten Heisenbergs mit der von ihm zum Reflektieren gewählten Umgebung (vgl. 333) - die Unterscheidung erschließt eine Absicht, die die Deutung der Theologie als Ordnungs- und Verweisungszusammenhang von Glaubensaussagen leitet. Gerade dieser interne Zusammenhang, dessen Grund ausschließlich im beständigen Verweis auf das der Kirche, dem Glauben und der Theologie vorgegebene Handeln Gottes liegt, ist im Grunde ein Versuch der Antwort auf die dem Christentum mit dem Historismusproblem gestellte Frage, die auch im Hintergrund der kontextuellen Theologien steht. Die historische oder kontextuelle Bedingtheit theologischer Aussagen sieht S. dadurch transzendiert, dass alle diese Aussagen sich einzeichnen in und verifizieren mit Bezug auf das die Zeiten verbindende Projekt der ,Skizze' (s. o.) des Handelns Gottes am Menschen. Die relative Selbständigkeit und Dignität der Dogmatik gegenüber ihrem historischen Ort und gegenüber jedem Versuch der kirchlichen Funktionalisierung bei S. hat hier ihre Grundlage (330 und Kontext; 147-150 im Zusammenhang von 139 ff.; vgl. 25).

Der letzte Teil (,5. Dogmatik als Beruf') ist der Abschnitt, mit dem die Lektüre zu beginnen empfehlenswert für Anfänger in der Dogmatik sein dürfte. Von den hier gegebenen Hinweisen zum Ziel des Dogmatikstudiums, zur Anwaltsfunktion des Dogmatikers und zum Gesprächscharakter der Dogmatik erschließen sich Fragen und Hinsichten, die dann durch die kursorische Lektüre des Buches weitergeführt und diskutiert werden.

3. Ich habe versucht, nicht nur die von S. vertretene Position- entfaltet auch in anderen Veröffentlichungen, die im Anhang den einzelnen Abschnitten des Buches zugeordnet werden (370-376) -, sondern auch den Stil des Buches darzustellen. Es ist als Einführung in die Dogmatik genau dadurch sehr gut geeignet, dass es im Grunde theologische Urteilsbildung im Vollzug einübt, den Leser am eigenen Denkvollzug teilnehmen lässt, die eigenen Voraussetzungen im steten Gespräch mit alternativen Ansätzen aufdeckt und so dem Leser auch die Möglichkeit zum Widerspruch und zu anderer Entscheidung eröffnet; es handelt sich um eine in angenehmer, weltläufiger Weise dialogische, zum Mitdenken und zur Diskussion einladende Einführung in die Dogmatik. Das Werk ist aber auch geeignet, bereits im Pfarr- oder Schulamt befindliche Theologen und Theologinnen zur Reflexion ihrer Praxis und - das gilt gerade für den zweiten Teil - zur Reflexion und zum selbstkritischen Durchdenken eingefahrener Gewohnheiten anzuregen.

Die Literaturhinweise am Schluss der Abschnitte bieten Hilfen zur Weiterarbeit, das Register erschließt die Exkurse des Werkes für eine Erarbeitung examensrelevanter Lerninhalte unter dogmatischer Perspektive. Insgesamt ist dies ein Text, dem man gerade angesichts der einleitend notierten Orientierungsschwierigkeiten im Fach Dogmatik viele Leserinnen und Leser wünscht - auch dann, wenn man selbst in einzelnen, auch grundlegenden Punkten (etwa hinsichtlich des offenbarungstheologischen Grundansatzes oder der Notwendigkeit natürlicher Theologie bzw. einer fundamentaltheologischen Grundlegung der Dogmatik) doch anders votieren zu müssen glaubt als der Verfasser.