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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1304–1307

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Titel/Untertitel:

Karl Barth: Predigten 1916. Hrsg. von H. Schmidt.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 1998. XIV, 471 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe. I. Predigten. Lw. DM 115,-. ISBN 3-290-17141-8.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

(1) Die Predigten des Jahres 1916 bieten einen differenzierten Einblick in die vielschichtige Gedankenwelt Karl Barths vor der intensiven Auseinandersetzung mit dem Römerbrief. Vielschichtig ist schon die frühe Theologie Barths durch zwei ineinander verflochtene Grundunterscheidungen. Zum einen stoßen wir immer wieder auf die Unterscheidung von "innen" und "außen". "Gott und alles Göttliche sind schon da im Innersten der Menschen, und kein Mensch und die ganze Menschheit und Schöpfung nicht kann etwas werden, was sie nicht im Innersten bereits sind" (12). Barth kann mit solchen Wendungen die Schlichtheit und Selbstverständlichkeit des Glaubens, auch die Freude an Gott zum Ausdruck bringen. Allerdings ist dafür gesorgt, dass es nicht bei einer einlinigen Kontinuität zwischen Gott und den Geschöpfen bleibt. So tritt die andere Unterscheidung in den Vordergrund: Es gibt die göttliche und die widergöttliche Machtsphäre, welch letztere sich vor allem als Kapitalismus zeigt: "Wenn das Pfarramt in Safenwil einen Sinn haben soll, so müßte von ihm eine Gegenmacht ausgehen gegen die herrschende Mammonsmacht, der Alles unterworfen ist" (23). Für die Untersuchung der Genese von Barths späterer Theologie ist es besonders interessant, wie Barth sich die Scheidung dieser Mächte vorstellt. Er schwankt nämlich 1916 noch beständig zwischen einem Entscheidungsruf und der Einsicht, dass das Herz der Menschen befreit werden muss (sich also aus sich heraus gar nicht entscheiden kann).

In diesem Spannungsfeld kommt den vielen Wendungen eine besondere Bedeutung zu, mit denen Barth das göttliche "Innen" der menschlichen Wirklichkeit als verlockende Möglichkeit zeichnet. Schon hier spricht Barth oft von der fröhlichen Evidenz des Glaubens. Das Leben mit Gott ist "die Heiterkeit, das Selbstverständliche, das lebendige Leben" (93). Unter dem Eindruck einer Evangelisationswoche und gleichzeitig mit der intensiven Römerbrief-Exegese rückt Barth von seinen Entscheidungsrufen ab mit einer Predigt über Jes 44,21-23: "Spielen und Musikmachen ist himmlisch, weil es aus der Freude heraus kommt, ein böses Gesicht machen aber, und wenn es noch so gut gemeint wäre, ist sicher irdisch, weil es aus unseren irdischen Menschentraurigkeiten heraus kommt" (384). Wie treten aber nun die beiden Machtsphären auseinander? Ganz reformatorisch heißt es zu Mt 10: Jesus hat den Jüngern "diese fatale Freude am lieben kleinen Ich genommen, ... daß sie sich selbst darüber fröhlich ein wenig vergessen konnten" (74 f.). "Das ist eben die wunderbare Verwandlung: wenn wir einmal so recht frei werden von den Leuten, dann finden wir dafür Menschen; wenn wir uns so recht losmachen können von uns selbst, dann hört das Alleinsein auf ... Es entsteht dann das Band zwischen uns, das von Gott selber geknüpft ist" (76). Ein solcher Übergang ist allerdings notwendig mit Ärgernis und Passion verbunden. Es ist ja unsere Egozentrik, die uns den "Durchblick" in die göttliche Sphäre verdunkelt. Daher braucht es "eine kräftige Erschütterung unserer Meinungen, Vorurteile, Zeitungsansichten, Gewohnheiten, bis wir wie durch einen Riß hindurchsehen in diese wirkliche Welt" (33). Ganz im Sinne des servum arbitrium heißt es zu 1Joh 3,3-9: "All unser Fragen: wie wir denn von der Sünde loskommen können, kommt eigentlich nur davon, daß wir es überhaupt nicht wollen. Da muß Gott ein kräftiges, erlösendes Wort mit uns reden" (278). Durch die Sündenerkenntnis kommt schon "jener erlösende Riß"(280) zwischen den Menschen und die Sünde. So entsteht gleichsam eine multiple Persönlichkeit (282 f.).

Der Übergang von der widergöttlichen Machtsphäre in den Bereich der göttlichen Heiterkeit ist also ein dramatischer Kampf. Und dieser Kampf wird von Barth einerseits (und immer wieder) als Entscheidungszeit profiliert: "daß der Himmel und die Hölle, beide! etwas Gegenwärtiges sind, daß der Himmel und die Hölle, beide! in Safenwil sind ... in euren Herzen, daß es jetzt und hier zu wählen gilt zwischen beiden, das wollt ihr nicht hören, das soll nicht gesagt werden dürfen" (49). Andererseits charakterisiert Barth die Gotteskraft des Kreuzes als machtvolle Bewegung: In der Pfingstpredigt über Joh 20,22 heißt es: "Wir sehen ihn [Christus] im unerhörtesten Krieg gegen die geltenden Weltordnungen des Mammons und des Hochmuts und des Gewaltwesens; aber er führt diesen Krieg nicht, indem er die gottlose Welt verdammt und von sich stößt und bekämpft, sondern indem er sie erträgt und trägt mit allen ihren Sünden und nur immer hinsieht und hinschafft auf das, was noch einmal aus ihr werden soll" (219). Dabei gehen Kräfte nicht nur von Jesus aus, sondern auf die Jünger über, werden ihnen "zur bleibenden Natur" (222). Die göttliche Eigendynamik der Passion setzt Glauben frei und durchlöchert so den Fatalismus, der als self-fulfilling prophecy die Schicksalsmächte erst schafft:"gerade wie der Teufel wahrhaftig nicht von Gott eingesetzt ist zum Fürsten dieser Welt ..., sondern nur durch unsere Abwendung vom lebendigen Gott eine gewisse Macht über uns bekommen hat" (368). Es ist aber "die größte Revolution von allen Revolutionen, wenn gegen das Schicksal der Glaube daherkommt. Die Revolution, die nur die Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfung Gottes ist" (354).

(2) Solche Einsichten bereiten den Weg zu einer Lehre vom Wort Gottes, denn auch dieses Wort ist wirksam als self-fulfilling prophecy. Die Predigten des Jahres 1916 sind deshalb so interessant, weil sie eine für die spätere Theologie Barths entscheidende Bewegung zumindest ahnen lassen: So ist etwa in der vielzitierten Predigt über den Pfarrer, "der es den Leuten recht macht" (44 ff.), noch ungeschützt die Rede von den Quellen, aus denen der Prediger sein Wissen schöpft: "aus meinem Gewissen und aus der Bibel" (57). In der Tat sind die biblischen Predigttexte zumeist eher als Motto zu verstehen - obwohl es sich weitgehend um ganze Predigtreihen (über Mt 10 und 1Joh 1-3) handelt. Gegen Ende des Jahres zeichnet sich eine intensivere Hinwendung zur Binnenstruktur der biblischen Texte ab, bis hin zu einer Homilie über 1Sam 3,1-10 (329 ff.). Die Bewegung mag so verlaufen sein, dass Barth die bereits gefundene Einsicht in die Eigendynamik der göttlichen "Revolution" immer mehr als Dynamik des biblischen Wortes präzisiert hat, so dass die appellative und daher immer wieder tendenziell gesetzliche Rede von einer "Entscheidung" demgegenüber verblasst.

In diesem Zusammenhang ist die Frage nach einer "natürlichen Theologie" höchst komplex. Barth wählt seine Anknüpfungspunkte mit einer deutlichen Fluchtlinie aus. Es geht um die Schlüsselworte Leben, Freude und - immer wieder - Liebe. Man kann hier die Eierschalen der Theologie Schleiermachers entdecken, denn es geht um den Bereich des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Unmittelbar gewiss ist der Unterschied zwischen Liebe und Hass. "Liebe ist Licht, Haß ist Finsternis, Liebe ist von Gott, Haß ist vom Teufel ... Diese Klarheit ist gleichsam das Innerste unseres Gewissens, in dem wir eine direkte Offenbarung Gottes haben. Hier denkt nicht mehr der Mensch etwas, hier denkt, wenn man so sagen darf, Gott im Menschen" (232 f., vgl. auch 441). Immerhin transzendiert gerade das Wort "Liebe" die subjektivistische Engführung. Zur Liebe gehört die Freude an der Differenz, denn "Gottes Reich ist ein Reich von unendlich vielen Stufen und Verschiedenheiten" (284). Im Unterschied dazu ist die Gleichmacherei, ist schon das Vergleichen "vom Teufel bis auf diesen Tag, denn Alles, was gegen die Liebe ist unter uns, kommt, wenn wir's recht ansehen, vom Vergleichen" (289). Überhaupt eignen sich diese Grundworte auch vorzüglich zur Kennzeichnung jener Scheidung der Geister, wo nicht etwa wir eine "neutrale" Entscheidung fällen, wo eher eine Entscheidung über mich und dich fällt. Niemand "entscheidet" sich zum Leben, zur Freude, zur Liebe. In der Begegnung mit Jesus wurden die Jünger dazu befreit, sich selbst fröhlich zu vergessen (vgl. 75). "Es geschah dort etwas Wesentliches mehr, als daß diese zwölf Männer ein neues inneres Gefühl [!], einen neuen Glauben, einen neuen Eifer für Gott und göttliche Dinge bekommen hätten" (79). Jesus rief die Jünger weg von der Religion [!] und hin zu Gott, "machte sie zu neuen Menschen, indem er ihnen die Macht gab, die er selber hatte ..., böse Geister auszutreiben und Krankheiten zu heilen" (ebd.). In dieser Freiheit gibt es dann in einem ganz anderen Sinne eine natürliche, eben eine selbstverständliche Theologie, die gar nicht mehr selbst-zentriert ist: "Die Gedanken, denen ein Jünger Jesu gehorchen muß, sind keine unnatürlichen Gedanken, sondern die allernatürlichsten, es sind die Gedanken, die Gott selber gedacht hat, als er die Welt und den Menschen schuf, und die nur wieder zu Ehren kommen müssen" (92 f.).

Wenig deutet hin auf die spätere Bedeutung der altkirchlichen Dogmenbildung. Allerdings ist das von Predigten auch nicht zu erwarten. Spuren der Schleiermacherschen Christologie sind gelegentlich zu finden: "Er ist auf so natürliche Weise Gottes Sohn geworden, wie ein Baum auch Jahr für Jahr Ringe ansetzt und zuletzt stark und groß dasteht und doch nur als das, was er immer war" (19). Am Karfreitag (über Mt 10,38) kann Barth von einer geheimen "Anziehungskraft" Jesu sprechen, die anthropologisch allgemeingültig sein soll, wenn auch durchaus unverfügbar: "neu das alles und doch im Grunde nicht neu, denn es war ja nur das Alte, das in die Schöpfung und in den Menschen hineingelegt ist von Anfang her, wunderbar und doch das Allernatürlichste und Naheliegendste, göttlich und doch rein menschlich" (155 f.).

Hier klingt das Chalcedonense immerhin an und wird gleichsam elementarisiert: "Er hat Gottes Reich vertreten bis in die Nacht des Todes hinein, und so hat er die Welt überwunden [vgl. Joh 16,33]. Als Jesus dort zuletzt seufzte: es ist vollbracht! [Joh 19,30], da war etwas vollbracht ... Die verborgene Liebe Gottes zu der Menschheit war nun nicht mehr verborgen. Es war von nun an festgesetzt und klar, was Gott will, was der Sinn des Lebens ist. Und die Menschen konnten das nicht mehr vergessen" (156). So entsteht eben jene Dynamik, die uns erlaubt zu sagen (aus der Innenperspektive heraus!), dass im Grunde jeder Mensch von Jesus Christus angezogen wird.