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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1300–1303

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Pautler, Stefan

Titel/Untertitel:

Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozial[re]form im Sturm und Drang.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 514 S. gr.8 = Religiöse Kulturen der Moderne, 8. Lw. DM 198.-. ISBN 3-579-02607-0.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), einer der bedeutendsten Literaten des Sturm und Drang, repräsentiert zugleich die Gruppe der deutschen Pfarrersöhne, denen aus der Säkularisation des religiösen Vätererbes "sprachbildende Kraft" (A. Schöne) erwachsen ist. Diese Konstellation macht sein Werk und seine Person in literarhistorischer wie in kirchengeschichtlicher Perspektive interessant. Die Komplementarität dieser beiden Perspektiven gesehen und ausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der umfangreichen, gelehrten Studie von Stefan Pautler, die 1995 von der Münchener Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II als Dissertation angenommen worden ist. Sein erkenntnisleitendes Interesse richtet sich auf die "spezifische Prägekraft des Religiösen", weil sich "der Reichtum des Lenzschen Werkes und die ,Logik' seiner Biographie nur dann adäquat erfassen [lassen], wenn der ,religiöse Faktor' angemessen berücksichtigt wird" (12).

P. steckt zunächst den "kulturgeschichtliche[n] Rahmen" ab (Kap. 1). Als Lenz 1771 in Königsberg sein dreijähriges Theologiestudium abbrach, um sich in Straßburg eine literarische Existenz aufzubauen, löste er damit einen heftigen, sein ganzes weiteres Leben prägenden Vaterkonflikt aus. Christian David Lenz (1720-1798) hatte von 1735 bis 1740 in Halle studiert und war danach Pfarrer, später Generalsuperintendent in Livland geworden. Die starke religiöse und theologische Prägung, die der Vater durch den (späten) halleschen Pietismus erfahren hatte, bestimmte die religiöse Primärsozialisation des heranwachsenden Sohnes, der dann freilich das pietistische Erbe mit der spätaufklärerischen Anthropologiediskussion zu amalgamieren verstand (14). Diese beiden Bezugssysteme - väterlicher Pietismus und zeitgenössische (Popular-)Philosophie - konstituieren in spannungsvoller Verbindung das Lenzsche Bildungsprogramm: Einerseits möchte er, durchaus zeitgemäß, die anthropologische Dualität von Intellekt und Sinnlichkeit durch ein dem "ganzen Menschen" verpflichtetes Erziehungskonzept überwinden, andererseits verbindet er die "individuelle[n] Bildungsbemühungen ... mit einem intensiven gesellschaftspraktischen Engagement" (20). In dieser integrativen Verschränkung individueller und sozialer Emanzipationsprozesse (29) wird Lenz zu einem Repräsentanten der deutschen Spätaufklärung. Das hebt selbstverständlich die von Pautler durchweg betonte Prägekraft des pietistischen Erbes nicht auf, drängt allerdings den aufmerksam-kritischen Leser doch zu der Frage, weshalb der aufklärerische Grundzug der von Lenz vollzogenen Transformationsleistung nicht deutlicher ausgearbeitet worden ist.

Lenz' Bildungsbegriff (Kap.2) sei, über die "pietistischen Voraussetzungen" (43-78) hinaus, durch Impulse der vorkritischen Philosophie Kants und der deutschen Rousseau-Rezeption (84-102), in Straßburg dann zudem unter dem Einfluss des Popularphilosophen J. D. Salzmann, dessen "Öffnung hin zu den ,niederen Seelenkräften'" (109) Lenz zu dem Versuch, "die Sinnlichkeit zu remoralisieren" (112), angeregt habe, erweitert und geprägt worden. Indem das von Lenz vertretene Bildungskonzept "personale Selbstbildung und gesellschaftliches Handeln" programmatisch verschränke, werde, wie Pautler jetzt deutlich hervorhebt (z. B. 119), die Nähe zu aufklärerischer Popularphilosophie und -theologie offenkundig, die sich beispielsweise in Lenz' Plädoyer für einen vom "theologischen" Glauben zu unterscheidenden "individuellen Glauben" bzw. "moralischen Glauben" (120 f.) manifestiere.

Mit dem Brückenschlag von individuellen zu gesellschaftlichen Bildungsintentionen entferne sich Lenz zwar von der Bewegung des Sturm und Drang, die "eher auf der prinzipiellen Distanz zwischen Geniesubjektivität und gegebener Welt" beharre (134). Zugleich habe er sich jedoch durch die "genieästhetische Erweiterung" (Kap. 3) seines "Handeln-Konzepts" das utopisch-divinatorische Potential des Geniegedankens nutzbar gemacht: Lenz verstehe die Literatur als Medium eines Bildungskonzepts, das darauf abzielt, durch "gesellschaftliche Reformierung ... das [zu] lösen, was durch reflexive Selbstbildung allein nicht zu bewältigen ist" (175).

Während seiner intensiven "literaturpolitische(n) Aktivitäten in Straßburg" (Kap.4) - Lenz war Mitglied der "SociÈtÈ de Philosophie et des belles-Lettres" und Mitbegründer der von analogen Bestrebungen Klopstocks und Herders geprägten, sprachreformerischen "Deutsche[n] Gesellschaft" - entstand die als "Drama der Gegenwart" (210) gestaltete Komödie "Die Soldaten" (Kap. 5), in der Lenz die fatalen Folgen, die das Aufeinandertreffen von Soldaten- und Bürgertum zeitigt, aus der komplizierten Verschränkung individueller und gesellschaftlicher Defizite resultieren lässt. Als Lösungsvorschlag präsentiert er in der letzten Szene den Gedanken staatlicher Soldatenbordelle (243) bzw. das Modell einer "kirchlich nicht legitimierte[n] Eheschließung ,auf gewisse Jahre'" (245).

Dieses Projekt vertiefte Lenz dann in den "sozialreformerischen Aktivitäten der Weimarer Zeit" (Kap. 6). P. schildert zunächst den Kontext, in den Lenz mit seinem von März bis Dezember 1776 dauernden Aufenthalt in Weimar eintrat (251-272): Während Lenz in Goethe den nahezu idealtypischen Vertreter der "Realisierung eines lebensweltlich gelungenen ,Handeln'-Modells" gesehen zu haben scheint (262), habe Goethe, der Lenz' literarische Arbeiten durchaus schätzte, dessen ",Projektemacherei' ziemlich verständnislos gegenüber[gestanden]" (271). Lenz hat in Weimar vielfältige Reformvorschläge ausgearbeitet. In seiner kulturpolitischen Abhandlung "Expositio ad hominem" forderte er die Einrichtung eines staatlichen Stipendienwesens für junge Schriftsteller; begleitend dazu legte er den Programmentwurf einer literaturkritischen Zeitschrift vor, mit deren Hilfe der literarische Markt "bereinigt" und die Lesebedürfnisse des Publikums zentral-autoritär gesteuert werden sollten (271-290). Und mit der Reformschrift "Über die Soldatenehen" führte er aus, was die Schlussszene von "Die Soldaten" angedacht hatte: Die Beförderung von "Soldatenehen" - die Väter der Soldatenfrauen sollten ihre Töchter ernähren, die Söhne aus diesen "Ehen" sollte der König auf seine Kosten zu künftigen Soldaten ausbilden lassen (307) - würde zur Verbürgerlichung des Militärstandes beitragen und dadurch, verbunden mit einer "parallel sich vollziehenden Militarisierung der Ständegesellschaft", "eine umfassende Beförderung der Gesellschaft herbeiführen" (328).

Das umfangreiche letzte Kapitel widmet sich der Erzählung "Der Landprediger", die Lenz im Winter 1776/77, unter dem unmittelbaren Eindruck seines Scheiterns in Weimar, verfasst hat. Dass die darin gezeichnete Figur des Pfarrers Johannes Mannheim dem Modell, das J. J. Spalding in seinem (als "Streitschrift" [340] falsch etikettierten) Buch "Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung" ausformt, entspricht, hat P. noch einmal ausführlich gezeigt; merkwürdigerweise legt er dabei nicht die von Lenz gelesene 1. Auflage (1772), sondern die kräftig überarbeitete und erweiterte 3. Auflage (1791) zu Grunde. Aufschlussreich ist der Hinweis, dass Lenz das von Spalding entworfene Pfarrerideal zwar als Vorlage benutzt, jedoch zugleich um sein eigenes sozialpolitisches Reformprogramm erweitert hat (348, Anm. 57). Überdies macht P. auf weitere Vorlagen des "Landpredigers" aufmerksam: etwa den "Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk" (1771) von Lenz' damaligem Gastgeber J. G. Schlosser, dessen Impuls, das popularphilosophische Bildungsprogramm an die konkrete lebensweltliche Situation der unterbürgerlichen Schichten anzupassen, Lenz übernimmt (373-398), oder auch die physiokratische Wirtschaftstheorie (298-417), dergemäß Mannheim durch das von ihm organisierte landwirtschaftliche Mustergut das Entstehen einer bäuerlichen Genossenschaft anregen kann (405).

Die "Schlußbemerkung" (461-466) präsentiert ein knappes, aber eindeutiges Resümee: Den neuzeitlichen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozess, den Lenz als "extrem krisenhaft erlebt [hat]" (466), habe er mit autoritären, die individuelle Autonomie obrigkeitlich beschränkenden Gesellschaftsmodellen retardieren oder sogar aufhalten wollen. Auf diesem Hintergrund müsse man Lenz' "reformerische Projektemacherei ... als ein[en] letztlich gescheiterte[n] Versuch bezeichnen, eine neue Ordnungsstruktur gegen diese Entwicklung zu setzen" (466).

Ganz so eindeutig wie das Resümee P.s ist der Eindruck, den die Lektüre des voluminösen Buches hinterlässt, nun freilich nicht. Die souveräne Kompetenz des Autors, der mit den Lenzschen Texten und ihren literarischen, philosophischen, theologischen, sozialen und biographischen Kontexten gleichermaßen vertraut ist, wird jeden Leser den ungeteilten Respekt empfinden lassen, den sie verdient. Unbeschadet dessen drängt sich jedoch die Frage auf, ob die Stringenz der Darstellung hinter dem, was wünschenswert und sachdienlich wäre, nicht bisweilen zurückbleibt. Das mag auch an der streckenweise übergroßen Ausführlichkeit liegen, in der P. seine Thesen entfaltet und in der er Positionen referiert, die man voraussetzen dürfte (etwa die Grundgedanken der Philosophie Rousseaus, 93ff.) oder die das Thema nicht unmittelbar tangieren (etwa die Kritik Herders an Spalding, 348 ff.). Bisweilen scheint dem Autor aber auch der "religiöse Faktor", den er eingangs als den zentralen Bezugspunkt seiner Arbeit kenntlich gemacht hat (12), aus dem Blickfeld geraten zu sein - und vielleicht war der ursprüngliche Untertitel der Dissertation ("Genieästhetik und Sozialreform", 9) für einige Teile tatsächlich besser gewählt.

Dort aber, wo der "religiöse Faktor" - durchaus einleuchtend! - als für Lenz konstitutiv bearbeitet wird, vermisst man bisweilen eine hinreichende Differenziertheit. Gerade der von P. zu Recht ins Zentrum gerückte Pietismusbegriff scheint mir insgesamt unterbestimmt geblieben zu sein. Was bedeutet - um nur wenige Beispiele zu nennen - die Auskunft, das "Herz", dem doch in der gesamten lutherischen Anthropologie entscheidende Bedeutung zukommt, sei die "pietistische Zentralkategorie" (113)? Kann man die Rede vom Finger Gottes, der "die natürliche (!) Moral ,in unser Herz geschrieben'" habe, ein "pietistische[s] Losungswort" nennen (113)? Die religiöse Zentriertheit des Leidensmotivs als pietistisches Sondergut auszuweisen (155 f.), ist nicht weniger problematisch als der Ausdruck "pietistische Chiliasmushoffnung" (129). Die Forschungsliteratur zum Thema Pietismus, auf die sich P. stützt (53, Anm. 38), lässt einige wichtige Titel vermissen; und dass A. H. Francke als der für die Theologie von Lenz' Vater bedeutendste Gewährsmann größtenteils aus der Sekundärliteratur zitiert wird, ist zumindest ein handwerklicher Schönheitsfehler. Leider ist der Briefwechsel zwischen Christian David Lenz und Gotthilf August Francke (Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle), der für die Ausbildung der theologischen Identität von Lenz' Vater eine sehr wichtige, vielleicht sogar zentrale Quelle darstellt, nicht berücksichtigt worden.

Auch sonst sind theologische Unschärfen zu beklagen. Luthers Rede vom deus absconditus entspricht durchaus nicht der "orthodoxe[n] Gottesvorstellung eines Willkürgottes" (125), welche übrigens auch schwerlich orthodox genannt werden kann. Und mit der Auskunft, "Lenzens Begeisterung für das Soldatische" werde teilweise verständlich, wenn man bedenke, dass Krieg "für Luther ein legitimes Exekutivmittel der weltlichen Obrigkeit [ist]" (333), bleibt der Leser einigermaßen ratlos zurück. Überdies sind, neben dem Druckfehler der Titelseite, einige peinliche Versehen zu kritisieren: Leibniz spricht von prästabilierter, nicht von "prästabilisierter Harmonie" (128, 140); der "Persönlichkeitskern", den Lenz' Bildungsprogramm aktivieren will, mag transzendent sein, aber gewiss nicht "transzendental" (143); das Motiv, Christus nachzuahmen, heißt auf lateinisch imitatio Christi (vgl. 123, 145).

Diese kritischen Anmerkungen, die teilweise kleinlich anmuten mögen, sollen den Wert, den P.s Studie darstellt, nicht schmälern. Sie hat, alles in allem, der Lenz-Forschung zu einem wesentlichen Fortschritt verholfen. Exemplarisch hat sie zugleich den Erkenntnisgewinn vor Augen geführt, den eine auf die literarästhetische Umformung religiöser Formen, Themen und Motive zielende interdisziplinäre Untersuchung einfahren kann. Der nicht mehr ganz taufrischen Säkularisierungsdebatte werden die bunten, kräftigen Farben geschichtlicher Konkretion gut zu Gesichte stehen.