Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1291–1295

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wiese, Christian

Titel/Untertitel:

Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XXV, 507 S. gr.8 = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 61. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-147201-2.

Rezensent:

Kurt Nowak

Die noch von Heinz Eduard Tödt () und später von Leonore Siegele Wenschkewitz () betreute Dissertation von Christian Wiese löste in der "Frankfurter Allgemeinen" kurze Zeit nach ihrer Veröffentlichung eine Kontroverse aus. In seiner Besprechung vom 23. Februar 2000 reihte Friedrich Niewöhner den von Wiese unter der Überschrift "Adolf von Harnack und die Debatte über das ,Wesen des Judentums'" (131-139) behandelten Kirchenhistoriker in die Galerie der deutsch-völkischen Antisemiten ein. Am 15. März 2000 konterte Johann Hinrich Claussen: "Man mag Wellhausen, Harnack und Troeltsch eine verzerrte Sicht des Judentums vorwerfen, auch Vorurteile und Ressentiments. Pauschal als Antijudaisten sollte man sie nicht bezeichnen." Noch schärfer reagierte Dietrich Korsch am 20. März 2000. Niewöhner wende "denunziatorische Urteile gegen den Sinn des Autors". In Harnack einen Antisemiten zu sehen, sei "ein historisches Fehlurteil erster Güte".

Die Auseinandersetzung beleuchtet die hochgradige Sensibilität des Themas, aber auch manche Ambivalenzen in der Diktion und den Urteilen von Christian Wiese. Der Untertitel seines Buchs nimmt, obschon zunächst mit einem Fragezeichen versehen, Gershom Scholems Metapher vom "Schrei ins Leere" auf. Scholem zufolge machten die Juden in Deutschland ein Gesprächsangebot "im leeren Raum des Fiktiven" (3). Die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jh., die ihre institutionellen Heimstätten im "Jüdisch-Theologischen Seminar" in Breslau (eröffnet 1854), in der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin" (eröffnet 1872; auf Drängen des preußischen Kultusministeriums alsbald in "Lehranstalt" umbenannt) sowie im orthodoxen Rabbiner-Seminar zu Berlin fand (eröffnet 1873), ist für den Vf. ein eklatanter Fall für die Fehl- und Nichtwahrnehmung des Judentums durch die christliche, insbesondere protestantische Mehrheitsgesellschaft: in diesem Fall durch die wissenschaftliche Theologie.

Das Buch schließt sich methodisch eng an einen Aufsatz von Leonore Siegele-Wenschkewitz aus dem Jahr 1986 an: "Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik". Welchen Hemmungen oder auch Chancen unterlag das Gespräch der jüdischen und protestantischen Gelehrten? Die von Siegele-Wenschkewitz für die 1920er Jahre gestellte Frage wird vom Vf. auf das wilhelminische Deutschland übertragen. Der Blick richtet sich dabei nach beiden Seiten. Wie nahm die protestantische Theologie, eingeschlossen die "evangelische Judaistik" (Gustav Dalman, Franz Delitzsch, Hermann L. Strack), das Judentum und die Disziplin "Wissenschaft des Judentums" wahr? Wie sah die jüdische Perspektive auf die protestantische Theologie aus? Die doppelseitige Rekonstruktion des Verhältnisses beginnt sich immer mehr durchzusetzen. Man vergleiche nur die Arbeiten von Roland Deines (1997) und Hans-Günther Waubke (1998) über die Pharisäer. Ganz neu ist die Doppelperspektive nicht. Forschungsgeschichtlich führt sie bis zu dem Werk von Uriel Tal "Christian and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich, 1870-1941" zurück (Ithaca/London 1975 - vgl. die Rez. in ThLZ 101, 1976, 947-950). Ob Tals Monographie, wie der Vf. meint, von den deutschen Kirchenhistorikern bislang kaum rezipiert sei, möge dahingestellt bleiben (10).

Mit den Möglichkeiten zur Wahl einer Spezialstudie oder einer panoramischen Darstellung konfrontiert, hat sich der Vf. für das Panorama entschlossen. Die "Frage nach der Symmetrie oder Assymetrie in der Begegnung zweier wissenschaftlicher Disziplinen, die zwei verschiedene, gleichwohl in einer engen Beziehung zueinander stehende Religionen und Kulturen repräsentierten" (17), bildet hierbei den roten Faden. Symmetrie und Assymetrie umgreifen in der Begegnung von Judentum und Protestantismus Herrschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Insofern verbindet die Studie Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte. Seine Berufung auf die Diskursethik von Jürgen Habermas wirkt ein wenig wie schmückendes Beiwerk. Jedenfalls führt ihre Beanspruchung den Vf. methodisch nicht über die in der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung üblichen Standards der historiographischen Rekonstruktion hinaus.

Das Buch ist sinnvoll und dennoch ein wenig umständlich gegliedert. Der Vf. präsentiert die sieben Unterkapitel der drei Hauptteile in durchlaufender Zählung. Dadurch entsteht, zumindest bei den Kolumnentiteln, eine gewisse Verwirrung. Die tragenden Säulen sind die Hauptteile.

Der erste Hauptteil lautet: "Der Kontext der Begegnungen und Kontroversen" (28-85). Hier gibt der Vf. anhand der Sekundärliteratur einen Überblick über "Die politische und gesellschaftliche Situation der jüdischen Gemeinschaft im wilhelminischen Deutschland 1890-1914" und unterrichtet über "Selbstverständnis und Forschungsbedingungen der Wissenschaft des Judentums".

An interesseloser Erforschung der Religion und Kultur des Judentums in Vergangenheit und Gegenwart konnte der "Wissenschaft des Judentums"- den Begriff prägte zu Beginn des 19. Jh.s Eduard Gans - nicht gelegen sein. In der historischen, philologischen, religionsgeschichtlichen und kultursoziologischen Arbeit ging es stets um Identitätspräsentation, um Apologetik und Polemik. Wissenschaft und Lebenswelt fügten sich wegen der Vorurteile der christlichen Mehrheitsgesellschaft noch fester ineinander als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Hätte sich der Vf. nicht für das Panorama entschieden, wären die Passagen über die "Bildungsinstitutionen der Wissenschaft des Judentums" (65-78) vielleicht nicht so karg ausgefallen, wie es jetzt der Fall ist. Die institutionenbezogene Bildungsforschung zum wilhelminischen Deutschland erlebt derzeit einen Aufschwung. Es wäre bestimmt sehr lehrreich gewesen, das Seminar in Breslau und die beiden Anstalten in Berlin institutionsgeschichtlich ausführlicher zu untersuchen, anstatt sich auf eine Faustskizze zu beschränken. Deutlich wird in jedem Fall das Dilemma der "Wissenschaft des Judentums". Sie verfügte über zahlreiche herausragende Gelehrte - Jacob Bernays, Manuel Joel, Heinrich Graetz, Abraham Geiger, Ismar Elbogen, Leo Baeck u. a. -, litt aber unter Diskriminierung und nicht gewürdigten Ansprüchen.

Die Überschrift des zweiten Hauptteils "Die Wahrnehmung der protestantischen Theologie" (88-237) ist gemäß dem Anliegen des Vf.s doppelseitig zu lesen. Die Darstellung wechselt zwischen jüdischer und protestantischer Perspektive. Zunächst erörtert der Vf. die Wahrnehmung der "evangelischen Judaistik" und der "Judenmission" durch jüdische Gelehrte, sodann die jüdisch-protestantische Kontroverse über das pharisäisch-rabbinische Judentum, um sich schließlich den Urteilen jüdischer Fachleute über die protestantischen Forschungen zur hebräischen Bibel 1900-1914 zuzuwenden. Die Befunde sind selbst für jene protestantischen Theologen, die sich dem Judentum weit öffneten - Dalman, Delitzsch, Strack - nicht beflügelnd. Der Überlegenheitsanspruch der christlichen Theologen über das Judentum wurde von den jüdischen Gelehrten bei aller Würdigung des anti-antisemitischen Engagements (insbesondere Stracks) als unbillige Last empfunden.

Noch in der intimen Nähe des Fachdiskurses wird der Abstand des antijudaistischen Vorurteils erlebt. Das schmale Kapitel über Harnacks "Wesen des Christentums" und die zahlreichen jüdischen Reaktionen auf Harnacks Bild des Judentums zur Zeit Jesu gab in der "Frankfurter Allgemeinen" wohl auch deshalb zum Streit Anlass, weil der Vf. bei Harnack zwar auf jene Denkfiguren hinweist, welche die Religion Israels und des Judentums religiös depotenzieren, es (abgesehen von 139, Anm. 34) aber versäumte, auf Harnacks scharfe und unmissverständliche Ablehnung des Antisemitismus aufmerksam zu machen. Der Antisemitismus, so Harnack 1890 und später immer wieder, sei "ein trauriger Skandal". Da die jüdische Auseinandersetzung mit Harnacks "Wesen des Christentums" in der jüngeren Literatur bereits mehrfach dargestellt wurde - was übrigens auch für das Kapitel über den "Bibel-Babel-Streit" (190-198) gilt -, fallen diese Passagen wenig innovativ aus. Weiterführend sind demgegenüber die Beobachtungen zu Wilhelm Boussets religionsgeschichtlicher Einordnung der frühjüdischen Zeitgeschichte, die er "Spätjudentum" nannte. Für Bousset war die "Religionsgeschichte des jüdischen Volkes" letztlich Anbahnungsgeschichte des Christentums und blieb religiös-theologisch hinter ihr zurück. Nach der Schwenkung Boussets zur Religionsphilosophie 1909 machte seine kontrastive Perspektive "synagogale Frömmigkeit" - "Persönlichkeit Jesu" neuen Gesichtspunkten Platz (170 f.).

Bildeten die neutestamentliche Zeitgeschichte, die Person Jesu und das Judentum in Palästina und der Diaspora immerhin ein freilich von vielen außerwissenschaftlichen Interessen überlagertes gemeinsames Forschungsthema, so ließen es den Expertisen des Vf.s zufolge die Alttestamentler in Deutschland um 1900 kaum zu, dass jüdische Exegeten der hebräischen Bibel ihnen ins Handwerk pfuschten. Umgekehrt akzeptierte man auf jüdischer Seite deren Methoden nur selten. Die historisch-kritische Methode erschien jüdischen Bibelwissenschaftlern, auch wenn sie punktuell deren Ergebnisse aufnahmen, als schrittweise Zerstörung miteinander verbundener Bezirke des Heiligen: der Tora und der weiteren Teile der Schrift, des Talmud und der rabbinischen Literatur außerhalb des Talmud. Wegen der komplexen Fülle dieses Gegenstandsbereichs kann der Vf. nur Stichproben geben. Er verweist auf den Kampf des jüdisch-orthodoxen Exegeten David Hoffmann gegen das System der Quellenscheidung, auf den hermeneutischen Sonderweg einer "jüdischen Bibelwissenschaft" durch Benno Jacob und auf die Rezeption des protestantischen Bildes der Prophetie durch Max Wiener (179-237). Eine gehaltvolle Diskussion entwickelte sich insgesamt nicht. Die lebensweltlichen und wissenschaftlichen Interessenlagen divergierten zu stark. In diesem wie auch in anderen Kapiteln tritt eine Schwierigkeit hervor, die nicht dem Vf. anzulasten ist. Die Wissenschaftsgeschichte der exegetischen Fächer erfordert neben der Kompetenz des Historikers auch ein qualifiziertes exegetisch-philologisches Urteil. Je mehr die Forschungen auf der vom Vf. anvisierten Ebene vorangetrieben werden, desto notwendiger werden Doppel- und Mehrfachqualifikationen. Die protestantische Nichtwahrnehmung der jüdischen Auslegungstradition und die jüdischen Blockaden beim Blick auf den historisch-kritischen Methodenstandard der protestantischen Wissenschaft vom Alten Testament führen in Problemgewässer der Erkenntnistheorie und des Historismus.

Im dritten Hauptteil (240-360) erörtert der Vf. "Funktion und Wirkung der Herausforderung", d. h. der Wirkungen des (liberalen) Protestantismus auf das (liberale) Judentum und der Wissenschaft des Judentums auf die protestantische Universitätstheologie. Was die prekäre Dialektik von Nähe und Distanz zwischen liberalem Protestantismus und liberalem Judentum angeht, so versucht der Vf. einen Schritt über Uriel Tal hinauszugehen. Er fragt nicht allein nach Abstand und Nähe, vielmehr auch nach den Folgen für die innerjüdische Identitätsdebatte. Hierzu kann er einige bereits bekannte (Leo Baeck), aber auch weniger bekannte Voten beibringen (Jakob Fromer). Er resümiert: "Das Bewußtsein, daß beide liberalen Strömungen durch wichtige gemeinsame theologische und ethische Konzepte miteinander verbunden waren, führte auf keiner Seite zu einem offenen Diskurs ..." (286). Das ist nicht falsch gesagt, nur muss man hier das tiefere Problem sehen. Die Ermittlung von gemeinsamen religiösen und ethischen Elementen, welche die historischen Religionen hinter sich ließen, führte in Sackgassen. Das Problem bestand in der theoretischen Fundierung des religiösen Pluralismus unter Beibehaltung der eigenen (relativen) Absolutheit.

Ungeachtet aller Hemmnisse schien sich 1914 eine Akzeptanz der Wissenschaft des Judentums anzubahnen. Felix Perles träumte von einer jüdisch-theologischen Fakultät in Frankfurt/ Main. Die Beharrungskraft der Milieus und der Erste Weltkrieg begruben diese Hoffnungen, die sich dann in der Weimarer Republik nicht recht erneuern wollten. Die Tätigkeit jüdischer Gelehrter blieb an den deutschen Hochschulen auf Lektorenstellen, Lehraufträge und Honorarprofessuren beschränkt. Der jüdische Schrei sei "in der Tat ins Leere gegangen" (368). "Der zaghafte Neubeginn der Judaistik in Deutschland nach der radikalen Zäsur des deutsch-jüdischen Verhältnisses durch die Shoah und ihr Aufschwung seither sollte gerade von der christlichen Theologie als geschenkte Chance zum Dialog verstanden werden, für deren Wahrnehmung sie eine besondere Verantwortung trägt" (369).

Dem Buch ist ein Vorwort von Susannah Heschel (USA) beigegeben, die durch ihre Arbeiten über Abraham Geiger bekannt wurde. Die Dissertation empfiehlt sich wegen der Fülle des in ihr verarbeiteten Materials und trotz ihrer über weite Strecken panoramischen Anlage. Sie eröffnet für die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments, für die Forschungen zur Wissenschaftspolitik im wilhelminischen Kaiserreich und zur Gesellschafts- und Sozialgeschichte der Konfessionen manchen neuen Blickwinkel. Die Reflexions- und Artikulationsprobleme von zwei Weltreligionen, von denen die eine sich unter dem Druck der christlichen Leitkultur marginalisiert und gesellschaftlich gering geschätzt sah, werden überall deutlich. Diese Konstellation ist es auch, die im Horizont des Weges der Religionen in der Moderne zu reflektierter Bearbeitung auffordert. Blickt man noch einmal auf Harnack, so lässt sich nämlich auch sagen, dass der Berliner Kirchenhistoriker mit seinem Versuch zu einer Wesensbestimmung des Christentums das Judentum unbeabsichtigt nötigte, sich seinerseits Klarheit zu verschaffen. Trutz Rendtorff spricht in seiner Neuausgabe von Harnacks "Wesen des Christentums" (Gütersloh 1999) deshalb geradezu von einer "Renaissance jüdischen theologischen und kulturellen Selbstbewußtseins" (33).

Kleine technische Versehen - beispielsweise habe ich die S. 13, Anm. 16 u. ö. zitierte Monographie von Deines und die S. 99, Anm. 37 u. ö. zitierte Delitzschbiographie Siegfried Wagners nicht im Literaturverzeichnis gefunden - tun dem sorgfältig hergestellten Buch keinen Abbruch.