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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1290 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Weinzierl, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung. Neue Wege der Religionsgeschichte.

Verlag:

Wien: Verlag für Geschichte und Politik; München: Oldenbourg 1997. 259 S. gr.8 = Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 22. Kart. DM 63,-. ISBN: 3-7028-0347-5 bzw. 3-486-56267-3.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

1. Dem Programm nach sind die versammelten Studien zur neuzeitlichen Religionsgeschichte so neu nicht wie der Untertitel verheißt, folgen sie doch dem Gewährsmann Richard van Dülmen in der kultur- und sozialgeschichtlichen, auf Volksfrömmigkeit fokussierten Ausrichtung der Geschichtsschreibung im Gegensatz zur traditionellen Kirchen- und Dogmengeschichte (7). In der Tat ist allerdings festzustellen, dass trotzdem immer noch ein erheblicher Mangel an Falldarstellungen besonders für die protestantischen Territorien besteht (8). Ein Kreis von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen am Institut für Geschichte der Universität Wien versucht hier in Zusammenarbeit mit europäischen und amerikanischen Historikern bzw. einem Politikwissenschaftler Abhilfe zu schaffen. Beiträge von Theologen fehlen leider.

Auf die kurze Einleitung des Herausgebers (7-12) stellt E. List den Theorierahmen vor. Darauf folgen Studien zur protestantischen Identitätsbildung am Beispiel der Autobiographieforschung zu Thomas Platter (A. Kohler, 55-66) und zum 'Jus reformandi' im 16. Jh. Der Schwerpunkt liegt allerdings bei Fallstudien zur frühen Neuzeit hinsichtlich der geistlichen Fürstentümer bis 1803 (G. Lottes, 96-111), der sexuellen Gewalt, der Physikotheologie, der adligen Frauen im Pietismus (I. Modrow, 186-199) und über die Entwicklung des Schuld- und Schamgefühls im 18. Jh. (E. Saurer, 200-219). H. Sanders untersucht die skandinavischen Erweckungsbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jh.s (220-232). Auf aktuelle Debatten führen die Beiträge von I. F. Terricabras über die spanische Historiographie zur Gegenreformation (112-129), von I. Kramnick über 'First Amendment' und Fundamentalismus in den USA (233-245) und M. Weinzierl über das besondere Verhältnis von katholischer Kirche und Staat in Österreich (246-258). Wie immer bei solchen Sammelbänden stellt die Heterogenität der Aufsätze ein Problem dar. Von den im Titel genannten Generalbegriffen sind zweifellos Individualisierung und Säkularisierung vertreten, wogegen das Thema der Rationalisierung nicht eingehend behandelt wird.

2. Im Sinne der neuen methodischen Zugänge, für die die Verfasser plädieren, seien einige Beiträge näher gewürdigt. So verbinden die Coautoren Stefan Ehrenpreis und Bernhard Ruthmann (München) in ihrer Studie zum 'Jus reformandi' (67-95) überzeugend die Methoden der Reichsverfassungsgeschichte und Konfessionalisierungsforschung: "Die Untersuchung von Religionsprozessen bietet ein Mittel, die Auswirkungen des Reichsreligionsrechts in seiner praktischen Reichweite zu bestimmen." (94) Schon die mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 gegebene Rechtslage wurde von den lutherischen und katholischen Religionsparteien unterschiedlich interpretiert. Die entstehenden Konflikte mussten gegebenenfalls vom Reichskammergericht entschieden werden. An den erhellenden Beispielen solcher Konflikte in Trier, Köln und Neumarkt in der Oberpfalz (75-91) können die Autoren plausibel machen, dass zum einen die territoriale Obrigkeit auf Sozialdisziplinierung mittels Ehr- und Einkommensverlust drängte (zu Ungunsten der Protestanten), dass zum anderen dennoch die konfessionelle Einheitlichkeit ein fiktives Ziel blieb. Unterhalb der ausgetragenen Konflikte bildete sich vielmehr eine territoriale Konfessionalisierung auf niedrigem Niveau heraus, die bestimmte Abweichungen (Reservaträume in Grenzen) zuließ (begrenzte Bikonfessionalität) (95). Der mikrohistorische Beitrag von Andrea Griesebner (Wien) besticht durch die Quellendichte, mit der ein Fall von Inzest anhand der Prozessakten von 1770 rekonstruiert wird (130-155). Die strafrechtliche Ahndung sexueller Gewalt setzt schon ihre Bewertung als illegitime Praktik voraus (131). Dabei fällt auf, dass das Inzestopfer, eine Neunjährige, quasi wie eine Erwachsene behandelt wird, das 18.Jh. mithin noch vor der Entdeckung des Kindes steht (133). Helga Dirlinger (Wien) verfolgt den Transformationsprozess der christlichen Schöpfungslehre angesichts der naturwissenschaftlichen Revolution des 17. Jh.s im Gefolge Descartes', Galileis und Newtons (156-185). Zu Recht versteht sie die neue Physikotheologie (von Samuel Parkers 'Tentamina Physico-Theologica' 1665 geprägt) als einen Modernisierungsschritt angesichts der zusammengebrochenen aristotelischen und altprotestantischen Kosmologie mit dem Bemühen, den naheliegenden Schritt zum Deismus zu vermeiden. "Sie versuchte Antwort auf die Frage zu geben, wie angesichts eines mechanischen Universums der Glaube an das allmächtige Eingreifen Gottes weiter aufrechtzuerhalten sei." (156) In Aufnahme des alten Topos vom "Buch der Natur" werden jetzt ausführlich neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse verbreitet und zugleich teleologisch einem die Naturgesetze insgesamt "steuernden Gott" untergeordnet (161, 165). In Auseinandersetzung mit der negativen Natur- und Wildnisdeutung von Th. Burnet entwickeln die Physikotheologen eine dezidiert positive Wertschätzung der Natur als Schöpfung Gottes (170-180). Mit ihrer utilitaristischen und ästhetischen Rechtfertigung der Natur (zum Lobe Gottes) präludieren sie der romantischen Versenkung des Subjekts in die Natur. Die religiöse Ekstase wird von Gott als dem Urheber auf seine Schöpfung selbst übertragen (182-185).

3. Zum Glück sind diese Detailstudien dem freudianischen Theoriedesign weitgehend nicht gefolgt, das Eveline List (Wien) einleitend formuliert (13-54). Dagegen erheben sich schwerste Bedenken: sowohl gegen die unkritische Übernahme Freudscher Prämissen etwa hinsichtlich des vermeintlich nur illusionären Charakters der Religion (17 ff.), als auch gegen die arg simplifizierenden Kontrastierungen von mittelalterlicher "Einheitskul- tur" und säkularisierter Moderne einerseits (21 ff.) und von rein innerlichem Protestantismus und ritualgesteuertem Katholizismus andererseits (25 ff.) als auch schließlich und vor allem gegenüber der Rückprojektion der "Kleinfamilie" vom Ende des 19. Jh.s ins 16. Jh. (15, 29, 36, 39-42). "Die protestantische[n] Konfession[en] basierten schon auf Vorformen einer Erfahrungswelt der väterlich-hierarchischen Kleinfamilie, in der die Konfrontation mit der Macht sehr unmittelbar passiert." (26, vgl. 28) Solche dogmatischen, noch dazu im Hinblick auf Freud selber reichlich orthodox und ahistorisch verfahrenden Behauptungen dürften der Grund dafür sein, dass die an sich begrüßenswerte "Psychohistorie" immer wieder ins Abseits geriet.