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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1286 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Mensing, Björn

Titel/Untertitel:

Pfarrer und Nationalsozialismus. Geschichte einer Verstrickung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 290 S. gr.8 = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, 26. Geb. DM 68,-.ISBN 3-525-55726-4.

Rezensent:

Clemens Vollnhals

Ihre besten Wahlergebnisse erzielte die NSDAP seit 1930 in Gebieten mit mehrheitlich protestantischer Bevölkerung. Wie hoch differenzierte Wahlanalysen zeigen, war von allen Sozialmerkmalen die Konfessionszugehörigkeit der entscheidende Faktor: Protestanten waren im Schnitt doppelt so anfällig für die NSDAP wie die Katholiken. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 wählten etwa 40 Prozent der Protestanten die NSDAP, aus der evangelischen Landbevölkerung gab ihr jeder zweite seine Stimme, in den Städten war es jeder dritte. Dieser Befund ist der historischen Forschung seit langem bekannt, doch liegen bislang nur wenige Arbeiten vor, die das Verhältnis der evangelischen Pfarrerschaft zum Nationalsozialismus eingehend untersuchen.

Die vorliegende Studie unternimmt dies am Beispiel der bayerischen Landeskirche, die den Aufstieg der NS-Bewegung aus nächster Nähe beobachten konnte. Zu den Vorzügen der Arbeit zählt der sozialgeschichtliche Ansatz, der die überkommenen Fronten einer theologischen Kirchenkampfgeschichtsschreibung konsequent überwindet. Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht die politische Sozialisation der bayerischen Pfarrerschaft, die Analyse ihrer sozialen Rekrutierung wie die Beschreibung "weicher" mentalitätsprägender Faktoren. Anschließend folgt eine sehr dichte Darstellung der politischen Rezeption der aufsteigenden NS-Bewegung innerhalb der Pfarrerschaft während der Weimarer Republik. Ein weiteres Hauptkapitel befasst sich dann mit der Zeit der NS-Diktatur bis 1945.

Bereits vor der verhängnisvollen Reichstagswahl im September 1930 gehörten mindestens 18 (vermutlich um die 25) Pfarrer der NSDAP an. Ende 1932 waren nachweislich 57 Geistliche NSDAP-Mitglieder, tatsächlich dürften es jedoch erheblich mehr gewesen sein. Mensing schätzt ihre Anzahl auf etwa 85 oder rund fünf Prozent der bayerischen Pfarrerschaft. Es waren die Aktivisten, die sich vor 1933 offen organisierten, denn die Kirchenleitung unter Präsident Friedrich Veit, eines konservativen "Vernunftrepublikaners", stand dem parteipolitischen Engagement von Pfarrern grundsätzlich ablehnend gegenüber.

Die nationalen Leidenschaften waren damit jedoch nicht zu zügeln. Immer mehr Pfarrer bekannten 1931/32 unverhohlen ihre Sympathie für die NS-Bewegung. Das völkisch-antisemitische Gedankengut stellte dabei keine Barriere dar, glaubten doch viele an die "zersetzende Macht des Weltjudentums", die sich in Liberalismus wie Bolschewismus gleichermaßen manifestiere. Allein die NS-Bewegung könne Deutschland vor dem völligen Zusammenbruch retten und den göttlichen Schöpfungsordnungen wie Volk und Rasse zu neuer Hochachtung verhelfen. Damit ließ sich das politische Engagement auch theologisch unterfüttern, wenngleich die angesehenen Erlanger Theologen Paul Althaus und Werner Elert nie der NSDAP beitreten sollten. In seiner penibel recherchierten Studie gelangt Mensing zu der Schlussfolgerung, dass bei den Wahlen 1932 über die Hälfte aller Pfarrer für die NSDAP gestimmt haben dürfte, während der Christliche Volksdienst an Unterstützung verlor.

Nach der Machtübernahme Hitlers forderten die NSDAP-Pfarrer den Rücktritt Veits und die Neuwahl der Landessynode. Neuer Landesbischof wurde bekanntlich Oberkirchenrat Hans Meiser, ein erklärter NS-Sympathisant, der als eine seiner ersten Amtshandlungen, die Beflaggung kirchlicher Gebäude zum "Führergeburtstag" anordnete. Im Zuge der "Nazifizierung" der bayerischen Landeskirche traten bis Mitte 1934 rund 20 Prozent der Pfarrer der NSDAP bzw. dem NS-Pfarrerbund bei. Nicht wenige von ihnen übten auch Funktionen als Parteiredner oder Ortsgruppenleiter aus und trugen somit wesentlich zur Verwirrung der Gewissen bei. Meiser selbst bekundete bei jeder Gelegenheit seine uneingeschränkte Unterstützung für Hitlers Politik und verhalf Nationalsozialisten zu exponierten Positionen in der Landeskirche. Während des Kirchenkampfes standen diese jedoch in Treue fest zu ihrem Landesbischof, so dass den Deutschen Christen in Bayern kein Erfolg beschieden war.

Unstrittig setzte im Laufe des "Dritten Reiches" auch bei vielen Pg-Pfarrern ein sukzessiver Distanzierungsprozess ein. An erster Stelle stand dabei, wie eine Erhebung M.s ergab, mit 124 Nennungen die Erfahrungen des Kirchenkampfes, während die Judenverfolgung oder sonstige Verbrechen des NS-Regimes (29 bzw. 32 Nennungen) eine untergeordnete Rolle spielten. Der Horizont beschränkte sich auf Pfarrhaus und Gemeinde, während der verbrecherische Charakter der NS-Diktatur anscheinend gar nicht oder nur sehr partiell wahrgenommen wurde. Dementsprechend dominierten auch in späteren Jahren Loyalitätsbekundungen zum NS-Regime die Politik der Landeskirche.

Noch 1943 ordnete der Landeskirchenrat zu Hitlers Geburtstag eine Fürbitte an und bat Gott, "daß er ihm mit seinem Geist und seiner Hilfe zur Seite stehe und sein Werk mit Segen kröne". Wie die Studie an verschiedenen Beispielen zeigt, fiel solche Fürbitte manchen Pfarrern immer schwerer. Andererseits waren der "Führer-Mythos" und der antibolschewistische Kreuzzugsgedanke noch keineswegs erloschen. Die vorherrschende Stimmungslage beschrieb ein Pfarrer rückblickend mit den Worten: "Treue zum Führer und zugleich Treue zur Bekennenden Kirche. Diese Haltung hielten, wenn ich recht sehe, viele durch bis zur Katastrophe 1945." Aktiver politischer Widerstand wurde nur vereinzelt von evangelischen Christen geleistet. "Das Gesamtbild", so der Tenor M.s, "ist geprägt von einer mehr oder weniger tiefen Verstrickung der Kirche in den Nationalsozialismus."

Diese Ambivalenzen hemmten nach dem Ende der NS-Diktatur auch die selbstkritische Auseinandersetzung. An die Stelle einer nüchternen Analyse der eigenen Verstrickung griff man lieber auf geschichtstheologische Deutungsmuster zurück, die den Nationalsozialismus nunmehr als Resultat des allgemeinen Säkularisierungsprozesses, als "apokalyptisches Wetterleuchten" interpretierten. Hierzu trug gewiss auch die hohe personelle Kontinuität von Kirchenleitung, Pfarrerschaft und Gemeinden bei, so dass man kaum eine klare Distanzierung von den eigenen Illusionen und politischen Irrtümern erwarten konnte. Ob ein anderes Entnazifizierungsverfahren in dem beharrungsstarken deutschnationalen Gesinnungsmilieu eine größere Aufgeschlossenheit bewirkt hätte, darf allerdings bezweifelt werden. Mit der Demokratie musste sich die Kirche erst in einem längeren Lernprozess anfreunden.