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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1284–1286

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kirn, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748-1822).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 616 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 34. Lw. DM 198,-. ISBN 3-525-55818-X.

Rezensent:

Martin Greschat

Es ist bemerkenswert, dass nahezu zeitgleich zwei Habilitationsschriften über den bis dahin nicht allzu bekannten Theologen Johann Ludwig Ewald erschienen sind. Beide Arbeiten setzen sehr unterschiedliche Akzente. Dem Pietismus, der im Werk Ewalds nach der Überzeugung von Johann Anselm Steiger lediglich eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. dazu meine Rez. in ThLZ 123, 1998, 275-277), wird in dieser Münsteraner Studie zentrale Bedeutung zugemessen. Sicherlich war Ewald nach seinem Selbstverständnis ein aufgeklärter Theologe. Aber was bedeutet das? Jedenfalls klärt auch diese Arbeit nur begrenzt, was denn jene vielzitierte Aufklärung inhaltlich umfasste - und was nicht. Inwiefern strebte also Ewald darüber hinaus? Fraglos spielten dabei auch pietistische Gedanken eine wichtige Rolle. Aber waren diese nicht zumindest teilweise bereits in das Denken der deutschen Aufklärung eingeschmolzen? Was besagt dann die hier gebotene Charakteristik: "Man könnte diesen Mann der Kirche kurz einen pietistischen Spätaufklärer oder, wenn die pietistische Frömmigkeitsprägung stärker gewichtet werden soll, eine spätaufklärerischen Pietisten nennen" (22)?

Pietistische Traditionen und Konzeptionen werden in dieser Untersuchung durchgängig als die theologisch bereichernden und vertiefenden Kräfte begriffen. Die Aufklärung erscheint demgegenüber auf weite Strecken als eine eigentümlich statische Größe im Sinn der "Berliner Aufklärung". Aber unbestreitbar ist doch, dass diese nicht als kennzeichnend für das Phänomen der deutschen Aufklärung angesehen werden kann. Nach einer überaus knappen biographischen "Orientierung" (23 f.) sowie der Information über den Forschungsstand (26-37) folgt die ausführliche Darlegung von Ewalds "Wende" hin zur "apostolischen Christusreligion" (38-118). Dazu gehörten, erfahren wir, neben der Zentrierung auf Christus und die Bibel das Verständnis des Glaubens als religiöses Gefühl, die pneumatisch vermittelte Teilhabe am heilsgeschichtlich gedeuteten Reich Gottes sowie - als Folge davon - ein umfassendes Erziehungskonzept auf der Basis religiöser Bildung. Vielfältige Anregungen und Anstöße trugen zur Formung dieses Denkens bei.

Neben Johann Jakob Heß und Philipp Matthäus Hahn begegnen Herder und vor allem Lavater. Beeindruckend sind die Weite des Blicks und die Kenntnis auch entlegener Quellen, die der Autor hier und im Folgenden zeigt. Von jener geschilderten theologischen Mitte aus werden dann die Themen entfaltet und im Kontext der zeitgenössischen Überlegungen und Positionen dargelegt, die Ewald in seinen zahlreichen Veröffentlichungen abhandelte. Dabei dominiert die systematische Fragestellung, historische Ereignisse oder biographische Veränderungen fallen dagegen kaum einmal ins Gewicht. Auf diese Weise werden Themen der kirchlichen Bildungsreform (119-189), der kirchlichen Strukturreform (190-211), der staatlichen Bildungsreform (222-261) und der Staats- und Zeitkritik (262-287) erörtert. Sodann geht es um Ewalds Rezeption der Philosophie Kants (288-323) und der Pädagogik Pestalozzis (324-352). Es folgen Abschnitte über die gesellschaftliche Stellung der Frau (353-376), über die Judenemanzipation (377-420) und schließlich die "Entfaltung der ,apostolischen Christusreligion'", die nun als "spätaufklärungspietistische Frömmigkeitstheologie" charakterisiert wird (421-518). In der Zusammenfassung (519-531) begegnet Ewald als eine wichtige Gestalt im Übergang zur Erweckungsbewegung, und im Anhang erhält der Leser interessante Informationen über Zeitschriftenprojekte dieses Theologen und Kirchenmannes (532-551). Aus alledem fügt sich ein deutliches Bild der Eigenart von Ewalds religiösem und theologischem Denken zusammen: Von seinem anthropozentrischen Ansatz ebenso wie von der daraus erwachsenden Reduktion nicht nur der Christologie, sondern der meisten traditionellen kirchlichen Dogmen. Erkennbar wird seine innerweltliche Deutung der Heilsgeschichte, die Hochschätzung der Mystik und ein konfessionsübergreifender Kirchenbegriff - um nur das Wichtigste zu nennen. Diese Gedanken werden so ausführlich wie eindringlich entfaltet, geleitet durchweg von dem Bestreben, die Eigenart dieser Persönlichkeit in der geistig-religiösen Landschaft seiner Zeit zu verorten. Ausgesprochen kümmerlich mutet dagegen die biographische Skizze an - vor allem im Vergleich zur lebendigen Darstellung von Steiger. Und fraglich erscheint mir die von Kirn vorgetragene systematische Geschlossenheit von Ewalds Denken. Der Autor muss verschiedentlich selbst einräumen, dass diese nicht durchweg so prägnant in Erscheinung tritt, wie es eigentlich gefordert wäre (z. B. 179, 189, 529). War Ewald nicht in vieler Hinsicht eine Gestalt des Übergangs auch insofern, als er immer wieder sehr vielfältige und durchaus auch heterogene Gedanken, Themen, Stimmungen und Tendenzen der Zeit aufnahm, ohne sie wirklich systematisch zu durchdringen? Besonders wichtig ist schließlich der Aufweis des noch am Ausgang des 18. Jh.s anhaltend prägenden Einflusses des Pietismus. Auch wenn die Hervorhebung dieser Bezüge hier bisweilen übertrieben oder konstruiert erscheint, stellt die Herausarbeitung dieser Linie doch einen wichtigen wissenschaftlichen Fortschritt dar, der hoffentlich zu weiteren Untersuchungen ermutigt. Dabei wird es allerdings, wie gesagt, entscheidend darauf ankommen, auch das Wesen und die Eigentümlichkeit der deutschen Aufklärung exakter zu erfassen. In dieser Hinsicht greifen, wie mir scheint, beide Studien über Ewald zu kurz. Sie stehen, vermutlich unbewusst, in der innerhalb der deutschen Theologie noch immer dominierenden Tradition, welche die Aufklärung stets als "überwunden" ansieht. Dass die vorliegende Arbeit allerdings auf solche grundlegenden Fragen verweist, macht nicht zuletzt ihre Bedeutung aus.