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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1282–1284

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Hummel, Karl-Joseph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vatikanische Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI. 1958-1978.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1999. VIII, 257 S. 8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-506-74008-3.

Rezensent:

Erich Bryner

Die Aufgabe, die vatikanische Ostpolitik der drei Jahrzehnte vom Beginn des Pontifikates von Johannes XXIII. bis zum Tod von Paul VI. gründlich zu analysieren, stellte sich eine Fachtagung, die auf Einladung der Kommission für Zeitgeschichte vom 6.-8. März 1998 in Augsburg tagte. Im Zentrum der Analyse standen die Probleme, die in der Bundesrepublik Deutschland, in der DDR und in Polen zu lösen waren. Die Tagungsteilnehmer waren Kirchenhistoriker und Zeitgeschichtler, Bischöfe und Prälaten, Politiker und Diplomaten. Der Tagungsband ist in zwei Hauptteile gegliedert: Die Vorträge, die Historiker auf Grund des zur Verfügung stehenden Materials hielten, und die Diskussion, die weitgehend von geistlichen und politischen Verantwortungsträgern jener drei Jahrzehnte bestritten wurde. Der Diskussionsteil enthält daher auch viele Gedanken und Erinnerungen, die sonst nirgends schriftlich festgehalten sind.

Gemäß dem Vortrag des Historikers Rudolf Lill und zahlreichen weiteren Beiträgen rechnete der Vatikan damals mit einer langen Lebensdauer des kommunistischen Systems. Für den Heiligen Stuhl galt es, im Sinne einer Realpolitik und unter übergeordneten Gesichtspunkten Erleichterungen für die kirchlichen Strukturen und das kirchliche Leben in den Ländern Osteuropas zu schaffen und aus pastoralen Gründen einen Dialog mit den kommunistischen Regimes zu führen. Kleriker und Laien, die treu ihren Glauben lebten, ihrer Kirche ergeben waren, unter Verletzungen der Menschenrechte zu leiden hatten und deswegen in Opposition traten, fühlten sich dabei oft übergangen, im Stiche gelassen oder gar verraten, und es entstand eine merkwürdige Konstellation, in der ein Regime gestärkt und die Dissidenz geschwächt wurden. Wenig Gehör fanden im Vatikan die Einwände der Betroffenen gegen diese Form von Ostpolitik, so, wenn etwa Kardinal Bengsch (Berlin) erklärte, dass der Erfahrung nach "alle Konzessionen kirchlicher Gemeinschaften gegenüber einem Ostblockstaat ... letztlich keine Erleichterung gebracht" hätten (25). Deswegen müsse - so Lill- "das Urteil über die vatikanische wie über die Ostpolitik insgesamt zwiespältig bleiben" (30).

Die Haltung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur vatikanischen Ostpolitik untersuchte Rudolf Morsey auf Grund der Akten des Auswärtigen Amtes und von Nachlässen maßgebender Politiker. Die Fragen der kirchlichen und diözesanen Neuordnung in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie insbesondere durch das Provisorium von 1967 und der Konstitution von 1972 sowie deren Folgen für eine Friedensregelung für Gesamtdeutschland stehen im Mittelpunkt des Beitrages. Diese Maßnahmen wurden als Angelegenheiten von rein kirchlicher Natur bezeichnet, die keine politische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze impliziere, und wiederum rechnete der Heilige Stuhl mit einer Politik auf lange Sicht, zu der es "kaum eine Alternative gebe", wie der Archtitekt der vatikanischen Ostpolitik, Kardinal Casaroli meinte (78).

Die Deutschlandpolitik des Heiligen Stuhles im Rahmen der verstärkten Kontakte mit den Ostblockländern, die vom Prinzip ,Hinwendung statt Abgrenzung' geleitet wurden, und das Problem der Errichtung neuer kirchlicher Strukturen in der DDR analysierte Karl-Joseph Hummel, der Herausgeber des Bandes, mit Bezug auf die Frage der deutschen Einheit. Der Heilige Stuhl sah aus seiner übergeordneten Warte die Neuordnung der Diözesen mit Rücksicht auf die Grenze zwischen der BRD und der DDR als wichtige Vorsorge für die Zukunft. Doch dies führte zu erheblichen Widerständen unter den deutschen Katholiken, die befürchteten, es würden der DDR-Regierung Zugeständnisse gemacht, die "über das hinausgehen, was pastoral für die Kirche notwendig ist" (101) und die eine "päpstliche Sanktionierung der unmenschlichsten und grausamsten Grenze der Erde" zur Folge haben könnte (105). Joseph Pilvousek (Erfurt) und Leonid Luks (Eichstätt) untersuchten in ihren Vorträgen die vatikanische Ostpolitik in der DDR und in Polen. Dabei zeigt sich auch, dass die Lebendigkeit und Dynamik des polnischen Katholizismus für die Gestaltung des Verhältnisses Staat-Kirche in diesem Land und auch für die Zukunft Entscheidendes leistete.

Nicht nur die Vorträge, auch der Diskussionsteil, der etwa ein Drittel des Bandes umfasst, ist sehr spannend zu lesen. Die strittigen Interpretationsfragen der vatikanischen Ostpolitik werden nochmals unter den verschiedensten Gesichtspunkten erläutert: Gab es von Anfang an ein systematisch durchdachtes Konzept oder entwickelte sich dieses erst allmählich? Welche politischen Implikationen ergaben sich aus der pastoral-seelsorgerlichen Zielsetzung? Wie ging man mit Spannungen zwischen dem Ziel einer langfristigen Sicherung kirchlicher Existenz und den Klerikern und Laien um, die Widerstand gegen die Repressionen, Regimekritik und Opposition leisteten? Gelang es der Ostpolitik, das System für die Betroffenen erträglicher zu machen? Das Jahr 1978 brachte eine deutliche Zäsur: Unter Paul VI. herrschte die Meinung vor, dass das Sowjetimperium auf festen Füßen stehe; seit Johannes Paul II. ging man im Vatikan davon aus, dass dieser Koloss wanke, und eine neue Politik entwickelt werden müsse.

Der Band vermittelt eine material- und gedankenreiche Dokumentation, aber erst vorläufige Bilanzen, da noch nicht alle Akten erschlossen werden konnten. Die Erinnerungen und Meinungen unmittelbar Beteiligter helfen zum besseren Verständnis von Vorgängen, die Casaroli einmal das "schwierigste, verwickeltste und gefährlichste" Problem "im Herzen Europas" genannt hat.