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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1267–1270

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Uro, Risto, [Ed.]

Titel/Untertitel:

Thomas at the Crossroads. Essays on the Gospel of Thomas.

Verlag:

Edinburgh: Clark 1998. XVII, 222 S. 8 = Studies of the New Testament and Its World. Lw. £ 23.95. ISBN 0-567-08607-0.

Rezensent:

Michael Fieger

Bei dem vorzustellenden Buch handelt es sich um einen Sammelband, bestehend aus sieben Beiträgen über das Thomasevangelium (ThEv) aus Nag Hammadi in Ägypten. Die drei Verfasser dieses Werkes, Risto Uro (Hrsg.), Ismo Dunderberg und Antti Marjanen, sind Dozenten am Biblischen Institut der Universität Helsinki. Schon die anziehende Überschrift "Thomas am Scheideweg" macht deutlich, dass die drei finnischen Bibelwissenschaftler mit ihren Essays neue Wege in der Erforschung des ThEv einschlagen möchten. Die umfangreiche Literatur zu diesem apokryphen Evangelium ist ihnen wohl vertraut. Die gut lesbaren Beiträge erschließen ein breites Spektrum relevanter Aspekte aus dem ThEv.

Im ersten Kapitel des Buches setzt sich Uro mit dem ThEv und der Frage der mündlichen Überlieferung der Evangelien auseinander. Uro geht in seinem Beitrag von einem formkritischen Modell der wachsenden Überlieferung (growing tradition) aus. Dieses Modell ermöglicht eine größere Interaktion zwischen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen als bisher angenommen. Die vorhandenen Parallelen (selected parallels) zwischen den synoptischen Evangelien und den Sprüchen des ThEv lassen sich durch eine indirekte Beeinflussung (secondary orality) erklären. Das Modell der "secondary orality" wird anhand des Logions 14 des ThEv erprobt. Dieser Spruch setzt sich aus drei Teilen zusammen: einer Ablehnung der Trias "Fasten, Beten und Almosengeben" (14,1-3), einer Unterweisung über das Wandern, Essen und Heilen (14,4) und schließlich einer Aussage über Unreinheit (14,5). Alle diese drei Teile haben Parallelen in der synoptischen Überlieferung. Es bleibt letztlich unnachweisbar, ob die Verfasserin, der Verfasser oder vielleicht die Verfasser des Logions 14 nur aus mündlich oder schriftlich tradierten Überlieferungen geschöpft haben. Letztlich ist bei der kritischen Quellen-Analyse beides erkennbar.

Das zweite Kapitel des Buches, das aus der Feder von Dunderberg stammt, trägt die Überschrift "Ich-Worte im ThEv und das Johannesevangelium (Joh)". Nach einer Aufzählung der gemeinsamen Merkmale wird der Stand der Forschung bezüglich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Evangelien zusammengefasst. Die methodologischen Schwierigkeiten beim Vergleich der beiden formal verschiedenen Evangelien werden an den Logien 28, 61, 71, 77 aufgezeigt. Es geht dabei um die Inkarnation Jesu, die Gleichheit mit Gott, den Tempelspruch und um die Aussage "Ich bin das Licht". Auch die Logien 23, 43, 104 wurden berücksichtigt, in denen folgende Themen zur Sprache kommen: Auserwählung, Jesu Identität und die ablehnende Haltung gegenüber den Juden sowie die Sündenlosigkeit Jesu. Die Übereinstimmungen zwischen dem JohEv und den Ich-Worten des ThEv verraten keine besonders innige Beziehung zwischen diesen beiden Evangelien noch zwischen den Gemeinden, die hinter ihnen stehen. Ihre Ähnlichkeiten führen nicht zu den ältesten Überlieferungen von Jesus-Worten. Beide Schriften haben eher "a common setting" im frühen Christentum in der Zeit zwischen 70 und 100 n. Chr.

"Thomas und der Lieblingsjünger" lautet die Überschrift des dritten Kapitels. Zu Beginn seines Essays setzt sich Dunderberg mit den verschiedenen Begründungen von H.-M. Schenke und J. Charlesworth auseinander, dass zwischen dem anonymen Lieblingsjünger, der im JohEv vorkommt, und dem Thomas aus dem ThEv eine enge Beziehung besteht. "In summation, neither Schenke's suggestion that Thomas was the historical model for the Beloved Disciple nor Charlesworth's theory that the two figures should be identified with each other offers a tenable solution to the problem of the relationship between these figures ... these figures are cast in entirely different manners except for their alleged close relationship to Jesus and the claims of authorship connected with them" (75). Die Unterschiede in der Charakterisierung von Thomas und dem Lieblingsjünger sind erheblich. Das, was beide Gestalten miteinander verbindet, ist vielmehr die Tatsache, dass sie jeweils eine Fiktion darstellen. Sie werden als "authorial fiction" oder als "secondary authorial fiction" bezeichnet. Diese Jünger Jesu dienen als Figuren der Beglaubigung (figures of authentification). Sowohl der Lieblingsjünger als auch Thomas erscheinen durch ihre auffallende Nähe zu Jesus als glaubwürdig. Der eine wird als besonders geliebt dargestellt, und der andere erfährt aus dem Mund Jesu geheime Worte. Dieses Bedürfnis nach besonderer Beglaubigung ist in den drei synoptischen Evangelien kaum vorhanden, dafür aber umsomehr in den späteren apokryphen Evangelien.

Im 4. Kapitel dieses Buches setzt sich Marjanen mit der spannenden Frage nach den Jüngerinnen Jesu im ThEv auseinander. Im ThEv treten Salome (Log 61) und Maria Magdalena (Log 21, 114) auf. In den Log 61 und 21 lassen sich Salome und Maria Magdalena auf ein Gespräch mit Jesus ein, das den Jüngerbegriff näher erläutert. Beide Jüngerinnen, die einen Mangel im Verständnis des Jüngerbegriffes aufweisen, werden durch Jesus belehrt. In Log 13 weisen Simon Petrus und Matthäus einen Mangel in der Erkenntnis Jesu auf. Log 114 ist das wohl bekannteste und umstrittenste Log des ThEv. Simon Petrus bittet darum, Maria Magdalena aus dem Jüngerkreis auszuschließen, denn die Frauen seien des Lebens nicht würdig. Darauf antwortet Jesus, dass er sie männlich machen wird und fordert zugleich jede Frau auf, sich männlich zu machen, um in das Königreich der Himmel einzugehen. In diesem Log ist der Gegensatz zwischen "wird von Jesus männlich gemacht" und "sich selbst männlich machen" auffallend und hat verschiedene Deutungsversuche hervorgerufen. "If the first explanation of the phrase being made/making oneself male interprets it from the perspective of its concrete application, the second and the third attempt to give a theological and sociocultural motivation for it. In fact, all explanations seem to be plausible in their own way" (101). Alle diese Erklärungsversuche unterstreichen die asketische Konnotation der Aussage. An Log 114 fällt auf, dass ein Jünger (Simon Petrus) sich an die anderen Jünger richtet. Ein Merkmal, dass im ThEv nur an dieser Stelle vorkommt. Marjanen schließt sich der Auffassung an, dass Log 114 dem ThEv später hinzugefügt wurde und dass dieses Evangelium ursprünglich mit Log 113 geendet hat. Log 113 scheint mit Log 3 eine thematische Inklusion zu bilden. Log 114 spiegelt die Situation wider, als die Rolle der Frau im religiösen Leben der Gemeinde aus welchen Gründen auch immer zu Auseinandersetzungen geführt hat. "The one responsible for adding the logion to the gospel is clearly speaking on behalf of women. He/she does so by creating a saying in which Jesus speaks for Mary Magdalene against Peter. Yet the editor of the text is either so bound by his tradition, or so alienated from the earlier terminology of the Thomasine traditions, that he/she no longer uses the neither male nor female language of logion 22 but resorts to employing the new expression, making female male, which inevitably devalues women" (103 f.).

Mit der immer wieder in der Forschung gestellten Frage, ob das ThEv überhaupt ein gnostisches Evangelium sei, beschäftigt sich Marjanen in aller Ausführlichkeit im 5. Kapitel dieses Buches. Zu Beginn dieses Kapitels wird darauf hingewiesen, dass es nicht möglich ist, den Begriff Gnosis exakt und umfassend zu definieren. Um die gestellte Frage beantworten zu können, untersucht Marjanen im ThEv die Bedeutung und Stellung der Welt, ein Thema, das in der Gnosis von großer Bedeutung ist. Die Welt erfährt im ThEv nicht nur eine durchweg negative Beurteilung als eine wertlose und bedrohliche Realität, sondern vor allem die Logien 12 und 89 weisen eine positive Konnotation auf. Die Welt gilt als ein Stadium, in dem heilbringende Ereignisse und Aktionen geschehen. Das Verhältnis dieses Evangeliums zur Welt ist somit zweideutig. Eine Beobachtung, die in der Forschung bislang nicht gebührend beachtet wurde. Die Vorstellung von der Welt, die das ThEv aufweist, wird mit der der Weisheit Salomos, des JohEv, des PhilippusEv und des Johannesapokryphons verglichen. Bezüglich der Sicht von der Welt ist das ThEv dem JohEv am nächsten. Schließlich liefert Marjanen folgende differenzierte Antwort auf die oben gestellte Frage: Wenn eine Schrift zur gnostischen wird, weil sie zwischen einem guten, ewigen Gott und einem vergänglichen, böswilligen Schöpfer unterscheidet, wie das im PhilippusEv oder Johannesapokryphon der Fall ist, dann lautet die Antwort nein, und das ThEv ist kein gnostisches Evangelium. Wenn es aber feststeht, dass eine Schrift die Welt als böse und im Gegensatz zum göttlichen Reich betrachtet und dadurch diese Konzeption von der Welt gnostisch wird, ließe sich die Frage mit ja beantworten. Schließlich befinden sich das ThEv und das JohEv bezüglich der Sicht von der Welt auf dem Weg von der jüdischen Weisheitstradition in Richtung einer gnostischen Vorstellung.

Das 6. Kapitel des Buches befasst sich mit der Frage, ob das ThEv ein enkratitisches Evangelium sei. Uro fokussiert in diesem Beitrag vor allem die Forderung nach sexueller Askese. Untersucht werden dabei erstens jene Logiengruppen, die die familiären Beziehungen ablehnen, zweitens diejenigen, in denen es um die Rückkehr zur ursprünglichen Einheit geht, und drittens diejenigen, die das Postulat der Einsamkeit hervorheben. Auf Grund der untersuchten Sprüche gelangt der Vf. zu dem überzeugenden Ergebnis, dass das ThEv gegenüber der sexuellen Askese eine vielmehr zweideutige und weniger enkratitische Haltung einnimmt, als bisher in der Forschung angenommen wurde.

Im letzten Kapitel schließlich, das von Marjanen stammt, wird nach dem Verhältnis des ThEv zu den jüdisch-religiösen Geboten gefragt. Die Anhänger der Thomasgemeinde brauchen weder zu beten, zu fasten, noch Almosen zu geben. Auch die Speise- und Reinheitsvorschriften, die Einhaltung des Sabbats und die Beschneidung spielen keine Rolle mehr. Alle diese Gebote werden im ThEv radikal uminterpretiert. Juden und Judenchristen, die in die Thomasgemeinde aufgenommen werden möchten und für die einst diese Gebote von Bedeutung waren, sollen durch diese Uminterpretation erkennen, dass nur die Selbsterkenntnis und die Ablehnung der Welt und ihrer Werte zum Heil führt.