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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1263–1265

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tsuji, Manabu

Titel/Untertitel:

Glaube zwischen Vollkommenheit und Verweltlichung. Eine Untersuchung zur literarischen Gestalt und zur inhaltlichen Kohärenz des Jakobusbriefes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. X, 244 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 93. Kart. DM 118,-. ISBN 3-16-146620-9.

Rezensent:

Hubert Frankemölle

Die vorliegende Arbeit war ursprünglich eine evang.-theologische Dissertation an der Universität Bern. Sie reiht sich ein in eine Vielzahl von Monographien und Kommentaren im Kontext einer Wiederentdeckung des Jakobusbriefes (vgl. den Literaturbericht von M. Konradt, in: VF 44, 1999, 54-78). Laut Vorwort ist die Fragestellung eng mit der Geschichte der Kirche Japans, der Heimat des Vf.s, verbunden; geboten wird allerdings eine historisch-kritische, textpragmatisch orientierte Arbeit, bei deren Lektüre der Rez. an keiner Stelle fernöstliche Perspektiven entdeckte.

Didaktisch präsentiert die Arbeit sich sehr leserfreundlich, da sie nicht nur klar strukturiert ist, sondern auch die Arbeitsfelder durch einleitende Fragen präzise angibt und nicht nur am Ende im 6. Kapitel die Ergebnisse und Konsequenzen der ganzen Arbeit zusammenfasst, sondern dies auch bei jedem einzelnen Unterkapitel tut. So verliert der Leser den "roten Faden" nie aus dem Blick.

Leitend sind die Fragen: "Was veranlasste die Entstehung des Jak, und wozu wurde er abgefasst?" (1.200) Beantwortet werden diese Fragen von der Situation der Adressaten her; sie sieht der Vf. - wohl zu einseitig - als Schlüssel für ein angemessenes Verständnis des ganzen Briefes. Zum Einzelnen: Noch einmal (in Widerspruch zur bekannten These von Martin Dibelius von 1921) begründet der Vf., dass der Brief formal und thematisch kohärent ist; näherhin rezipiert Jak die frühjüdische Tradition des Diasporabriefs (vgl. 2Makk 1,1-9; 1,10-2,18; Jer 29; EpJer u. a.), dessen Gattung der Vf. auch in Apg 15,23-29, 1Petr u.a. im christlichen Bereich glaubt finden zu können. Die pseudepigraphische Angabe des Herrenbruders Jakobus als Verfasser kann in diesem Kontext ebenso begründet werden wie die Funktion des Briefes, die inmitten der heidnischen Umwelt Glaubenskrisen durchleidenden Christen zur Geduld und zum Festhalten am Glauben zu ermahnen. In Kap. 2 werden die inhaltliche Kohärenz und das Gesamtthema des Jak erarbeitet. Wie heute üblich, geht der Vf. von einer erkennbaren Disposition aus: Einleitung (1,1-27) und Schlussteil (5,7-20) umschließen den Hauptteil (2,1-5,6), wobei Jak bereits in der Einleitung als Gesamtthema des Briefes "die Versuchungen durch die Begierde und der Gehorsam gegen Gott" angibt (72.98.201). Näherhin versteht der Vf. die Versuchungen im Hauptteil in einer dem Willen Gottes zuwiderlaufenden Assimilation der Christen an die Welt (ebd.), die - so die Ergebnisse des 4. Kapitels - darin begründet ist, dass es Konflikte auf Grund der sozial sehr inhomogenen Gemeinde gibt, zu der mittellose Arme ebenso gehören wie Großkaufleute (2,1-26; 4,13-5,6), und zum anderen innergemeindliche Konflikte (3,1-4,12) festzustellen sind, wobei Jak nicht nur grundsätzlich jeden Reichtum an sich verwirft (Warum fordert er dann zur Barmherzigkeit an die Armen in 2,13.16 auf?) und die Lehrer unverkennbar kritisiert, da sie sich - so die These - im Wissen der Überlegenheit ihrer Weisheit auf die Seite der Wohlhabenden gestellt haben. Entgegen dem Wortsinn in 3,1: "Werdet nicht so zahlreich Lehrer" geht es nach dem Vf. nicht um das Lehrer-Werden, sondern um das Lehrer-Sein (175 f.).

Hier sehe ich deutliche Grenzen, alle Probleme des Jak aus der Adressatensituation und der sozialen Struktur von Arm und Reich zu interpretieren. Dies gilt auch für das Thema in 2,14-26, das ebenfalls auf den Kontrast Arme - Reiche reduziert wird (73.77f.92). Eine kursorische Textlektüre des gesamten Jak auf ca. 50 Seiten lässt notwendigerweise mehr Fragen offen als beantwortet werden, was nicht gegen die Betrachtung eines Textes unter bestimmten Perspektiven spricht, wenn man sich denn der Begrenzung bewusst ist.

Bei der Frage nach der rezipierten Tradition bzw. nach dem theologischen Hintergrund des Jak in Kap. 3 vertritt der Vf. eindeutig die These, dass Jak seine zentralen Ideen aus der jüdischen Tradition übernommen hat, wobei er voraussetzt, dass er vor allem mit der Weisheitstradition gut vertraut ist, meint aber, dass der Weisheitsbegriff in Jak "nur eine untergeordnete Rolle" spielt (116). Hätte er beachtet, dass es in den frühjüdischen Weisheitsschriften primär um das tragfähige sinnvolle Tun weisheitlichen Handelns und nicht um den "Inhalt der Weisheit" an sich geht, wäre er vermutlich zu einer stärkeren weisheitstheologischen Auslegung gekommen. Nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt fehlt mir der philologisch-exegetische Biss. Nicht nur von ihm, sondern von manch neueren Verfassern von Aufsätzen und Monographien zum Jak wünschte ich mir eine differenziertere, semantisch orientierte Auseinandersetzung mit der Wortfeld-Analyse des Rez., die mich zu einer dezidiert weisheitstheologischen Auslegung des Jak als Brief geführt hatte. Das stärker kursorische Interpretieren von Texten kann ohne Zweifel auch zu neuen Einsichten führen, wobei ich allerdings die Reserviertheit des Vf.s hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Jesusüberlieferung für die theologische Konzeption des Jak (118-132.201 f.) für unangemessen halte. Auch hier stelle ich eine überzogene Einseitigkeit fest. Die Rekonstruktion des Gemeindebildes stimmt nach dem Vf. mit dem der Gemeinden im paulinischen Missionsbereich überein, wo ebenfalls die weltliche Verhaltensweise der reichen Christen nicht selten zu einem Problem wurde (149-171). Kap. 2 liest der Vf. als antipaulinischen polemischen Text (187-199), wobei er voraussetzt, dass Jak literarisch "von Röm (bzw. auch von Gal)" abhängig ist (202). Daraus folgt: "Jakobus polemisiert gegen diese Lehre selbst, nicht etwa gegen einen ,entarteten' Paulinismus ... Er nimmt in der Rechtfertigungslehre des Paulus ... ein Nein zu den Werken des Menschen überhaupt wahr" (202). Hat Jakobus nur Röm 3, nicht auch die ethischen Kapitel Röm 12-15 gelesen?

Das Buch reizt mit seiner eindeutigen These, alle angesprochenen Probleme im Jak aus den innergemeindlichen Konflikten von "Arm und Reich" in Verbindung mit einer polemischen Auseinandersetzung mit der Theologie des Paulus auszulegen, zu Widerspruch, da die bereits im 1. Kap. des Jak angesprochenen thematischen Aspekte vielfältiger sind. Auch ich lese den Brief textpragmatisch im Hinblick auf eine konkrete, aber allgemein typische Situation christlicher Gemeinden, wüsste aber gern, worin die immer wieder zitierte Assimilationstendenz der christlichen Gemeinden an die Verhaltensnormen der "Welt" bzw. die "Verweltlichung" besteht, wenn dieser lebensgeschichtliche, nichtchristliche Kontext nicht thematisiert wird. Auch bei einer Auseinandersetzung mit meiner theozentrischen Deutung des Jak (54) wünschte ich mir nicht nur Gegenmeinungen, sondern eine kritische, textorientierte Auseinandersetzung. Von der Anlage des Buches war eine dezidierte Textorientierung mit detaillierten Auslegungen wohl nicht geplant. So ist das Buch zwar anregend, ist oft sehr selbstsicher formuliert (etwa 193), erfüllt aber nicht alle Wünsche hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes. Dies gilt nicht nur für das im Buch erneut breit diskutierte Kontext- und Situationsverbot, nimmt man die gegenwärtige Linguistik zum Maßstab.