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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1259–1261

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rhoads, David, and Kari Syreeni [Eds.]

Titel/Untertitel:

Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1999. 298 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl.Series 184. Lw. £ 55.-. ISBN 1-84127-00-40.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Die vorliegenden Studien sind die Frucht einer vierjährigen Zusammenarbeit zwischen Kari Syreeni (Helsinki) und seinen Mitarbeitern sowie David Rhoads (Chicago). 1994 wurde in Helsinki ein Forschungsprogramm unter dem Thema "Frühjüdische und christliche Kultur und Literatur" (Leitung Heikki Räisänen) aufgelegt, aus dem das skandinavisch-amerikanische Projekt "The Gospels as Stories" hervorging.

Das Buch enthält acht umfangreiche Beiträge der sieben Mitglieder dieser Forschungsgruppe. Sie befassen sich mit verschiedenen Aspekten der Frage, wie erzählte Figuren in den Evangelien charakterisiert werden, und leisten auf diese Weise einen konstruktiven und innovativen Beitrag zur Anwendung narratologischer Analyseverfahren auf biblische Texte. Dabei wird eine erfreuliche Vielfalt der Perspektiven und Ergebnisse sichtbar. Zugleich enthalten die Beiträge regelmäßig gute Einführungen oder kritische Reflexionen zu den jeweiligen methodischen Teilaspekten. Als - im Blick auf die spezielle Thematik - richtungsweisende Vorarbeiten sind F. W. Burnett, Characterization and Reader Construction of Characters in the Gospels, Semeia 63, 1993, 1-28 und J. A. Darr, On Character Building: The Reader and Rhetorik of Characterization in Luke-Acts, Louisville 1992 zu nennen. Das Autorenregister ist im Blick auf Darr zu korrigieren.

Der einführende Aspekt macht das Buch auch für Leser wertvoll, die mit erzähltextanalytischen Perspektiven bisher wenig Erfahrung hatten. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf den das Buch einleitenden und seinen Untertitel kommentierenden Beitrag von Petri Merenlahti und Raimo Hakola einzugehen ("Reconceiving Narrative Criticism", 13-48). Hier werden klare Linien im Blick auf die forschungsgeschichtliche Karriere narratologischer Verfahren gezogen, ihre Anwendung auf neutestamentliche Texte mit hinreichendem Problembewusstsein bilanziert und der notwendige Zusammenhang mit der historisch-kritischen Methodik thematisiert. Es zeigt sich eine wichtige Forschungsaufgabe, die nur im historischen Erfassen antiker Erzählkonventionen zu lösen ist - vor dem Hintergrund entsprechender Enzyklopädien und ideologischer Hintergründe sowie dem Umgang mit Quellen und Traditionen. Nur so wird die Dialogizität und Mehrstimmigkeit der Texte als Ausdruck der Vielgestaltigkeit und Kommunikativität urchristlichen Kerygmas erkennbar; nur so lassen sich historische, soziologische u. ä. mit literarischen Perspektiven zu inklusiven oder zumindest kooperativen Analyseverfahren verbinden- und nur so wird der Tatsache Rechnung getragen, dass wir es im Blick auf die Evangelien mit fiktionalen Texten nichtfiktionaler Referenz zu tun haben (vgl. dazu die Überlegungen von Syreeni 106 ff. und Rhoads 268 f.). Ebenso nachdrücklich ist auf den abschließenden Artikel von David Rhoads hinzuweisen ("Narrative Criticism: Practices and Prospects", 264-285).

Hier werden nicht nur grundlegende narratologische Einsichten gebündelt und der gegenwärtige Forschungsstand markiert, sondern auch wichtige Perspektiven künftiger Arbeit umrissen. Rhoads setzt sich mit Kritikern des narrative criticism auseinander und widmet sich dann eingehend der Frage methodischer Integrationsmöglichkeiten. Abschließend werden grundsätzliche Fragen zum Zusammenhang von narratologischer Interpretation und hermeneutischer Ethik gestellt. Erneut wird deutlich, dass es auch in narratologischer Hinsicht keinen methodischen Monismus geben kann. Vielmehr ist künftig das Zusammenspiel nicht nur mit diachronen Analyseverfahren, sondern auch mit rezeptionsästhetischen, rhetorischen und weiteren literaturtheoretischen und wissenssoziologischen Methoden (zu orality criticism, performance criticism u. a. vgl. 276-282) erforderlich. Die Beiträge des Bandes werden in diesem Epilog zugleich beiläufig kommentiert. Sie können hier nicht im Einzelnen ausführlich gewürdigt werden.

In ganz grundsätzlicher Weise äußert sich Petri Merenlahti in "Characters in the Making: Individuality and Ideology in the Gospels" (49-72), indem er die textuellen Spannungen zwischen individuell gezeichneten Charakteren und dem ideologisch bestimmten Zwang zur Einheitlichkeit reflektiert. Outi Lehtipuus Beitrag ("Characterization and Persuasion: The Rich Man and the Poor Man in Luke 16.19-31", 73-105) zeigt exemplarisch, wie die Charakterisierung der Figuren die Kommunikationsabsicht der Parabel (und vergleichbarer lukanischer Texte) unterstützt. Kari Syreeni ("Peter as Charakter and Symbol in the Gospel of Matthew", 106-152) erarbeitet anhand der matthäischen Petrusfigur und in Auseinandersetzung mit R. Scholes und R. Kellogg (dies., The Nature of Narrative, Oxford 1966) drei analytische Ebenen: Die Welt der Erzählung (zu ihr gehören alle intra- und intertextuellen Bezüge), die symbolische Welt (in ihr realisiert sich der ideologische Diskurs, an dem der Text partizipiert) und die "reale Welt" (Petrus als historische Person - Voraussetzung und indirekter Bezug des Textes). Damit wird es möglich, die verschiedenen, auch widersprüchlichen Facetten des matthäischen Petrusbildes zu unterscheiden und ihre Aussageabsichten zu beleuchten, ohne ihre Einheit im Text zu zerstören. Talvikki Mattila steuert einen Beitrag aus feministischer Perspektive bei ("Naming the Nameless: Gender and Discipleship in Matthew's Passion Narrative", 153-179), Arto Järvinen referiert über die Charakterisierung Jesu in der Logienquelle ("The Son of Man and His Followers: A Q Portrait of Jesus", 180-222). In rezeptionsgeschichtlicher Perspektive verfolgt Raimo Hakola, wie der von Jesus erweckte Lazarus in späteren literarischen Texten "charakterisiert" wurde ("A Character Resurrected: Lazarus in the Fourth Gospel and Afterwards", 223-263) - und das gerade auf Grund der narrativen Inkonsistenzen (bzw. "Leerstellen") im Ursprungstext, die gleichsam die vielen "Leben" des Lazarus bestimmten. Leider ist hier über das ausgezeichnete Buch von J. Kremer, Lazarus: Die Geschichte einer Auferstehung, Stuttgart 1985 (im Autorenregister ist hier die S. 236 für die Erstzitation zu ergänzen) hinaus wenig Neues zu erfahren.

Überhaupt wird in den einzelnen Beiträgen des Bandes die Frage nicht immer befriedigend beantwortet, worin denn nun die konkreten Schritte zur Charakterisierung erzählter Figuren bestanden - und welche zeitgenössischen Konventionen dafür beansprucht wurden. Das Verhältnis zwischen aufwendiger methodischer Reflexion und narratologischer Textarbeit entspricht bisweilen nicht unbedingt dem interpretatorischen Ertrag. Gleichwohl bietet dieser Band einen wichtigen Beitrag zur erzähltextanalytischen Forschung an den Evangelien und einen innovativen Anstoß, der weiter zu verfolgen ist.