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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1256–1259

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Prostmeier, Ferdinand R.

Titel/Untertitel:

Der Barnabasbrief. Übers. u. erkl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 648 S. gr.8 = Kommentar zu den apostolischen Vätern, 8. Lw. DM 208,-. ISBN 3-525-51683-5.

Rezensent:

Gottfried Schille

Nach Hans Windischs Kommentar zum Brief von 1920 und einer mehr nach den Traditionen fragenden Bearbeitung durch K. Wengst 1984 ist im deutschsprachigen Raum keine neuere Kommentierung des Barnabasbriefes mehr erfolgt. Das allgemeine Interesse ist jedoch durch fremdsprachige Kommentare (R. A. Kraft, 1965, englisch, P. Prigent und R. A. Kraft, 1971, französisch und F. Scorza, Barcellona 1975, italienisch) angezeigt. Umso freudiger nimmt man das neue Werk in die Hand. Nach dem Vorwort wurde es unter Georg Schmuttermayr als Habilitationsschrift angenommen und auf Anregung von N. Brox in die Reihe der Kommentare zu den Apostolischen Vätern gestellt.

Der erste Eindruck ist der einer gewichtigen Breite, deren weitere Expansion - wieder nach dem Vorwort - einzig durch Tochter Rut verhindert worden ist. Das werden Benutzer und Käufer zu schätzen wissen. Vor uns liegt ein Kommentar, der nach älteren Maßstäben am besten in die Meyersche Kommentarreihe gepasst hätte. Seine Kennzeichen und Stärken sind die ausgiebige Diskussion der Textkritik, die nicht nur die Einleitung (von 134 Seiten sind mehr als die Hälfte diesem Gegenstand gewidmet), sondern stets auch die kommentierten Rubriken als erster Schritt bestimmt, und die Linguistik. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass das Interesse an linguistischen Fragen mehr auf eine unerwartet breite Diskussion der grammatischen Figuren hinausläuft; die eingangs mit einschlägigen und auch neu formulierten Termini überhäufte Diskussionsführung geht je länger je mehr ins normale grammatische Vokabular über. Wenn man bedenkt, dass der Ertrag auf einige wenige Beobachtungen hinausläuft, weil sich die Intensität des Fragens auf die Diskussion der Satzanschlüsse richtet, so dass sich, wie in einem katechetischen Brief gar nicht anders zu erwarten, alles in ständigen Wiederholungen ergeht, hätte man gut und gern auf die Hälfte des bedruckten Raumes verzichten können. Eine zusammenfassende Diskussion der hermeneutischen Auslegungsmethode des Briefes im Rahmen gleichzeitiger jüdisch-frühchristlicher Verfahrensweisen hätte eine Unzahl unnötiger Wiederholungen vermeiden können. Hier stellt sich die Frage, ob die Linguistik wirklich so viel Neues erbringt, dass man einen Kommentar damit belasten darf.

In den Einleitungsfragen ist gegenüber dem Stand von 1920 so gut wie nichts verändert. Weder betreffs der Abfassungszeit (um 140) noch im Blick auf den Verfasser ergeben sich neuartige Gesichtspunkte. Die Bezeichnung des Verfassers als "Lehrer" steht zur Debatte. "Weil erstens die nachdrückliche Abhebung des Schreibens von Äußerungen irgendwelcher ,Lehrer' (Barn 8; 4,9) Teil der Verfasserprätention ist, enthält das Schriftstück doch authentisch die apostolische Überlieferung, und weil zweitens der Vf. sich regelmäßig mit didaktischer Emphase an seine Leser richtet, ist es sehr wahrscheinlich, dass er selbst ein didaskalos war" (131, nach W. Bousset u. a.; auch 149 f.). "Die Weigerung, als didaskalos zu gelten, ist daher sowohl Befolgung des Gebotes Jesu als auch Konsequenz der antijüdischen Polemik im Barn" (160, Anm. 98, nach Mt 23, 8.10 und im Blick auf Rabbi Aqiba). Die Selbstverständlichkeit, mit welcher hier zumal die jüdisch-rabbinische Tradition als bekannte Größe behandelt wird, befremdet, nachdem J. Neusner dagegen kritische Bedenken angemeldet hat. Auch die historische Zuweisung zielt letztendlich darauf, den Brief traditionell (150 f. nach Clemens Alexandrinus) einzuordnen. Dass Barnabas, der zeitweilige Begleiter des frühen Paulus, als einer der Siebzig gilt, wird ohne Rückfrage in den Raum gestellt. Auch die historischen Fragen erfahren also keine breitere Diskussion. Dass der Brief erst zum Thema Fasten kommt (Barn 3), nachdem er über Opfer und Feste gehandelt hat (2,4 ff.), wird mit einer Hinkehr zur gegenwärtigen Diskussion erläutert (182). Das Judentum habe sich nach dem Jüdischen Krieg besonders auf die Fastenordnungen spezialisiert. Das Abheben auf den Tempeldienst deute "nicht auf eine gegenwärtige, durch den in 16,4 vielleicht angedeuteten Neubau des Tempels zu Jerusalem akute Gefährdung der Leser" hin (ebd.). "Die Fasten" sind (Überschrift, 182) "das Beispiel für ta enestoota". Das ist einerseits ein unbewiesener Rückschluss aus der angenommenen historischen Situation und andererseits eine vorzeitige Kommentierung von Barn 17,2 (ähnlich 198 usw.), wo der Autor des Briefes - ganz im Gegensatz zu P., der die Sache als bereits erledigt darstellt - es sich mit Rücksicht auf die zu geringe Auffassungsgabe der Leser versagt, über ta enestoota und das Künftige zu schreiben. Offenbar sind die aus der nicht hinterfragten Religionsgeschichte erschlossenen Momente für P. gewichtiger als der zu kommentierende Text.

Auch sonst stößt man immer wieder auf unglückliche Formulierungen. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf S. 172, wo das Verhältnis zum Alten Testament mit der fragwürdigen These eingeleitet wird: "Was also will die Schrift? Dies exemplarisch aufzuzeigen, ist das Anliegen des Vf.s". Es ist doch gerade umgekehrt: Für den Autor steht die Geltung der heiligen Schrift der Juden fest. Diskutiert wird nur, ob das Alte Testament für die Juden oder die Christen Geltung besitzt, und was sie im Einzelnen für Erkenntnisse bezüglich der christlichen Glaubensfragen zulässt. Richtig stellt P. dies unter "zweite Absicht" fest. Die jüdischen Übungen geraten hierbei in die Funktion einer "vorzüglich geeignete[n] Kontrastfolie". Mir sind auch sonst textinterne Spannungen aufgefallen, die durch unglückliche Formulierungen ausgelöst werden (Beispiel 177, Anm. 24, wo die prophetische Kritik von Jeremia, Hosea und Amos am veräußerlichten Kult als "mit ethischen Ersatzforderungen" verbunden gilt).

Falsch ist S. 278 die Kommentierung der Milch-Honig-These Barn 6,16, die einfachhin dem Text folgt. Sagt Barn 6,16a "zuerst wird das neugeborene Kind mit Honig, dann mit Milch am Leben erhalten", so sagt P., das Wort werde "mit der für Neugeborene typischen Nahrung zusammengestellt". Das ist neu, aber interessant. Denn Honig ist doch nicht die Nahrung der Säuglinge, und Milch allenfalls ein Ersatz! Hier fällt der Kommentator ganz einfach auf die verfehlte Aussage des kommentierten Textes herein. Dabei zeigt dieser Text, kritisch betrachtet, wie die Milch-Honig-Allegorie entstanden ist, nämlich durch eine Kombination der Taufe (gegen L. W. Barnards Hinweis auf den taufliturgischen Hintergrund wehrt P. sich in 272, Anm. 44 ausdrücklich), wo Honig und Milch schon sehr frühzeitig gereicht zu werden pflegte, mit den Barn 6 anvisierten Schöpfungsaussagen. Nicht die Kindernahrung ist gemeint, sondern die Taufe hat in das gelobte Land geführt, wo Milch und Honig fließen (Barn 6!), weshalb Honig und Milch zu Elementen der (Erwachsenen-)Taufhandlung werden konnten. Nur durch die Verwechslung des Lexems "Neugeborene", was zunächst Wiedergeborene meint, mit der normalen Geburt kam es zu der fehlerhaften Aussage Barn 6,16a! Ein moderner Kommentar sollte dergleichen antike Fehler nicht nachmachen, sondern aufdecken.

Ein weiterer Grundzug dieses Kommentars ist der Versuch, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene Frage nach der Gesamtthematik abzuweisen. Nähme man die Behauptung ernst, dass peri-Angaben jeweils einen Neuansatz signalisieren (dagegen dann 476, wo das sichtlich nicht zutrifft), wäre man auf eine Position der zwanziger Jahre zurückgeworfen (so etwa 419: "mittels Stichwortverknüpfung" werde "Barn 11 in den Gesamtkontext des Schreibens" eingeordnet; ähnlich 346). Es ist ja merkwürdig, dass Barn sogleich in Kap. 2 mit einem selbst nach P. überholten Thema beginnt und in 17,2 von Auslassungen redet, obgleich er mit 18 ff. die traditionelle Zweiwegelehre anbindet (hier übrigens im Gefolge einer in den Paulinen bezeugten urchristlichen Übung, wonach den grundsätzlichen Ausführungen die ethischen Mahnungen zu folgen pflegten). P. leugnet dies ausdrücklich: der Autor bestimme "den Inhalt seines Schreibens als authentisch und vollzählig" (526) und (ebd.) hebe "sein Schreiben von jedweder Lehrmeinung" ab. Er steht, sollte man folgern, in keinerlei Konnex zur innerchristlichen Lehrtradition. Das will P. nicht sagen. Aber selbstverständlich praktiziert er es durchweg, indem er die synoptischen Parallelen, um nur ein Beispiel zu nennen, kaum zu Wort kommen lässt, sondern einzig die Relation zum Alten Testament bedenkt.

Auch die Möglichkeit, dass der Brief etwa gegen die Gefahr eines wiedererstarkenden Judentums geschrieben sein könnte, das zwar um 140 in Palästina praktisch ausgelöscht war, aber anderenorts im Zuge restaurativer Selbstbesinnung für die Christen gefährlich hätte werden können (so die These von Reidar Hvalvik, The Struggle for Scripture and Covenant, Tübingen 1996, bei P. im überdimensionalen Literaturverzeichnis und sonst nicht genannt), wird nicht verfolgt. S. 522 wird dagegen erwogen, ob etwa die Abwehr "anderer Christen", die zum Beispiel dem Sabbat die im Judentum übliche Geltung beimaßen, im Hintergrund stehen könne. Die These des Briefes sei es, die ganze Schrift einzig im Blick auf Christus und die Christen hin auszulegen (524). Sie ist "die Schrift der Kirche". "Alles, was ,Juden' glauben und aus Glauben tun, ist daher - aus der Sicht des Vf.s des Barn - im günstigsten Fall prophetischer Hinweis auf das Christusereignis und die Kirche, schlimmstenfalls Blasphemie." Für Barn 15 ist "das Halten des Sabbats mit dem Christsein unvereinbar. Kirche und Judentum schließen sich aus." Ob die Auslegung an den von P. genannten Kernstellen diese Frontstellung allerdings trägt, möchte ich bezweifeln. So steht letztlich die Frage nach dem, was den Brief zusammenhält, weiter offen. Das Buch endet mit Verzeichnissen (578-648).

Leider ist der Druck nicht fehlerfrei. In einigen Abschnitten kommt es bis zu drei Druckfehlern pro Seite. Besonders gravierend ist auf S. 258 die fehlerhafte Versangabe I,Ib statt 10b und S. 283 die falsche Seitenrubrizierung. Schließlich weiß ich mit dem Lexem "krude" S. 402 nicht viel anzufangen. Auch in einem linguistisch angelegten Buch würde ich lieber konventionell verstehbare Begriffe lesen.