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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1254–1256

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Miler, Jean

Titel/Untertitel:

Les Citations d'Accomplissement dans l'Évangile de Matthieu. Quand Dieu se rend prÈsent en toute humanitÈ.

Verlag:

Roma: Editrice Pontificio Istituto Biblico 1999. 420 S. gr.8 = Analecta Biblica, 140. Kart. Lit. 50.000. ISBN 88-7653-140-8.

Rezensent:

MoisÈs Mayordomo

Seit der in vielerlei Hinsicht herausragenden Studie von George M. Soares Prabhu (The Formula Quotations in the Infancy Narrative of Matthew, Analecta Biblica 63; Rom, 1976) ist das umstrittene Feld der matthäischen Erfüllungszitate bzw. des matthäischen Schriftgebrauchs nicht mehr zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Monographie gemacht worden. An Literatur in Form von Artikeln und Exkursen herrscht zu dieser Frage indessen wahrlich kein Mangel vor. Wenn sich jetzt Jean Miler, Dozent für Bibelexegese an der jesuitischen Fakultät "Centre SËvres" in Paris, in seiner 1997 unter der Leitung von Jean-NoÎl Aletti verfassten Dissertation erneut an dieses Thema wagt, dann steht er vor der schweren Aufgabe, aus Forschungssackgassen zu führen und/oder den Gegenstand unter ein neues Licht zu stellen. Dafür lassen sich im Wesentlichen zwei Wege beschreiten: Entweder versucht man, alte Fragen mit einer verfeinerten herkömmlichen exegetischen Methodik noch genauer und besser als die Vorgänger zu untersuchen, oder man wählt einen neuen methodischen Zugang, der entsprechend auch zu neuen Fragen und Thesen führt. M. wählt im Großen und Ganzen den letzten Weg: Statt die klassischen Fragen weiterzuverfolgen - etwa die nach der Abgrenzung zwischen Redaktion und Tradition in der stereotypen Einleitungsformel "damit erfüllt werde, was gesagt wurde durch den Propheten ...", die nach der genauen Herkunft des Wortlauts der einzelnen Zitate oder die nach dem historischen Sitz im Leben dieser Form von Schriftgebrauch in einer konkreten frühchristlichen Gemeinde -, wendet er sich vor allem narrativen Problemen zu: Welche Funktion erfüllen die Erfüllungszitate in ihrem jetzigen Erzählkontext? Welche Dynamik ergibt sich aus der Beziehung zwischen zwei Diskursen, dem ursprünglichen Zitat-Kontext und dem neuen Erzählkontext?

Unter diesem neuen Blickwinkel gelangt M. zu der Hauptthese, dass die Erfüllungszitate des Matthäusevangeliums das Ergebnis einer Deutung der betreffenden Schriftbelege in ihren ursprünglichen Kontexten und der Erzählung des Lebens Jesu durch den Evangelisten sind (9). Der Hauptteil der Arbeit (13-276) besteht darin, in relativ ausführlichen Exegesen der insgesamt zehn Belegstellen (Mt 1,22 f.; 2,15.18.23; 4,13-16; 8,17; 12,18-21; 13,35; 21,4 f.; 27,9 f.) dieser vorangestellten These eine Begründung zu verleihen. In einem letzten ausführlichen Kapitel (277-349) versucht M., die Einzelergebnisse in die Gesamtheit der matthäischen Erzählung einzuordnen und im Sinne seiner Immanuel-Theologie kohärent auszuwerten.

Die Hinwendung weg von produktionsästhetischen und streng historischen Fragestellungen hin zu einer stärker synchron ausgerichteten erzähltheoretischen Arbeitsweise ist im Hinblick auf den Gegenstand grundsätzlich nicht ohne Reiz. Sie ergibt gerade in den Einzelanalysen eine Reihe von sehr präzisen und nachvollziehbaren Beobachtungen am Text und trägt damit auch dem Erzählcharakter des Evangeliums Rechnung. Der Modus der Exegese besteht vornehmlich darin, in einem "close reading" die Bewegungen und Bezüge der Erzählung beinahe nacherzählend aufzuspüren. Durch den bewussten Verzicht auf die klassischen Problemstellungen kann den Einzelheiten der Erzählung eine besondere Aufmerksamkeit zukommen (vgl. etwa 21-23 zur Frage nach dem Referens von touto de holon gegonen in 1,22 oder 27-29 zum Problem der Bedeutung von laos in 1,21). Besonders wichtig und innovativ ist die Untersuchung der Bedeutung der einzelnen Zitate im Hinblick auf ihre temporale Vernetzung mit der ganzen Erzählung (vgl. etwa 25, 288, 356).

M. greift hier auf die Nomenklatur von GÈrard Genette, einem führenden Erzähltheoretiker, zurück und spricht von externen und internen Analepsen und Prolepsen (vgl. 23, Anm. 43 und die wichtigen Ausführungen in G. Genette, Die Erzählung, München, 1998, 32-54). Auf der anderen Seite leidet M.s Lektüre an einer Kinderkrankheit vieler textimmanent ausgerichteter Methoden: Der Interpret, der einen Gesamtüberblick über jede Einzelheit der Erzählung hat, kann kaum der Versuchung widerstehen, die Erzählung als eine einheitliche und vollkommen in sich strukturierte Größe zu betrachten (349: "une lecture unifiÈe de l'Èvangile de Mt"), in der sich am Ende alle Elemente kohärent einfügen und alle Ambiguitäten auflösen lassen. Die metanarrativen Analysen auf den Seiten 306-330 pressen z. B. die Kap. 5-28 in ein schematisches Korsett (5-16: ÈvÈnement-rÈactions; 16,21-20,34: annonce-rÈalisation; 21-25: ÈvÈnement-rÈactions; 26-28: annonce-rÈalisation), das viele Elemente der Erzählung über die Klinge springen lässt.

Statt mich in der Bewertung von Einzelurteilen zu verlieren, möchte ich auf ein übergreifendes Problem dieser Arbeit aufmerksam machen: M. zeigt trotz der Wahl einer erzähltheoretischen Methodik einen erstaunlichen Mangel an Theoriebewusstsein und schließlich auch an hermeneutischer Selbstre- flexion. Das kurze und sehr einfache methodische Gerüst, das sich erzähltheoretisch an A. Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation (Paris 1979) orientiert, geht von der so einsichtigen wie banalen Tatsache aus, dass durch ein Zitat Elemente aus zwei Systemen in Beziehung zueinander gesetzt werden, nämlich Autor/Text des Intertextes und Autor/Text des Zieltextes (9). Wichtige Hauptvertreter der Erzählwissenschaft, Wayne C. Booth, Seymour Chatman, GeÈrard Genette, Franz K. Stanzel und Meir Sternberg, werden zwar in der Literaturliste aufgeführt (406-8), aber wenig oder gar nicht rezipiert. Eine kritische Auswertung der aktuellen Intertextualitätsdebatte, die für die anstehende Problemstellung sicherlich sehr viel abgeworfen hätte (vgl. die knappen Hinweise in M. Mayordomo, Den Anfang hören, FRLANT 180; Göttingen, 1998, 156-162, 274-276), findet leider nicht statt, obgleich dem Autor mit der Arbeit von R. B. Hays (Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven, 1989) eine hervorragende Pionierleistung auf bibelwissenschaftlichem Gebiet vorlag; ganz zu schweigen von dem Standardwerk von G. Genette (Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M., 1993; franz. 1982), das M. nicht zu kennen scheint. Nun wird man aus dem Fehlen einer Auseinandersetzung mit einschlägiger "fachfremder" Literatur nicht gleich eine negative Bewertung ziehen müssen. Aber in diesem Fall ist dieses Manko umso bedauerlicher, weil die Betrachtung an Tiefenschärfe gewonnen hätte und so die Ausgangsthese sicherlich weiter hätte differenziert werden müssen. In dieser wichtigen und schweren Frage kann uns M. leider nicht mit einer brauchbaren Kriteriologie für den Umgang mit Zitaten und Anspielungen weiterhelfen.

Letztendlich reflektiert M. nicht über Aporien und Engpässe der eigenen Methodik. Dass die historische Frage nach außertextuellen Bezügen einen toten Winkel der Textimmanenz darstellt, bedürfte eigentlich einer hermeneutischen Begründung. Wünschenswert wäre auch eine Beschäftigung mit den konkreten rezeptionshistorischen Möglichkeiten, Zitate und deren Kontexte in einer oral geprägten Kultur ohne Zuhilfenahme von Konkordanzen und Häufigkeitstabellen zu erfassen. Nach meiner Wahrnehmung sind manche sehr tiefgründige Beziehungen, die M. herstellt, das Ergebnis einer eingehenden Beschäftigung am Schreibtisch, wären aber rezeptionshistorisch kaum glaubhaft zu machen. Das impliziert für mich jedoch nicht, dass M. einfach falsch liegt. Grundsätzlich bewirken intertextuelle Verweise einen "Sinnüberschuss", weil der ursprüngliche Kontext je nach Kompetenz und persönlicher Situation der Rezipierenden in das neue Bezugsfeld hineinreichen kann. Intertextuelle Verweise bieten als Metaphern der Abwesenheit unzählige Möglichkeiten zur Reflexion und Meditation. Wir alle sind als Leser und Leserinnen in ein Gewebe von unzähligen Intertexten verwoben, und die Fähigkeit des homo intertextualis, Texte und Kontexte in Beziehung zueinander zu setzen, sollte daher gerade in der Exegese nicht unterschätzt werden. Leider kommt die Frage nach der eigenen Rolle als "archi-lecteur" nicht in M.s Blickfeld.

Als eine Arbeit, die anhand eines exemplarischen Vorgehens in eine neue methodische Vorgehensweise einführt, kann die Studie m. E. nicht empfohlen werden. Sie gehört jedoch in die Hände von all denen, die sich mit der Frage des matthäischen Schriftgebrauchs beschäftigen und ergänzend zu den klassischen Monographien und Artikeln die Problematik aus erzähltheoretischer Sicht wahrnehmen wollen.