Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1243–1246

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Baildam, John D.

Titel/Untertitel:

Paradisal Love. Johann Gottfried Herder and the Song of Songs.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1999. 368 S. gr.8= Journal for the Study of the Old Testament Suppl. Series 298. Lw. £ 55.-. ISBN 1-84127-022-9.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Mit einigem Stolz weist der Vf. gleich in dem ersten Satz des Vorworts (9) darauf hin, dass seine Arbeit, die auf Grund einer PhD Dissertation in Deutsch von 1994 an der Universität London entstanden ist, die erste umfassende Untersuchung von Herders Beschäftigung mit dem Hohelied (Hl) sei. Herders Werk wird in neuerer Zeit wieder stark beachtet und nimmt in der Tat eine Schlüsselrolle auf verschiedenen Gebieten ein. Weil Herder, vielseitig gebildet und interessiert, sowohl Theologe wie Literat und Liebhaber der Bibel wie der deutschen Sprache war, verlangen seine Bemühungen um Übersetzung und Deutung des Hl sowohl eine literaturwissenschaftliche als auch eine theologische Würdigung. Für ein Urteil über sein Buch muss man berücksichtigen, dass der Vf. nach seinem Hauptinteresse Germanist ist, auch wenn er die theologische Literatur kennt (vgl. das reichhaltige Literaturverzeichnis), mit dem hebräischen Urtext des Hl vertraut ist und gelegentlich hebräische Begriffe aus ihm zitiert.

Textmäßig basiert die Arbeit auf den verschiedenen handschriftlichen Fassungen und Fragmenten von Herders deutschen Wiedergaben des Hl aus seinem Nachlass und den Drucken der Endfassung (vgl. 24-34; Appendix A, 306-321, stellt die Version von 1776 und die sehr verschiedene Druckfassung von 1778 ["Lieder der Liebe"] in Kolumnen einander gegenüber).

Kap. 1 (39-53) beschreibt Herders Beschäftigung mit dem Hl. Sie beginnt mit einer Rezension von 1765 und endet mit der Publikation seiner Übersetzung 1778 (vgl. den Text in: Sämmtliche Werke, ed. B. Suphan, Berlin 1877 ff., Bd. VIII, 485-588). In diesen Jahren hat Herder in wiederholten Anläufen nach einer adäquaten Wiedergabe des Textes gesucht, wobei ihn letztlich Luthers Übersetzung (Appendix B, 322-327) trotz seines Ausgehens vom Urtext stark mitbestimmt hat.

Kap. 2 (54-101), ein tragendes Kapitel, behandelt Herders Zugang zur Dichtung und der Bibel in seiner Bedeutung für das Verständnis des Hl. Hier geht es zunächst um die Rezeption zeitgenössischer Philosophie bzw. Theologie. Genannt werden Rationalismus/Neologie, Empirismus - Hamann wird ihm seltsamerweise zugeordnet (57) - und Pietismus. Erwähnt werden außerdem R. Lowth (De sacra poesi Hebraeorum), Hamann, wobei allerdings recht isoliert der poetologische Aspekt notiert, der theologische vollkommen übergangen wird, Winckelmann und Klopstock. Anschließend geht es um Herders Eintreten für die Wiederbelebung der deutschen Sprache, aber auch seine Beschäftigung mit Shakespeare, (Pseudo-) Ossian, Homer und den Griechen.

Leser dieser Zeitung wird besonders der Abschnitt "Herder's Reception of the Bible" (90-97) interessieren. Zuzugeben ist, dass ein Verständnis des Theologen Herder nicht leicht ist. Es ist richtig, dass ihn die Bibel als Literatur, als Ausdruck des Volksgeistes des hebräischen Volkes, der sie ihre Entstehung verdankte, in ihren Bann zog, und dass sie nach seiner Meinung als menschliches Buch menschlich gelesen werden müsse. Deshalb ist es auch richtig, dass er die orthodoxe Inspirationslehre mit ihrer Annahme einer unmittelbaren göttlichen Verfasserschaft der Schrift ablehnte. Dennoch ist es nicht zutreffend, Herder eine säkulare Sicht zuzuschreiben.

Wie die etwa gleichzeitig erschienene Untersuchung C. Bultmanns (Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999) an Herders Exegese von Genesis 1 gezeigt hat, war vielmehr für Herder das offenbarungstheologische Anliegen für die Deutung der biblischen Texte zentral. Unter Einbezug des romantischen Ästhetizismus, der Einfühlung in den poetischen Charakter der Texte, war doch die lutherische Grundauffassung für ihn bestimmend, dass uns im Menschenwort der Bibel - und in dieser Weise nur dort - das Gotteswort entgegentritt. Von daher gesehen, werden manche Aussagen des Vf.s direkt falsch, etwa die: "His reading of it [der Bibel] was a kind of secularizing revelatory pantheism, poetic and humanistic" (91) oder: Herder habe die Sicht zurückgewiesen, "that it contained any revelation different from that contained in other similar writings" (62). Herder säkularisierte nicht (vgl. auch 97), er war auch kein Pantheist, wenn er in der Schöpfung den Schöpfer zu erkennen glaubte. Andererseits hielt er an der Bibel als der Urkunde der Offenbarung fest, so dass die Aussage auch nicht zutrifft: "All things were revelation, so there was no need of a special, supernatural revelation" (ebd.). Übertragen verwendet, hilft vielleicht am besten die (johanneische) Formulierung von der Fleischwerdung des Wortes diese auch wieder exklusive Bezugnahme auf die Bibel zu interpretieren. Sie nahm eben nicht dieselbe Stellung ein wie Homer, Ossian und die damals populäre Reiseliteratur (gegen Vf., 95) und war auch nicht "simply the literature of the Hebrews". Dies ist auch gewiss der Grund dafür, dass Herder das biblische Hl endgültig nicht, wie ursprünglich vorgesehen, einfach unter die Sammlung der Volkslieder eingereiht, sondern ihnen eine besondere Schrift gewidmet hat. Freilich legt eine isolierte Betrachtung der Hl-Interpretation Herders ein solches Missverständnis nahe, das auch in der häufigen Isolierung der literaturwissenschaftlichen Aspekte seines Lebenswerks gängig ist. Denn gerade hier bleibt Herder eine nähere Erklärung seiner theologischen Wertung des biblischen Textes schuldig, die ihm anscheinend selbst der ästhetische Zugang verstellt.

Diesen Aussagen des Vf.s können andere gegenübergestellt werden, etwa über "poetry as the vehicle of divine revelation" (97) oder die Zitate aus Herders "Vom Geist der Ebräischen Poesie" (1782-83), wo dieser klar zwischen Gottes eigener Poesie oder "Tempelpoesie" und der Poesie der Griechen sowie Ossians unterscheidet, die er im Vergleich mit der Bibel als "ohne Sonne, ohne Gott, ohne Zweck" abwertet (99). Vgl. auch 177: "For him, the Bible was not only a human book ..., it also spoke with divine authority, and it was relevant for all time". So bleibt das Urteil des Vf.s unsicher und schwankend. Freilich, Herder macht es seinen Interpreten nicht leicht!

In Kap. 3 (102-126) ist der Vf. wieder stärker auf seinem Gebiet. Dabei geht es zunächst um Herders Absicht, den Text so viel als möglich im Sinne seines Verfassers und vor dem kulturellen Hintergrund seiner Entstehung zu übersetzen. Dem wird die moderne Theorie der "Rezeptionsästhetik" (H. R. Jauß) oder des reader-response-criticism gegenübergestellt, nach welcher der Sinn eines Textes durch den Leser hervorgebracht wird, der ihn von seinen Verstehensvoraussetzungen aus in ihn hineinträgt. Hier wird der (in Kap. 5 und 6 durchgeführte) Nachweis vorbereitet, dass Herder entgegen seiner erklärten Absicht gerade dies gegenüber dem Text des Hl getan hat, indem er ihn seiner eigenen Sentimentalität und dem Ideal von reiner Liebe in seinem eigenen bürgerlichen Milieu entsprechend verstanden und die Erotik des Originals verdeckt hat (vgl. schon das Vorwort, 9, und 103). Wir erfahren dabei auch allerlei über die verschiedenen Übersetzungsversuche und die Übersetzungstechnik Herders.

Kap. 4 (127-172) vergleicht Herders Interpretation des Hl mit dem traditionell jüdischen und christlichen allegorischen Verständnis, aber auch mit früheren Vorschlägen einer wörtlichen Deutung seit Theodor von Mopsuestia, berührt kurz Einleitungsfragen wie Titel und mögliche Entstehungszeit, die Diskussion um seinen Platz im Kanon, und weist auf die besondere Bedeutung Herders für die Geschichte seines Verständnisses hin, weil er als erster es als eine Sammlung von Liebesliedern gedeutet hat. Kap. 5 (173-213) behandelt an ausgewählten Beispielen Herders Auslegung des Hl, ausgehend von seinen beiden Fassungen von 1776 und 1778. Hier führt der Vf. vor allem den Nachweis, wie Herder den unschuldigen Charakter des Hl zu betonen versucht, es seinen eigenen Vorstellungen von Keuschheit und einfacher Schönheit anpassend (vgl. auch 223). Kap. 6 (214-293) untersucht Herders Übersetzungen des Hl. Hier weist der Vf. vor allem den großen Unterschied zwischen der vorläufigen Form von 1776 (aus dem Nachlass) und der gedruckten Endfassung von 1778 ("Lieder der Liebe") nach. Interessant ist dabei, dass Herders vorläufige Übersetzung viel weiter vom Urtext entfernt ist als die endgültige (vgl. 291), dass er ursprünglich stärker seiner Vorstellung von deutscher Dichtung folgte, während ihm später Luthers Übersetzung immer wichtiger (wenn auch nicht immer maßgeblich) wurde, die er seinen Lesern als unerreichtes Ideal empfahl. Auch Goethes Übersetzung des Hl wird erwähnt (218-221). In diesem Kapitel finden sich eingehendere Untersuchungen von Rhythmus, Reim, Alliterationen usw. anhand von Beispielen. Es folgt ein ausführlicher Kommentar ausgewählter Stellen (235-293).

Der Schlussabschnitt (294-305) handelt zunächst über die Rezeption der "Lieder der Liebe". Der Vf. betont das große Interesse am Hl unter Herders Zeitgenossen zwischen 1762 und 1784 (304). Allerdings, ob die S. 296 oben zitierte Auffassung, Goethe und Schiller (und die romantischen Dichter) seien die eigentlichen Erfüller des von Herder verkündigten Evangeliums, zutrifft, ist nach dem oben Bemerkten problematisch. Es wird aber auch der Alttestamentler F. W. C. Umbreit (1795-1860) mit dessen Hl-Kommentar (1820) erwähnt. Der Einfluss Herders reicht bis zu Robert Alter. Allerdings wird heute seine Deutung des Hl als Erlebnislyrik zunehmend in Frage gestellt. Auch hat man längst den Charakter des Hl als Kunstlyrik - nicht, wie Herder glaubte, Volkslyrik - erkannt.

Der Vf. zitiert viele deutsche Originaltexte und übersetzt sie für seine Leser jeweils in ein elegantes Englisch. Allerdings ist S. 160 und Anm. 89 nicht ein Land "Hyrcania", sondern der Hasmonäerkönig Johannes Hyrcanus (I.) gemeint, "man[n]bar" (186, Anm. 26) wäre mit "adult" wiederzugeben, "Gasse" (226, Anm. 20) mit "lane".

Herders komplexes Werk wird die Forschung auch in Zukunft weiter beschäftigen. Die vorliegende Untersuchung liefert dazu anregende Aspekte.