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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Windolph, Joachim

Titel/Untertitel:

Engagierte Gemeindepraxis. Lernwege von der versorgten zur mitsorgenden Gemeinde.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 346 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 32. Kart. DM 49,80. ISBN 3-17-015115-0.

Rezensent:

Rudolf Roosen

Der Rückgang von Finanzen und Personal und die unübersehbarer werdende Distanz der Mitglieder sind äußere Anzeichen einer Krise, die die christlichen Kirchen dazu zwingt, über die Veränderung ihrer Arbeits- und Organisationsformen nachzudenken. In dieser Situation legt Joachim Windolph seine Bonner Dissertation (Kath. Theol. 1996) vor. Ihr Untertitel "Lernwege von der versorgten zur mitsorgenden Gemeinde" ist Programm: Windolph sucht die erforderliche Umorientierung in der Richtung eines verstärkten Engagements der Gemeindemitglieder. Allerdings geht es ihm nicht darum, ein neues Konzept auszuarbeiten. Vielmehr nimmt er sich vor, Kirchengemeinden zu untersuchen, die das Prinzip einer aktiven Laienbeteiligung bereits ausprobiert haben. Auf diesem Weg möchte er zu einem Katalog von erfolgversprechenden Regeln und Verfahrensweisen gelangen, die sich auch unter den verschiedenartigen regionalen, sozialen und personellen Gegebenheiten anderer Kirchengemeinden sinnvoll verfolgen und umsetzen lassen. Die Arbeit ist in vier Hauptteile gegliedert:

Im ersten Teil wird eine Situationsbeschreibung vorgelegt: Gesellschaft; Individuum; Kirche. Die fortgeschrittene Systemdifferenzierung (Pluralisierung), die Ökonomisierung und die Dynamisierung der Gesellschaft unterwerfen die Menschen erheblichen Zwängen. Unverzweckte Kreativität erlahmt, soziale Kontakte erhalten "Warencharakter" (38). Die "Rentabilitäts- und Erlebnisorientierung macht ein soziales Engagement für als sinnvoll erkannte Ziele unwahrscheinlich" (92) und dünnt die Kirchenbindung aus. In den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils findet W. die theologische Begründung für eine situationsgerechte Reaktion der Kirche: Mit dem Begriff der communio hat das Konzil "die Wiederentdeckung der Gemeinschaftlichkeit des christlichen Lebens" (42) angeregt.

Kirche wird als pilgerndes Gottesvolk verstanden. "Diese Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen." (LG 26) Die Würzburger Synode (3.1.1971-20.11.1975) hat die damit ausgesprochene Aufwertung der Ortsgemeinde aufgegriffen und gefordert: "Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen läßt, muß eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in unübertragbarer Eigenverantwortung jedes einzelnen gestaltet" (zit. 52). Theologisch ist damit die Verpflichtung gegeben, "die Kirche als Realsymbol des erfüllten Communio-Lebens in einer Erfahrungs- und Handlungsgemeinschaft zu gestalten" (294). Allerdings sieht W. auch Hemmnisse, die der theologisch adäquaten Problemlösung entgegenstehen: die "Sakralisierung der Organisationsform" (69-72) und die Leitungskultur, die auf dem Prinzip der verbindlichen Autorität gründet ("Double-bind" Problematik, 73-79).

Der zweite Teil erarbeitet ein positives Krisenverständnis. Krisen signalisieren nicht allein Untergang, sie lassen sich auch als "Herausforderung zur Umgestaltung persönlicher oder sozialer Situationen konstruktiv" (97) nutzen. Auch für die Kirchengemeinden gilt: "Erst unter wachsendem Leidensdruck werden im Volk Gottes Kräfte wach, den eigenen Werdegang nicht dem Zufall zu überlassen, sondern aktiv mitzugestalten" (105). Unter Rückgriff auf die Habermas-Rezeption von Christoph Bäumler verortet W. die Kirchengemeinde "im Schnittpunkt von gesellschaftlichen Systemen und der alltäglichen Lebenswelt ihrer Mitglieder" (109) und greift die Vision einer "kommunikativen Gemeindepraxis" auf. "Lebensfördernde Strukturen" (107) sind anzustreben und bereitzustellen, die "dem sich individualisierenden Individuum in seiner derzeitigen Verfaßtheit ein hilfreicher Rahmen für das Wachstum und die Stabilität ganzheitlicher Identität sein können." (265) Dies zu leisten ist Auftrag der Kirchengemeinde. Prinzipielle Offenheit, Selbstbestimmung und persönliches Engagement sind die erforderlichen Mittel.

Im dritten Teil, dem eigentlichen Hauptteil der Arbeit, werden die Gemeinden Wien, Machstr.; Christkönigsgemeinde Eschborn; St.Ludwig Ibbenbüren und das Kath. Forum Dortmund vorgestellt. Alle zeichnen sich dadurch aus, daß hier Menschen "durch christliche Motive zu einer erfüllteren Lebensqualität gefunden haben und dadurch zu einem christlich begründeten gemeindlichen Lebensweg motiviert wurden" (117). In der eingehenden Darstellung und Analyse wird eine Vielzahl von bedeutsamen Aspekten gewonnen. So zeigt sich etwa: "Die konsequente Beteiligung möglichst vieler Betroffener an einem Prozeß der gemeinsamen Zielrichtung und ehrlichen Bedürfnisformulierung" setzt eine breitere Motivation frei als jede von "oben" vorgedachte und verordnete Lösung (250).

Leider können die Ergebnisse hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Erwähnt sei aber, wegen seiner weitreichenden Bedeutung für die praktisch-theologische Theoriebildung, doch das Fazit der Analyse des Wiener Projektes: "Das zweifellos theologisch durchdachteste Konzept von P. Weß, in Wien eine Gemeindekirche installieren zu wollen, scheint dagegen im Hinblick auf die Ermöglichung einer breiten Beteiligung von Christen an der gemeinsamen Praxis am gründlichsten gescheitert zu sein ... Dies verdeutlicht die ambivalente Funktion der Theologie bei der Gemeindebildung und öffnet die Frage der Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis. Die Umsetzung der Theologie in die gemeindliche Wirklichkeit gelingt nur, wenn die Theorie selbst schon der gelebten und reflektierten Praxis entspringt." (249 f.)

Der vierte Teil der Arbeit stellt die Ergebnisse der Analysen systematisch zusammen. Erst Möglichkeiten der "Identitätsfindung oder Identitätssicherung" (267), Freiräume zur Entfaltung eigenen Engagements, festigen und verstetigen kriseninduzierte Ausgangsmotivationen." Motivierend für eine mögliche Teilnahme wirkt die ... Erfahrung, daß die zur Sprache kommenden Themen mit der eigenen Lebenswirklichkeit in Verbindung stehen und man nicht lediglich einem von außen auferlegten Curriculum genügen muß" (272). Die folgenden Schritte und Maßnahmen haben sich auf dem Weg zur mitsorgenden Gemeinde als hilfreich und fruchtbar erwiesen: Motivation; Verantwortungs- und Kompetenzdelegation; kleine Schritte; offene, organisch vollziehbare Entwicklungsmöglichkeiten; Bildung von kleineren Bezugsgruppen und Arbeitskreisen; Schulung und Qualifikation der Aktiven; Zulassen von Vielfalt und Ungleichzeitigkeit; authentische Leiterpersönlichkeit (248-251 und 286-320).

Überblickt man die Arbeit, dann erfreut das hohe Maß an Praxisrelevanz, das W. durch die Orientierung an Modellkirchengemeinden gewonnen hat. Hier wird die Kirche, die zu erneuern ist, nicht zunächst einmal neu ersonnen. Windolph verliert die vorfindliche Kirche, die gegebenen Verhältnisse und die zu findenden Lösungswege nicht aus dem Blick. All dies sind Merkmale einer "Praktischen" Theologie, die ihrem Namen gerecht wird.

Weniges möchte ich anmerken: Im Schlußteil hätte ich mir auch den Hinweis auf die konstitutive und integrierende Bedeutung des Gottesdienstes gewünscht (vorher: 197, 218 und 233). Die Milieubildung, das Komplementärphänomen zum Individualisierungsschub, ist leider unberücksichtigt geblieben.

Bisweilen läßt sich auch der Eindruck gewinnen, daß - aus Liebe zur Kirche? - die Radikalität der Segmentierung unserer ausdifferenzierten Gesellschaft unterschätzt wird. Sie besitzt keine integrierende Mitte mehr, keine bevorzugte PoFsition und auch kein bevorzugtes Teilsystem. Das gilt (leider!) auch für die christlichen Kirchen. Die Entwicklung stärkt das Spezialistentum der "Profis" und beflügelt damit tendenziell die Nachfrage nach eben der "Betreuungskirche", die W. überwinden möchte.

Dennoch vollzieht sich unbestreitbar eine zweite Entwicklung parallel dazu: Das Engagement der Laien im kirchlichen "Gemeindebetrieb" nimmt zu. Der wirkungsvollste Motor dieser Entwicklung ist paradoxerweise gerade die theologie- und konzeptblinde Systemsteuerung nach Maßgabe der verteilungsfähigen Ressourcen, deren sich die Kirchenleitungen angesichts der schwindenden Mittel bedienen. Die Verknappung von Geld und Personal erzeugt in den Kirchengemeinden Leidensdruck, setzt folgerichtig Laienengagement frei und ist damit (ungewollt und unerkannt?) das effektivste Instrument, das die Kirchenleitungen besitzen, um großflächig wirksame Veränderungen in dem hochkomplexen "Sozialsystem Kirche" in Gang zu setzen. Es kann von daher nicht überraschen, daß der Prozeß der Verstärkung des Laienelements (mit all seinen Folgeerscheinungen!) in zahllosen katholischen Kirchengemeinden längst begonnen hat und m. E. unumkehrbar geworden ist. Offen ist allerdings noch, ob das Geschehen von denen, die den Prozeß so wirksam in Gang gesetzt haben, auch aktiv und konstruktiv begleitet, oder ob es einer unwillig (re)agierenden Führungsetage mühsam abgetrotzt werden muß. Joachim Windolph hat sich dafür ausgesprochen, den ersten Weg zu gehen.