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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1197 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Main Works/Hauptwerke. Ed. by/Hrsg. von C. H. Ratschow with the collaboration of/unter Mitarb. von J. Clayton, G. Hummel, Th. Mahlmann, M. Palmer, R. P. Scharlemann, G. Wenz. Bd. 3: Writings in Social Philosophy and Ethics. Sozialphilosophische und ethische Schriften. Hrsg. von E. Sturm.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. V, 712 S. gr.8 Lw. DM 238,-. ISBN 3-11-011537-9.

Rezensent:

Hermann Fischer

Mit erheblicher Verzögerung und einem neuen Herausgeber ist 1998 mit Band 3 der letzte Band der seinerzeit von Carl Heinz Ratschow initiierten Ausgabe der "Main Works/ Hauptwerke" von Paul Tillich erschienen. Während diese Ausgabe damit zum Abschluss gelangt ist, wächst die andere der "Gesammelten Werke" mit ihrer zweiten Abteilung "Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken" Zug um Zug weiter. Ebenfalls 1998 ist von dieser anderen Ausgabe Band 9 "Frühe Werke" erschienen (Vgl. dazu die nachfolgende Besprechung).

Über den Aufbau, die Editionsprinzipien, die Vorzüge, die Nachteile und die bis dahin erschienenen fünf Bände der Main Works/Hauptwerke habe ich 1992 in dieser Zeitschrift (ThLZ 117, 1992, 804-816) Bericht erstattet. Wenn der letzte Band dieser Ausgabe jetzt nur noch kurz vorgestellt wird, sei auf diesen Aufsatz verwiesen. Die dort angesprochenen allgemeinen Gesichtspunkte gelten auch für diesen Band.

Erdmann Sturm, bereits als bewährter Herausgeber einiger Bände der anderen Edition der Nachlasswerke hervorgetreten, hat den vorliegenden Band kenntnisreich und verlässlich betreut. Es entspricht der gewandelten Interessenlage Tillichs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, dass der Band auch mit einem erst nach diesem Zusammenbruch erschienenen Aufsatz eröffnet wird, in dem Tillich das Phänomen des Sozialismus in seiner Bedeutung für die religiöse Fragestellung in den Blick rückt ("Der Sozialismus als Kirchenfrage", 1919). Hier werden erste Leitlinien für die Konzeption des "Religiösen Sozialismus" formuliert. Die folgenden deutschsprachigen Abhandlungen bis 1933 sind überwiegend diesem Thema gewidmet oder stehen doch in enger Verbindung zu ihm: "Masse und Geist. Studien zur Philosophie der Masse" (1922), "Grundlinien des Religiös[en] Sozialismus. Ein systematischer Entwurf" (1923), "Die Überwindung des Persönlichkeitsideals" (1927/1948), "Klassenkampf und religiöser Sozialismus" und "Sozialismus" (beide 1930), "Religiöser Sozialismus", "Protestantisches Prinzip und proletarische Situation" und "Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung" (alle 1931). Mit Tillichs bekannter Schrift "Die sozialistische Entscheidung" (1933) kommt dieser Teil zum Abschluss. Eine gewisse Sonderstellung nehmen in ihm die "Zehn Thesen" (1933) ein, in denen sich Tillich dezidiert ablehnend zum Nationalsozialismus äußert (269-271). "Der Protestantismus hat seinen prophetisch-christlichen Charakter darin zu bewähren, daß er dem Heidentum des Hakenkreuzes das Christentum des Kreuzes entgegenstellt" (270).

Den zweiten großen Block des Bandes bilden - mit zwei Ausnahmen - englischsprachige Publikationen. Einige von ihnen wie "Marx and the Prophetic Tradition" (1935), "Marxism and Christian Socialism" (1942), "Man and Society in Religious Socialism" (1943) knüpfen an den Themenkomplex "Religiöser Sozialismus" an. Allerdings scheint Tillich die Möglichkeiten des religiösen Sozialismus zunehmend skeptisch einzuschätzen, wie sein kleiner, allerdings erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienener Beitrag "Beyond Religious Socialism" (1949) zeigt. Nach Tillichs Emigration und auf Grund der veränderten weltpolitischen Lage rücken andere ethische Themen wie Totalitarismus, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in den Vordergrund. Die sozialphilosophischen Erörterungen sind nicht mehr - wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges - durch das geschichtsphilosophisch geprägte Bewusstsein des "Kairos" bestimmt, sondern spiegeln die neue Situation wider ("The Totalitarian State and the Claims of Church", 1934, "Freedom in the Period of Transformation", 1940).

Tillichs Interesse verlagert sich in dieser Zeit auf eine ontologische Begründung der ethischen Probleme. Besonders deutlich lässt sich das ablesen an den beiden ursprünglich selbständig erschienenen Publikationen, die den Band beschließen: "Love, Power, and Justice. Ontological Analyses and Ethical Applications" (1954) und "Morality and Beyond" (1963). In der erstgenannten Studie versucht Tillich die Phänomene Liebe, Macht und Gerechtigkeit in ihrer Verankerung im Sein selbst und in ihrer spannungsvollen Zusammengehörigkeit verständlich zu machen.

Zwei deutschsprachige Beiträge sehr unterschiedlichen Zuschnitts sind in diesen Block englischsprachiger Publikationen eingeschoben. Im ersten ("Programm für ein demokratisches Deutschland", 1944) beteiligt Tillich sich an Erwägungen über die politische Gestaltung Deutschlands nach dem (noch ausstehenden) Ende des Zweiten Weltkrieges. Der zweite Beitrag ("Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker", 1951) legt die anthropologischen Wurzeln der Utopie frei, bedenkt die Utopie aber auch in ihren negativen Konsequenzen.

Tillich hatte mit dem ersten Satz des hier auch an erster Stelle abgedruckten Beitrages programmatisch formuliert: "Es war die dogmatische Fragestellung, welche bisher die Kirche bewegte; von nun an wird es die ethische sein" (32). Überblickt man den Band und mit ihm zugleich die gesamte Ausgabe der Main Works, dann zeigt sich, dass Tillich als Theoretiker des Religiösen Sozialismus Bedeutendes geleistet hat. Sein Beitrag zur Ethik dagegen nimmt sich im Verhältnis zu den übrigen von ihm bearbeiteten Themenfeldern eher bescheiden aus. Was er an Wesentlichem dazu gedacht und geschrieben hat, ist in diesem Band bestens dokumentiert.