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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1128–1130

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nichols, Bridget

Titel/Untertitel:

Liturgical Hermeneutics. Interpreting Liturgical Rites in Performance.

Verlag:

Frankfurt/ M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 318 S. gr. 8. Kart. sFr. 84.30. ISBN 3-631-49464-5.

Rezensent:

Monika Frieden, Ralph Kunz, Henry Sturcke

Der Titel vorliegender Dissertation markiert ein anspruchsvolles Programm: Ausgehend vom Book of Common Prayer soll das Projekt einer liturgischen Hermeneutik vorgestellt werden. Es soll zudem nicht nur Spezialisten, sondern auch den Klerus sowie engagierte Laien ansprechen (10). Ob diese Hermeneutik in Durchführung und Darstellung dem großen Anspruch gerecht geworden ist, wird noch zu erörtern sein.

Im instruktiven ersten Kapitel (I) wird eine Einführung gegeben. N. bestimmt den Ausgangsort ihrer Untersuchung aufgrund der Dualität von liturgischem Text und liturgischer Inszenierung (performances). Liturgische Hermeneutik ist der Versuch, Liturgie als simultanes Ereignis dieses Duals zu verstehen, was zur Konsequenz hat, daß die Interpretation die Ebene des Textes und die Ebene der Aufführung zugleich berücksichtigen muß (15). Wie N. an Dom Gregory Dix’ klassischem Werk, The Shape of Liturgy (1945) zeigt, nötigt ein solcher Ansatz zur Interdisziplinarität (18). Die Frage nach einer adäquaten Methode der Interpretation liturgischer Praxis (18-21) wird zwar seit Dix angeregt diskutiert, hat aber gemäß N. bis anhin weder eine methodologisch noch theoretisch befriedigende Grundlage gefunden: "The discipline has not yet discovered a firm theoretical base for conducting its investigations" (21). Als Basis für ein Modell liturgischer Hermeneutik wird nun, mit Berufung auf Gadamer und Ricur, die allgemeine Hermeneutik vorgeschlagen, die sich mit der Bedeutung von Texten befaßt (21-25). Zentrales Thema des hermeneutischen Prozesses ist die Aneignung (appropriation) des Textsinns durch den Leser, welche auf dem Vermögen (ability) des Textes fußt, dem Leser eine Welt vorzustellen (to propose a world to the reader, 22). Angeeignet wird nicht eine Welt hinter dem Text, sondern die Welt, die durch den Text vorgestellt wird. N. gewinnt aus der allgemeinen Hermeneutik einen Grundsatz für das Verhältnis zwischen dem Rezipienten und dem Text, der auch für eine liturgische Hermeneutik zu gelten hat: "Both Ricur and Gadamer would agree that the subject is founded in the dialectic between understanding the text and self-understanding, leading to what Ricur calls ’the appropriation of meaning’" (24).

Die Erweiterung des narzißtischen ’Ego’ zum ’Selbst’, die durch die Distanzierung des Textsinns vom ursprünglichen Autorensinn ermöglicht wird, leitet über von der Hermeneutik der Subjektivität zur Hermeneutik des Glaubens (25). Der Aneignung in der allgemeinen Hermeneutik entspricht die Annahme des Glaubens (assumption of the Faith, 26) durch einen Akt des Glaubens (through an act of faith), d. h. die Erfüllung der Annahme des Glaubens kommt erst durch die Aufführung des Glaubens zustande. Liturgische Praxis (practice) entsteht durch die Spannung zwischen fides qua und fides quae (27). Weil sich die Gottesdienstteilnehmer die Vorstellungen des Glaubens (proposals of the Faith) im Glaubensakt aneignen, liegt die letzte Verantwortung (final task) - der Sprung des Glaubens (the leap of faith) - dennoch bei diesen selbst (27). Ähnlich wie in der Theorie der Aneignung sieht N. auch in Gadamers Konzept des Sprachspiels diese Dialektik des Glaubens. Das Sprachspiel eignet sich als Modell für liturgisches Schaffen (general model for liturgical operation, 27-31), weil auch im liturgischen Spiel die Bereitschaft zum Risiko verlangt ist, sich selbst für die Dauer des Spiels zu verlieren (28). Dieser Selbstverlust wird in der gottesdienstlichen Inszenierung durch die Verheißung des Reiches Gottes aufgehoben, das nach David Tracy als Grund (ground) oder Referent des religiösen Diskurses verstanden wird (35-40). Mit ’Reich Gottes’ ist also nicht ein metaphysisches Konzept außerhalb des liturgischen Prozesses gemeint, sondern der Referent innerhalb des Zeichensystems (39). In der Diskussion darüber, welche Wirklichkeit diesem Referenten als ’Grund’ zukommt, positioniert sich die Vfn. mit Ricur zwischen Gadamer und Derrida (40).

Ziel des zweiten Kapitels (II) ist es, durch die Analyse der Wirkung von Text und Inszenierung der Eucharistie nach dem Book of Common Prayer (BCP 1549, 1552 und 1662) zu zeigen, wie Reich Gottes zur Vorstellung kommt. Und sie präzisiert: "The business of appropriating the proposed world of a liturgical text starts from its structure and is revealed through performance" (83). N. legt großes Gewicht auf die Übergänge, " ... threshold positions, vis-à-vis the Kingdom, in which the worshippers find themselves as the rite develops" (60). Sie setzt dabei voraus, daß das Reich Gottes Grund und eschatologisches Ziel der rituellen Handlung ist. Zum Schluß wird noch einmal nach dem Verhältnis von liturgischem Text und dessen Inszenierung gefragt (84) und abschließend festgestellt, daß liturgische Hermeneutik lediglich das Risiko der gottesdienstlichen Handlung beschreiben kann: "Liturgical hermeneutics can only describe the risk of undertaking acts of worship within the doctrinal limits, in order to attain the proposed world of the Kingdom" (85). Es folgt (III) eine Untersuchung der Übergänge (threshold positions) in der Eucharistie nach dem Alternate Service Book (ASB, 1980). Die Analyse stellt N. erneut vor die Frage nach Wahrheitserschließung (disclosure of truth) in der Liturgie. Diese glaubensermöglichende Wahrheitserschließung, die durch den Gottesdienst geschieht, (disclosure of faith through worship, 117) interpretiert N. mit Hilfe der Heideggerschen Unterscheidung von Text und Wahrheit. In diesem Sinn stellt die liturgische Handlung die Bedingung der eigentlichen Möglichkeit-des-Daseins auf das Reich Gottes hin dar.

Nachdem N. ihr Projekt in zwei Durchgängen exemplarisch durchgeführt hat, wird mit Bezug auf Ricur dargelegt, wie die Sprache der Bibel die liturgische Vorstellung (liturgical proposal) des Reiches Gottes unterstützen kann (IV). Die Bibel enthält verschiedene Formen des Diskurses, die ein zirkuläres System bilden. Die Bedeutung der theologischen Inhalte erschließt sich erst aus der Gesamtkonstellation (122). Wenn dieses System dem ebenfalls geschlossenen System der Liturgie begegnet, entsteht das Problem der Kontemporaneität. Nach diesen allgemeinen Überlegungen zur komplexen Aneignung der biblischen Verheißungen im Gottesdienst richtet N. ihre Aufmerksamkeit auf eine spezifische Verwendung der Bibel in der Liturgie: die Lesungen der sonntäglichen Eucharistiefeier zwischen Ostern und Pfingsten im ASB (128-154). Noch einmal zeigt N. ihre Begabung für die literarische Analyse von liturgischen Texten und demonstriert, wie die verwendeten Gebete nicht nur die Themen der Lesungen verknüpfen, sondern auch Elemente der reichen Tradition der englischen "devotional poetry" in Erinnerung rufen (141-145).

N.s Analyse von Taufe (V) und Trauerfeier (VI-VII) ist nicht nur für diejenigen lesenswert, die sich für anglikanische Tradition interessieren, sondern auch für alle, die über die Wirkung der Liturgie nachdenken. Hauptfrage dieser Kapitel ist es, wie der Ritus sowohl den betroffenen Einzelnen als auch die anwesende Gemeinde ansprechen kann. Im Vergleich zwischen dem BCP und dem ASB stellt N. fest, daß in der neueren Version der Taufzeremonie der Glaube domestiziert werde, während das BCP den Glauben herausfordere, weil es das Reich Gottes in der Taufe wirkungsvoller zur Darstellung bringen kann. Kritik wird an den Trauerriten des BCP geübt, das durch seine Bezüge auf Prädestination und Erwählung einen "process of reconfiguration" ausschließe. Gemäß N. kann das ASB die doppelte Aufgabe, die Trauer um den Verstorbenen und den Trost für den Lebenden zu spenden, besser erfüllen (223).

Verlegen wirkt die Bemerkung am Schluß des Buches, daß es nicht das Ziel der Untersuchung war, eine Definition dafür zu liefern, was liturgische Hermeneutik sei, sondern darüber zu reflektieren, was sie tut (251). Ob die Vfn. mit dieser etwas fragwürdigen Unterscheidung signalisieren will, daß sie sich zu viel vorgenommen hat? Das Schlußkapitel (VIII) nährt diesen Verdacht, wenn es nicht mehr vom liturgischen Spiel, sondern auch von der liturgischen Hermeneutik heißt, sie sei ein Risiko, "partly controllable or evaluative as methodology" (255). Einsichtiger als solche Übertragungen vom Untersuchungsgegenstand auf die Untersuchungsmethode sind N.s Stipulationen zum Thema Liturgie und Sprache (258-261). Sie behauptet, "the real risk in liturgical language is not that it is different, but that it is reassuringly the same" (259). Die Vfn. findet dadurch eine starke Verknüpfung zwischen säkularem und religiösem Verhalten (258). In der Rückwärtsbewegung auf das Alltagsleben hin (260) liegt die bindende Relevanz, in der Vorwärtsbewegung auf das Gottesreich hin die öffnende Kraft liturgischer Praxis (266). Insofern Welt interpretiert wird, kann der Gottesdienst selber als praktisches Paradigma (271-275) einer hermeneutischen Praxis gelten, welche die Gottesdienstteilnehmer in die Verantwortung der Interpretation nimmt.

Hilfreich für den Leser sind die Abschnitte, in denen N. einen Überblick der Untersuchung bietet (40-47) oder ihre Begriffsverwendungen in einem sog. mobilen Glossar (41) darlegt (49-52). Ob dieses Glossar tatsächlich dem ehrgeizigen Ziel dient, "to offer a way of finding an applying interpretative vocabulary for liturgy outside of conventional historical and textual studies" (46), darf allerdings bezweifelt werden. Vielleicht liegt der Wert vorliegender Untersuchung entgegen der Auffassung der Vfn. gerade darin, daß die Anknüpfung und die Weiterverarbeitung einer allgemeinen Hermeneutik innerhalb und nicht außerhalb eines historisch klar definierten textlichen Korpus versucht wurde.