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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1195–1197

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sobrino, Jon

Titel/Untertitel:

Christologie der Befreiung, 1.

Verlag:

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1998. 384 S. 8. Kart. DM 64,-. ISBN 3-7867-2130-0.

Rezensent:

Ulrike Link-Wieczorek

Man erinnert sich noch an die Meldung vor einigen Jahren, dass in San Salvador sechs Jesuiten und zwei Hausangestellte Opfer eines Massakers einer paramilitärischen Untergrundorganisation wurden - Jon Sobrino wäre auch unter den Opfern gewesen, wenn er nicht zufällig an diesem Abend nicht daheim gewesen wäre. Es ist der Kontext dieser Realität einer sozial weitgehend dual segmentierten Gesellschaft, auf den die vorliegende "Christologie der Befreiung" bezogen sein will - zweifellos der Kontext einer anderen Welt als der europäischen unserer Tage. Und doch atmet diese Theologie keine fremde Exotik, sondern Seite für Seite wird deutlich: Lateinamerikanische Theologie steht in besonderem Kontakt mit der europäischen Theologie. Dies liegt nicht nur daran, dass sie ja zunächst aus der Theologie der spanischen Missionare erwachsen ist, sondern vor allem daran, dass die jüngere, befreiungstheologische Richtung in intensivem Diskurs mit der europäischen Theologie geblieben ist, sogar unter besonderer Intensivierung des Gesprächs mit deutscher evangelischer und katholischer Theologie. Mit S. lässt sich dies in besonderer Weise dokumentieren, und nicht zuletzt deswegen ist es zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden ersten Band seiner "Christologie der Befreiung" eine repräsentative Stimme aus dem lateinamerikanischen Kontext mit der Summe ihrer christologischen Konzeption für deutschsprachige Leser und Leserinnen zugänglich wird.

S. wurde 1938 in Spanien geboren und lebt seit 1957 in El Salvador. Zusammen mit Gustavo Gutierrez und Leonardo Boff zählt er zu den führenden Befreiungstheologen. Der Jesuit hat Philosophie, Maschinenbau und Ingenieurwissenschaften studiert und lehrt heute an der Universität San Salvador. Seine unveröffentlichte Dissertation schrieb er in Deutschland, an der Theologischen Hochschule von St. Georgen in Frankfurt: "Die Bedeutung des Kreuzes und der Auferstehung in den Theologien von Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg". Ergebnisse dieser Arbeit sind in spätere Publikationen eingeflossen, so auch in die 1976 erschienene Monographie, die in der englischen Übersetzung als "Christology at the Crossroads" 1978 durchaus auch in Deutschland bekannt wurde. Auch in dem nun vorliegenden Band finden wir erneut eine resümierende Bezugnahme auf deutsche Theologie: auf Rudolf Bultmann, Jürgen Moltmann, Wolfhart Pannenberg und, als einzigen katholischen Theologen, Walter Kasper. Letztlich jedoch bietet das vorliegende neue Buch S.s keine entscheidenden Neuerungen seiner bisher vorgelegten christologischen Konzeption. Eher kann man sagen: Es werden bisherige Thesen verfeinert und vor allem exegetisch sorgsamer entwickelt.

Der spanische Originaltitel des vorliegenden Bandes "Jesu christo liberador. Lectura historico-teologica Jesus de Nazaret" gibt mehr als der deutsche Auskunft über die Konzeption dieser Christologie: S. setzt seine bisherige Arbeit an einer "konkreten Christologie" fort, in der das Evangelium von der Erlösung und Versöhnung durch Jesus Christus als erfahrbar erwiesen werden kann - auch, nein sogar: vor allem - in der Situation des Leidens an Ungerechtigkeit und politischer und sozialer Unterdrückung. Daher der demonstrative Einsatz bei der historischen Person Jesu, dessen Parteilichkeit für die Armen S. durch keine Skepsis an der historischen Jesusforschung wegdiskutiert sehen will. Die Ankündigung und Bezeugung des Reiches Gottes diente auch Jesus als wirksame Propaganda gegen das "Antireich", als deren Folge er den Tod am Kreuz erlitt - so viel historischer Kern muss bleiben im Evangelium. In der Botschaft Jesu, seinem Leben, seinem Gottesglauben, seinem konsequenten Tod und seiner Auferweckung erhält das Reich Gottes seine konkrete Gestalt in der Auseinandersetzung und Demaskierung des Antireiches, in dem Armen Gerechtigkeit und Lebensfähigkeit verwehrt wird. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Theologie erfolgt in einem Exkurs über eben diese Konturen einer befreiungstheologischen Reich-Gottes-Christologie, die, so S.s Kritik an seinen Gesprächspartnern, nicht zu einer Abstraktion von der sozio-historischen Dimension führen dürfe.

Der theologische Kern dieses ersten Bandes von S.s Christologie freilich liegt in der Soteriologie. Auf die Befreiung läuft alles zu, und Erinnerung und Nachdenken über Jesus, den Sohn Gottes, führt zu einer Meditation des Handelns Gottes, in dem aus dem Leiden am Antireich heraus doch neues Leben wächst. Dies ist ein stark kreuzestheologisches, ja patripassionistisches Credo. Man hat S. bereits einen starken Einfluss der Theologie von Jürgen Moltmann nachgewiesen (vgl. dazu die bei Otto Hermann Pesch in Hamburg entstandene Dissertation des brasilianischen Protestanten Antonio Carlos de Melo Magalhaes: Christologie und Nachfolge. Eine systematisch-ökumenische Untersuchung zur Befreiungschristologie bei Leonardo Boff und Jon Sobrino, Ammersbek 1991). Möglicherweise liegt dem Interesse an der Rede vom "gekreuzigten Gott" bei Moltmann jedoch bereits eine spezifische lateinamerikanische Spiritualität zu Grunde, in der die Wahrnehmung des Leidens an der Ungerechtigkeit als der erste Schritt zur Befreiung erfahren wird. Das lässt sich verbinden mit der lutherischen Rede vom Wirken Gottes "sub contrario", denn für S. hat die Erkenntnis des leidenden Gottes inmitten des Leidens der Armen soteriologische Relevanz.

Nur so lässt sich verstehen, dass der erste Band dieser Christologie in der Rede vom "gekreuzigten Volk" gipfelt und endet, in der der leidende Gott, der gekeuzigte Jesus und das Leiden der Armen miteinander verschmelzen, weil Gott es so wirkt. Dennoch, das macht S. unmissverständlich klar, ontologisch und noetisch haben Kreuz und Auferweckung Jesu Christi Vorrang - nur so kann im Leiden des Volkes das erlösende leidende Antlitz Gottes sichtbar werden.