Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1193–1195

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hahn, Eberhard

Titel/Untertitel:

"Ich glaube ... die Vergebung der Sünden". Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 259 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 92. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525-56299-3.

Rezensent:

Michael Plathow

1. Nicht secundum recipientem hominem, sondern secundum dicentem Deum ist mit M. Luther WA.TR 3,670, 12-21 nach E. Hahn heute von der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche zu reden.

"An der Art und Weise theologischer Entfaltung und kirchlicher Verwaltung der Sündenvergebung entscheidet sich, ob Theologie (und das von ihr verantwortete Handeln) evangelisch, d. h. apostolisch und katholisch ist. Die Sündenvergebung stellt somit gewissermaßen den ,Probierstein' für die Identität von Kirche und Theologie dar" so lautet die Grundthese dieser Studie (21).

2. Ausgehend von M. Luthers Katechismen als Schnittpunkt von Glaube, Theologie und kirchlichem Handeln weitet sich der Blick des Vf.s sowohl auf exegetische wie systematische und praktisch-theologische Fragestellungen; dabei wird unter Einbeziehung von Fragen der Gegenwart mit M. Luther, P. Brunner, A. Peters, R. Slenczka u. a. "Sündenvergebung als geistliche Wirklichkeit" betont (23). Sündenvergebung ist "Werk des Dreieinen Gottes" (Teil 2).

In der Sündenvergebung kommt das gesamte Heilsgeschehen "mit uns in die Erfahrung" (204); es geht um das "ganze Heil" (85, 207) als "eschatologische Wirklichkeit" (210 f.). Die Sündenvergebung stellt das "Herzstück der Rechtfertigung" dar (60ff.) und lässt sich somit nicht auf eine "Engführung" und "Verkürzung" des Heils reduzieren, wie die römisch-katholische (67 ff.), die Schleiermachersche (72 ff.), die Pannenbergsche und Barthsche (74 ff., 205) Kritik plausibel zu machen versuchen.

Sündenerkenntnis und Sündenvergebung ist Wirkung von Gesetz und Evangelium (Teil 3), eben der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, zugeeignet dem simul peccator et iustus durch das lebendige Wort Gottes (allerdings nicht als "repetitive Anwendung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium", wie W. Pannenberg bei M. Luther annehmen will [97 ff.]). Sündenerkenntnis kann folglich nicht aus der Empirie gewonnen werden, wie einige Gegenwartsentwürfe (u. a. Chr. Gestrich [55 ff.]) angesichts der "Krise des Sündenverständnisses" (101 ff.) zu diagnostizieren versuchen. Die glaubende Gewissheit der Vergebung der Sünden durch Christi stellvertretenden Sühnetod ist vielmehr der Grund der Sündenerkenntnis und des Sündenbekenntnisses.

Die Vermittlung der Sündenvergebung durch Wort und Sakrament (Teil 4) hat das kirchliche Handeln in Verkündigung und Gottesdienst (112 ff.), bei der Taufe (133), beim Abendmahl (139 ff.) und bei der Beichte (161 ff.) zu verantworten. Der Vf. weist jeweils die zentrale Bedeutung der Sündenvergebung nach: S. 124, 130, 157, 174. Unter Heranziehung von Agenden, Gebetbüchern, liturgischen Texten und kirchlicher Gebrauchsliteratur, die allerdings z. T. die "veränderten kontextuellen Faktoren" zum Maßstab nehmen, betont demgegenüber der Vf. das Kriterium der "Sachgemäßheit" für kirchliches Handeln in theologischer Verantwortung: die Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis (116, 158).

In neueren Gottesdienst-Entwürfen tritt das Sündenbekenntnis und die Sündenvergebung als Vergebungshandeln Gottes oft in den Hintergrund; so ist es in der Wirkungsgeschichte M. Luthers und P. Brunners (118 ff.) von Schrift und Bekenntnis her festzustellen. Noch mehr gilt die kritische Anfrage im Blick auf neue Gestaltungsformen der Taufe, aber auch des Abendmahls; als "Engführung" wird die Zentrierung auf die Sündenvergebung häufig verstanden, verglichen mit dem Aspektreichtum des Geheimnisses der Abendmahlsfeier (157 ff.). Für die Beichte - besonders die Einzelbeichte - im Spannungsfeld von Seelsorge und Psychotherapie im sozialpsychologischen Kontext der Gegenwart kann sich nur der Aufruf an die Kirche richten, "ihren Auftrag gegenüber den suchenden Menschen ernstzunehmen und angemessen auszuüben" (173), wo säkulare Formen der Schuldbewältigung bis zur "Perversion" etwa in Talkshows (174) Hochkonjunktur haben.

Das christliche Leben gestaltet sich somit als Leben aus der Sündenvergebung (Teil 5). Die Befreiung aus der Gewalt von Gesetz, Sünde, Tod und Teufel, das Geschenk der Taufe und der Empfang der Vergebung im Abendmahl und in der Beichte erweisen sich als Grundlage christlichen Lebens im Kontext des Pluralismus der säkularen Formen von Schuldbewältigung (181ff.): Substituierung des Begriffs "Schuld" (K. Marx, K. Lorenz), Entschuldigung durch Beschuldigung, Aufhebung von Normen, Verweigerung von Schulderkenntnis, Deutung von Schuld als Schuldgefühl, Ausbruch in die Unbelangbarkeit, autonome Übernahme von Schuld und ihrer Folgen. In seiner Form als dialogische Apologetik ist dieser Abschnitt 5.3 für den Leser nicht nur informationsreich, sondern auch sehr erhellend für das Sündenverständnis. Das christliche Leben aus der Sündenvergebung wird nämlich erfahren als neues Gottesverhältnis im Gebet, im Vertrauen statt Sorgen, in Zuversicht statt Zukunftsangst, in der Offenheit gegenüber dem Nächsten.

Die Sündenvergebung impliziert also eine mehrdimensionale Realität (Teil 6):

a. Sündenvergebung als gegenwärtige Wirklichkeit des Heils; "in der Sündenvergebung erschließt sich eine neue Lebenswirklichkeit für die Christen: die Verbindung mit Gott, dem Vater, durch den Sohn im Heiligen Geist" (205).

b. Sündenvergebung als umfassende Wirklichkeit des Heils; der Zuspruch der Sündenvergebung schließt - entgegen vielfach erklärter Erfahrungsdefizite - "das ganze Heil" ein (207, 213).

c. Sündenvergebung als eschatologische Wirklichkeit; mit Mt 18,21 ff. ist der Horizont des Jüngsten Gerichts angezeigt.

d. Sündenvergebung als Wirklichkeit des Glaubens und Lebens; dabei ist die empfangene und die gewährte Vergebung in umumkehrbarer Folge miteinander verbunden.

e. Sündenvergebung als entscheidende Wirklichkeit kirchlichen Handelns; "an der gewährten Gabe und an der übertragenen Vollmacht zur Sündenvergebung gewinnt die Gemeinde ihr entscheidendes und unterscheidendes Merkmal gegenüber der Welt" (216).

f. Sündenvergebung als entscheidende Wirklichkeit theologischer Verantwortung; ihre kriteriologische und kritische Funktion zeigt sie darin, dass "das Versöhnungsgeschehen als geschichtliche Wirklichkeit" die Basis der Sündenvergebung bildet und "die Ausrichtung auf die Erlösung von dem künftigen Zorn" impliziert und als solche in der Beichtanleitung und im Sakramentsempfang konkret wird.

Die mehrdimensionale Realität der Sündenvergebung macht deutlich: "Die Verkündigung der Sündenvergebung markiert das Zentrum der missionarischen Verkündigung" (218).

3. Stringent und klar entfaltet der Vf. die These der biblisch-reformatorischen Lehre, dass die Sündenvergebung das Zentrum kirchlicher Verkündigung, christlichen Lebens und theologischer Verantwortung ist in der "sachgemäßen" Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis. Diese Grundthese begründet und verifiziert der Vf. in kritischer Auseinandersetzung mit Gegenwartstheologen (K. Barth, Chr. Gestrich, W. Pannenberg u. a.), mit liturgischen, homiletischen und poimenischen Entwürfen der Gegenwart, mit kirchlicher Gebrauchsliteratur, sozialpsychologischen Gesellschaftsanalysen und allgemeinen Mentalitäts- und Trendanzeigen. Mit Theologen anderer Richtungen als M. Luther, P. Brunner, A. Peters , R. Slenczka u. a., mit Christen anderer Erfahrungen, mit Nichtchristen, denen die Schuldbewältigung zum existentiellen Thema wurde (vgl. 182 ff., 173, Anm. 294), tritt der Vf. in seiner Erlanger Habilitationsschrift in den dogmatischen und apologetischen Dialog.

Für die zentrale Bedeutung der Sündenvergebung in der "missionarischen Verkündigung" (218), in der Tauf-, Abendmahls- und Beichtunterweisung heute (204 f.214 f.221 f.) wird der Vf. nach der brillanten Darlegung der Lehre in theologischer und kirchlicher Verantwortung konkrete Hilfen bringen. So erweist sich die Lektüre dieser Studie für den theologischen Diskurs, für die kirchlichen Handlungsfelder und für das Frömmigkeitsleben der evangelischen Christen als intellektueller und geistlicher Gewinn wie auch als kritische Anregung zum theologischen Bedenken der Sündenvergebung und zu theologisch verantwortetem kirchlichen Handeln. Nimm und lies!