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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1187–1190

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Overbeck, Franz

Titel/Untertitel:

Werke und Nachlaß. Bd. 7/2: Autobiographisches "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde". Hrsg. von B. v. Reibnitz u. M. Stauffacher-Schaub.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 1999. LVII, 347 S. 8. Lw. DM 138,-. ISBN 3-476-01615-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Gabriel

Mit dem vorliegenden Band wird die bereits erschienene und rezensierte Auswahlausgabe von Overbecks "Kirchenlexicon" (s. ThLZ 121, 1996, 76 ff. u. 122, 1997, 356-359) ergänzt. Vollständig geboten werden die dort ausgesparten Aufzeichnungen Overbecks über seine Freunde Heinrich v. Treitschke (1834-1896), Friedrich Nietzsche (1844-1900) und Erwin Rohde (1845-1898). Dabei handelt es sich um rückblickende Notizen, die Overbeck zur Klärung seines Verhältnisses zu seinen Freunden aufschrieb nach deren Ableben bzw. im Fall Nietzsche, nachdem dieser 1889 dem Wahnsinn verfallen war. Bezeichnend für Overbecks Beziehung zu diesen seinen engsten Freunden ist einerseits, dass der zwischenmenschliche Kontakt nicht zerriss trotz unterschiedlicher Auffassungen und Wegrichtungen, andererseits dass diese Freundschaften unter dem Vorzeichen der Ablehnung des Christentums standen. Gerade in dem Einverständnis zwischen Overbeck und seinen Freunden darüber, dass er kein Theologe sei, sah er "den besten Beweis dafür, daß wir ... wirklich zusammengehören". (2) Hervorzuheben ist der fragmentarische Charakter der Texte, was aber ihren sehr unterschiedlichen Umfang nicht ausschließt. Während Treitschke und Rohde nur wenige Seiten gewidmet sind (7-21 und 225-234), wird Nietzsche auf ca. 250 Seiten einer vielfachen Beleuchtung unterzogen, so dass hier von einem wichtigen Beitrag Overbecks zur Biographie Nietzsches und zur Würdigung seiner Schriften zu reden ist.

In welchem Maße Overbecks Freundschaften von Spannungen durchzogen waren, wird in besonderem Maße an seinem Verhältnis zu Treitschke, dem älteren Freunde, deutlich. Der geistige Austausch zwischen beiden begann 1859, als Overbeck noch studierte und Treitschke gerade Privatdozent geworden war. Nach wenigen Jahren jedoch bahnte sich 1863/64 der politische Dissens an. Während sich Treitschke zu einem leidenschaftlichen Verfechter der Reichseinigung unter preußischer Führung und einem entschiedenen Parteigänger Bismarcks entwickelte, artikulierte Overbeck zunehmend Vorbehalte gegenüber der Politik Bismarcks und der speziell von Treitschke eingenommenen Haltung. So kommt denn in den Aufzeichnungen zum Ausdruck, dass für Overbeck Treitschkes Weg "der ungangbarste von Allen gewesen" sei. Rechnete er Treitschke zu seinen "Erziehern im Unchristenthum", so musste ihn dessen propagandistische Benutzung des Christentums zur Legitimierung der Machtstaatspolitik und im Zusammenhang mit antisemitischen Umtrieben zutiefst empören. Overbeck, der im Zusammenhang mit der Bildung des Deutschen Reiches dessen "Weltlichkeit" besonders schätzte, äußert dementsprechend, in ihm würde der letzte Funken von Patriotismus ausgelöscht, wenn man ihm zumutete, "um dieses Reiches willen zum Christenthum zurückzukehren". (11 und 14, vgl. XIV f.) Zu Recht weist die Hgn. darauf hin, dass sich die Intensität der Freundschaft zwischen Overbeck und Treitschke erst durch die Kenntnis ihres Briefwechsels aus den Jahren 1860-1894 erschließen lässt, der - bisher nur unvollständig veröffentlicht - "zu den wichtigsten Dokumenten für die intellektuelle und insbesondere die politische Entwicklung" beider zu rechnen ist. (IX f.)

Stand Nietzsche der Freundschaft zwischen Overbeck und Treitschke deutlich im Wege (vgl. XII, Anm. 21 und XV), so war er im Blick auf die Beziehungen zwischen Overbeck und Rohde der Vermittler. Jedoch zeigt der Briefwechsel zwischen beiden (vgl. die Rez. in ThLZ 117, 1992, 213 ff.) auch die Eigenständigkeit dieser Freundschaft. Zu ihm bilden, wie die Hgn. schreibt, "die Aufzeichnungen Overbecks lediglich eine Ergänzung". Zudem sind sie weithin zu verstehen als Overbecks Reaktionen auf die 1902 erschienene Rohde-Biographie von Otto Crusius und den ebenfalls 1902 auf Betreiben von Nietzsches Schwester veröffentlichten Briefwechsel zwischen diesem und Rohde. (XVII f.) Hervorgehoben sei hier Overbecks Kommentar zur Entfremdung zwischen Rohde und Nietzsche und zum schließlichen Bruch 1887, der veranlasst wurde durch Nietzsches "Zarathustra" und die hier verkündete Lehre von der Wiederkunft des Gleichen. Rohde sah hierin später Symptome von Wahnsinn. Overbeck schreibt: "Als Rohde an N. irre zu werden begann, hat er in der That seine Zuflucht zu den Griechen genommen, was er, wie er als Philologe zu ihnen stand, wirklich konnte ... Mir hätte auch das Xsthm (Christentum) einen analogen ,Dienst' leisten können, nur dass ich es mir selbst als Theologe dazu schon vollkommen verdorben hatte." Während sich Rohde im Verhältnis zu Nietzsche als der "bessere" Grieche im moralischen Sinne bezeichnen lasse und dementsprechend zwischen den Griechen und Nietzsche habe wählen können, habe ihn selbst und Nietzsche der gemeinsame Antagonismus gegen das Christentum, "so wenig er ganz congruiren mochte", zusammen gehalten. (227)

Overbecks Aufzeichnungen über Nietzsche, die er auf Drängen von Heinrich Köselitz (Peter Gast) seit 1898 bis kurz vor seinem Tode 1905 niederschrieb, stehen im Zeichen der Auseinandersetzung mit der von Nietzsches Schwester betriebenen Vermarktung von dessen literarischem Werk und Nachlass. Der hier zu Tage tretenden Verfälschung entgegen zu treten, die er auch durch die von Elisabeth Förster-Nietzsche verfasste Biographie ihres Bruders befördert sah, hielt Overbeck für seine Pflicht. Des Weiteren beschäftigt sich Overbeck in seinen Notizen mit der um 1900 einsetzenden Nietzsche-Deutung sowie mit der Auseinandersetzung über Nietzsches Krankheit. Allerdings hat er alle diese Niederschriften selbst nicht publiziert, sondern lediglich für eine posthume Veröffentlichung vorbereitet. Nach 1906 und 1908 von C. A. Bernoulli vorgenommenen Teilveröffentlichungen, in denen die ursprünglichen Texte bearbeitet und verkürzt zugänglich gemacht wurden, liegen diese nunmehr in sorgfältiger Edition vor.

Aus den Aufzeichnungen geht die hohe Wertschätzung hervor, die Overbeck seiner Freundschaft mit Nietzsche beimaß, zugleich aber auch eine spürbare Distanz. "Nietzsche ist als Gelehrter gar nicht ernst zu nehmen, als Denker gar sehr, und ich glaube, dass es eben daran hängt, dass ich, der ich mich als Gelehrten immer noch höher schätze als ihn, auch als solcher Gelehrter so außerordentlich viel von ihm gehabt habe." (47)

So verwundert nicht Overbecks abweisende Haltung gegenüber wichtigen Aussagen von Nietzsche wie der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen und dem Gedanken vom Übermenschen. Overbeck berichtet, wie ihm Nietzsche 1884 in seine Lehre von der ewigen Wiederkunft einzuweihen suchte, "was aber in so extravaganten Formen geschah, dass es Erfolg auf mich als denkenden Menschen, der Lehrsätze nur logisch, aber nicht durch Faxen auffassen kann, nicht haben konnte, mich rathlos das Zimmer verlassen ließ und Nietzsche kein(en) ferneren Versuch dieser Art je wiederholen". (156) "Nur die mühsamste Geschichtsconstruction hat Nietzsche selbst gestattet, die Menschheit im Ernst in die zwei einander vermeintlich fremden Hälften der Herren und der Knechte zu spalten, um sich nur den Raum zu schaffen, wo er sich als Uebermensch unterbrächte." (201) "In der That wie kann im Bereich gesunden Denkens, d. h. sich innerhalb der Grenzen der Erfahrung bewegenden Denkens, überhaupt mit dem Begriff des Uebermenschen nur im Ernste etwas angefangen werden, wenn doch von Uebermenschen keinerlei Erfahrung uns lehrt." (255) Daneben sind freilich auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten oder zumindest Annäherungen in den Auffassungen zu konstatieren. Neben der Ablehnung des Christentums ist hier die Abweisung des Antisemitismus zu nennen, die Overbeck für Nietzsche geltend macht gegenüber Versuchen, ihn hierfür in Anspruch zu nehmen.

"In unserem Denken über Antisemitismus sind Nietzsche und ich, glaube ich, besonders enge Gesinnungsverwandte gewesen. Wie Fanatismus jeglicher Art, Nationalhaß so gut wie Religionshaß, uns besonders und gleich fern lag, wenn auch vielleicht aus sehr verschiedenen, in unserer eigenen Herkunft wurzelnden Gründen, so haben wir auch im Grunde für Antisemitismus kaum Verständnis gehabt." (32) "N. ist ein herzlicher Gegner des Antisemitismus, wie er ihn erlebt hat, gewesen. Was nicht hindert, daß wo er ehrlich spricht, seine Urtheile über die Juden allen Antisemitismus an Schärfe weit hinter sich lassen ... Sein Antichristenthum ist eben vornehmlich antisemitisch begründet." (101)

Besondere Aufmerksamkeit verdient Overbecks Kritik an der Beschäftigung von Theologen mit Nietzsche (194-199, 251-255). Diese ist natürlich im Zusammenhang zu sehen mit seiner Abgrenzung gegenüber seinen theologischen Zeitgenossen. Insbesondere richtet sich hier Overbecks Polemik gegen den Versuch, Nietzsche für die christliche Theologie zu vereinnahmen, eine Bestrebung, die er auch von dessen Schwester begünstigt sah. ",Herrschen - und nicht mehr Knecht eines Gottes sein: - dieses Mittel blieb zurück, die Menschen zu veredeln' - dieses Wort Nietzsches' ... sollte billigerweise allen Theologen den Geschmack an N. verderben, zumal den ,modernen', welche Religion und Xsthm (Christentum) mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkt des Machtmittels, des Mittels zur Weltherrschaft betrachten und schätzen." (196) Ein großer Teil von Overbecks Aufzeichnungen ist der speziellen Auseinandersetzung mit Nietzsches Schwester gewidmet, der er vorwirft, Leben und Werk seines Freundes zu verfälschen. Besonderen Stellenwert können hier Overbecks kritische Bemerkungen zur Veröffentlichung des Briefwechsels Nietzsches mit Jacob Burckhardt beanspruchen (256-269), darunter die von ihm vorbereitete, dann aber doch nicht veröffentlichte Presseerklärung und zwei unvollendete Stellungnahmen zu Nietzsches im Wahnsinn verfassten Brief an Burckhardt, der die Veranlassung gab, dass ihn Overbeck Anfang 1889 von Turin nach Basel in die dortige Psychiatrische Universitätsklinik überführte. Über die von Elisabeth Förster-Nietzsche verfasste Biographie ihres Bruders urteilt Overbeck, dass sie betitelt sein sollte: "Nietzsche von einer Köchin beschrieben". (271) Für den 1904 erschienenen Schlussband (II,2) zeichnete er zahlreiche kritische Notizen und Richtigstellungen auf. (270-293) Beachtung verdient der Hinweis der Hgn. auf das im Nachlass Overbecks erhaltene und von ihm kritisch durchgearbeitete Exemplar der Nietzsche-Biographie, das somit "das umfassendste Dokument der Differenzen" zwischen ihm und der Schwester Nietzsches darstellt. (XXXVII) Hieran anknüpfend kann gesagt werden, dass die vorliegende Publikation für die Nietzsche-Forschung ebenso wie für die Beschäftigung mit Overbeck einen Gewinn darstellt. Letztere sollte Overbecks Hinweis nicht übersehen, dass er "in Berlin im Sommer 1860 mit größter Begeisterung und Hingerissenheit Schopenhauers Parerga und Paralipomena gelesen" hat. (15)