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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1184–1187

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Oetinger, Friedrich Christoph

Titel/Untertitel:

Biblisches und emblematisches Wörterbuch. Hrsg. von G. Schäfer u. a.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XL, 434 S. m. Abb. u. IX, 364 S. gr.8 = Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VII, Bd. 3, 1 u. 2. Lw. DM 480,-. ISBN 3-11-004903-1.

Rezensent:

Martin Weyer-Menkhoff

Bereits 1759 edierte der eigenwillige württembergische Theologe Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) ein Kleines Biblisches Wörter-Buch im II. Teil seiner Weinsberger Predigten. 1776 gab er es in wesentlich erweiterter Form heraus als Biblisches und Emblematisches Wörterbuch dem Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesetzt. Wie er das seit der Swedenborg-Affäre oft tat, geschah dies anonym, ohne sich allerdings, was er sonst auch nie tat, Mühe zu geben, seine Autorschaft zu verbergen (prägnant T. 1, 269). U. Hardmeier weist (T. 2, 108 ff.123 ff.) auf, dass das inzwischen (1772) erschienene (neutestamentliche!) Wörterbuch des Berliner Neologen W. A. Teller, dem Oetinger sein (biblisches!) Wörterbuch nach Ausweis des Titels "entgegen gesetzt" wissen will, lediglich als Beispiel seine Bedeutung hat. Auch ohne Tellers Wörterbuch hätte Oetinger seine 2. Auflage herausgebracht, richtet sie sich doch gegen alle puristische Abstraktion der Inhalte wie des Erkenntnisverfahrens; als weitere Namen "falscher Schrifterklärungen" nennt Oetinger etwa Semler, Basedow, Wolff und Kerinth in einer Linie.

"Ist das nicht ein Gericht, wann man in der Bibel so herum wühlt, wie die Säue"? (T. 1, 53.3), bemerkt er zu Tellers rationalischer Auslegung der Dämonenumsiedlung in die Schweine (Mk 5). Zwar meine er es gut (8), doch: "Er leert nicht nur die Worte der Schrift aus, sondern er verdreht sie." (ebd.) Die "Sinnlichkeit" der Bibel dürfe nicht spiritualisiert oder moralisiert werden. "Die ganze Schrift ist voll sinnlicher Vorstellungen; und diese machen das meiste im Neuen Testament aus." (9) Es müsse gelingen, die Relevanz der Leiblichkeit für das Leben auch im Geistlichen zu erhalten (275). Dies könne man kaum ohne Rückgriff auf "gesunde" Traditionen aus der Antike bewerkstelligen. Hierzu zählt er auch die Kabbala und deren christlichen Übersetzer, Jakob Böhme. Oetinger dekliniert sein Anliegen zunächst im biblischen Teil seines Wörterbuchs, dann im emblematischen. So zieht er jeweils in der Perspektive eines Stichworts die Summe seiner Theologie. Das macht dies Buch zu einem seiner Hauptwerke. Es fordert nicht weniger als "die völlige Umstellung der Gedanken" (66, Art. Busse!) gegenüber dem "idealistischen" Zeitgeist.

"Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes" - so fasst Oetinger im Artikel Leib, Soma sein Lebenswerk zusammen (T. 1, 223). Es steht im Aufbruch der Aufklärung für den Aufgang eines weit helleren Lichtes, das nicht nur das Denken, sondern auch Leib und Leben, Gefühl und "Realität" erreicht. Oetingers Einwand gegen Intellektualismus beruft sich - in Bengelschem eschatologischen Bibelrealismus beheimatet - auf AT, Judentum, insbesondere die Kabbala, hermetische und andere Traditionen "der Alten", wie auch auf zeitgenössische physikalische Entdeckungen als Vorzeichen der erwarteten kommenden Zeit. Damit erweist sich Oetinger als Schöpfungstheologe in einer Zeit, in der diese Dimension naturalistischen oder ästhetischen Engführungen erliegen sollte. Es wundert daher kaum, dass Oetinger seit den 1960er Jahren, nach der Gottes- und späteren Schöpfungsdebatte wie auch einer trinitarischen Besinnung eine philosophische wie auch theologische Renaissance erlebte. Diese scheint nun mit der anzuzeigenden Edition zu einem gewissen Höhepunkt (und Abschluss?) gekommen zu sein.

Nach zwei rasch hintereinander ans Licht gekommenen Vorgängern (Bd. 1 Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia 1763 (hrsg. von Reinhard Breymayer) und Bd. 2 Theologia 1765 (hrsg. von Konrad Ohly) gab nun nach zwanzigjähriger Tragezeit die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus das wichtige Altershauptwerk Oetingers, eben dieses Wörterbuch von 1776 heraus, in dem sich das zitierte Wort von der Leiblichkeit in der so klassisch gewordenen Fassung befindet. Zur Leiblichkeit gehört manchmal viel Geld: Die erste Seite gibt einen Überblick von schwäbischen Unternehmen, denen Oetinger am Herzen liegt. - Man kann natürlich fragen, ob man nicht hätte viel dringender benötigte Werke wie etwa Oetingers Leben und Briefe neu auflegen sollen, denn das Biblische und Emblematische Wörterbuch ist durch E. Benz und D. Tschizewskij seit 1969 (19872) in einer Faksimile-Ausgabe bei Olms verfügbar. Andererseits sind ein Nachdruck und eine historisch-kritische Edition nicht miteinander vergleichbar.

Die vorliegende Ausgabe geht zurück auf eine Arbeit Ursula Hardmeiers bei Ulrich Mann von 1973. Dieser Urbestand ist nun breit ergänzt, überarbeitet und erneuert durch Beiträge von ihr selbst, Reinhard Breymayer, Eberhard Gutekunst, Roland Pietsch, Guntram Spindler und besonders Otto Betz. Weiterer Mitarbeiter und Herausgeber ist wieder in bewährter Weise Gerhard Schäfer. Er deutet an, dass mit diesem 3. Band die Reihe VII - Oetinger - mindestens zunächst beendet sei. Man ahnt die arbeitsmäßige und wirtschaftliche Erschöpfung: "Ein Wörterbuch über die heilige Schrift machen, ist ein Geschäft, wie Petri Netz flicken. Es ist mühsam für Lehrer und Zuhörer." (T. 1, 3) So wie Oetinger seine Vorrede beginnt geht es auch jedem, der einen so eigenen Polyhistor wie ihn edieren will. Man ist für die Anmerkungen, die den Text erschließen, dankbar. Wer ist schon in der Lage, die vielseitigen und oft auch ungenauen Anspielungen Oetingers zunächst nur wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen?

Die Ausgabe präsentiert sich wie ihre Vorgänger in zwei Teilen, dem Textband und dem Anmerkungsband. Warum das bei dieser Edition mit ihren eher knappen Anmerkungen so sein muss, leuchtet nur ein, wenn man einsieht, dass die Benutzung der Bände nebeneinander wenigstens zum Aufräumen des Schreibtischs zwingt!

Teilband 1 bietet den Text nicht nur der Ausgabe 1776, sondern auch des Vorgängers von 1759. Die beiden Textfassungen "A" (1776) und "B" (1759) sind, soweit abweichende Parallelen oder bei "B" Sondergut vorhanden sind, auf einer unterteilten Seite oder einem Apparat sowie in der Inhaltsübersicht (T. 1, XXVI ff.) überschaubar zusammengestellt, so dass der Vergleich leicht fällt. Wichtig sind hier die Beobachtungen Schäfers (T. 1, XVI): In der früheren Fassung finden "fast ausschließlich Stichworte, deren allgemeine theologische und kirchliche Relevanz sofort in die Augen springt", Aufnahme (z. B. Abendmahl, Adam, Antichrist, Auferstehung ...). Später fügt er viele Wörter hinzu, die zugleich in der Alltagssprache gebraucht werden (z. B. abgrenzen, Anfänger, Ankläger, Ausgang). Allerdings ergänzt er auch spezielle biblische Wendungen, die vor allem dem Verständnis Oetingerscher Theologie dienen (z. B. Crystalle und Edelgesteine, Empfindung, Erkenntnis, Heute, Wiederbringung). - Die Texte sind mit großer Sorgfalt zusammengestellt, Nachträge und fehlerhaft gestellte Artikel der Vorlage sind eingeordnet.

Teilband 2 bietet zunächst mit der knappen Hälfte seines Umfangs einführende Aufsätze und Exkurse. Da diese Oetinger-Ausgabenreihe auf eine fortlaufende Kommentierung verzichtet, gewinnen die Einführungen ihre besondere Bedeutung.

Otto Betz eröffnet mit seinen Ausführungen über Friedrich Christoph Oetinger und die Kabbala einen angemessenen Zugang zum Verständnis. "Ein hauptsächliches Hindernis für das rechte Verständnis von Oetingers Denken ist auch heute noch dessen Hang zur theosophischen Spekulation im Geist Böhmes und der Kabbala; kennt man diese nicht, bleibt auch Oetinger dunkel." (T. 2, 33) Er stellt heraus: "Mit Recht sah Oetinger in der von ihm als alt und ehrwürdig bewerteten jüdischen Kabbala einen starken Verbündeten im Kampf gegen Rationalismus und Aufklärung und ebenso eine Hilfe bei der Aufgabe, dem spiritualisierenden und moralisierenden Wörterbuch Tellers ein ... den Realismus der [Heiligen] Schrift betonendes Werk entgegenzustellen. Denn schon 500 Jahre früher [von Oetinger aus gerechnet, mwm] war die jüdische Kabbala als eine Art von Abwehrbewegung gegen eine philosophisch-rationale Deutung der hebräischen Bibel und der talmudischen Frömmigkeit aufgetreten." (T. 2, 8) Die Stärke des Vf.s liegt darin, dass er neben den Erläuterungen der wesentlichen kabbalistischen Vorstellungen dies in das Gesamtverständnis der Theologie Oetingers einordnet. Im Ergebnis betont Betz, wie Oetinger so zu seiner "theozoetischen" (T. 2, 15) Anschauung kam. Gott als Quelle des Lebens in der Materie gestaltend zu denken und in Kategorien der Sephirot-Lehre auszudrücken und in eine christliche Lebenstheologie zu integrieren - "damit hat Oetinger dem schwäbischen Pietismus ein fruchtbringendes theologisches Erbe vermacht." (T. 2, 21)

Reinhard Breymayer führt in seinem Grundsatzartikel über Oetinger und die Emblematik (T. 2, 42 ff.) nicht nur in die emblematische Thematik ein, sondern stellt beachtenswerte grundsätzliche Überlegungen zu Oetingers Sprach- und Denkwelt an. Das ist wichtig, weil Oetingers eklektische "Emblematik" nicht mehr sehr viel mit der barocken Emblematik zu tun hat (61.64). Überzeugend vergleicht er Oetingers nicht-lineares, "laterales", "eidetisches Denken" mit Strukturen der hebräischen Sprache sowie der Dichtung Hölderlins (57 f.). Sein Vergleich enzyklopädischer Weisheit mit heutigen Datenbanken scheint auch nicht zu weit hergeholt. Breymayer weist im Zusammenhang pietistischer Hermeneutik nach, wie diese historisch-emblematische Form der Logik "erdhafter", "weniger elitär" sei als die der kühl-distanzierten Allegorese (56.66).

Oetinger will die irdische Leiblichkeit für die höhere, himmlische erschließen, ohne die erstere abzuwerten. Hieran anknüpfend könnte in der Oetinger-Forschung zur Hermeneutik weitergearbeitet werden. - Wie von Breymayer gewohnt ist auch dieser Aufsatz mit bibliographischen Entdeckungen gespickt. So kann er etwa eine bislang nicht gewusste wesentliche Vorlage Oetingers für seine emblematischen Artikel nachweisen: Die Anatomia et physiognomia simplicum 1647 des Stuttgarter Hofapothekers Johann Gudrio 1647 (62.330 ff.). Ebenfalls steuert Breymayer 16 Exkurse zu bibliographischen Fragen bei (305-341).

Es folgen Einführungen zu Oetinger und Jakob Böhme (Roland Pietsch, T. 2, 71-84), zu seiner philosophia sacra (Guntram Spindler, 85-107), sowie eine historische Beleuchtung von Friedrich Christoph Oetingers Kampf gegen "falsche Schriftauslegung" (Ursula Hardmeier, 108-128). Hier finden sich Angaben zu einzelnen Neologen, mit denen sich Oetinger auseinandersetzt.

Die eigentlichen Anmerkungen füllen die andere Hälfte des 2. Teilbandes (129-304). Es handelt sich im Wesentlichen um Anmerkungen zu bibliographischen, biographischen und begrifflichen Einzelheiten, sowie um wichtige Erläuterungen. Bisweilen können die abgelegensten Verweise verifiziert werden (zum Beispiel 213). Eigentlich kommentiert wird nicht. Besondere Verdienste kommen Otto Betz zu, dessen biblische und judaistische Hinweise oft weiterhelfen. Die Anmerkungen der einzelnen Mitarbeiter und der Mitarbeiterin sind fortlaufend zum Text einfach hintereinander gestellt, wobei ein Siglum jeweils auf den Autor, die Autorin hinweist. Es sind dies neben dem Herausgeber und Otto Betz Eberhard Gutekunst, Ursula Hardmeier und Reinhard Breymayer (343; man vermisst hier kurze biographische Notizen, auch die anderen Autoren betreffend). - Der Rez. freut sich, dass einige seiner Forschungen inzwischen Allgemeingut geworden sind, so dass ein weiterer Hinweis überflüssig erscheint (zum Beispiel T. 2, 38, Anm. 124).

Die Anmerkungen sind wenig aufeinander abgestimmt, sowohl, was die Beiträge der Vff. angeht, vor allem aber auch die verschiedenen Anmerkungen zu verwandten Textstellen. Hier wären Verweise hilfreich gewesen, bei wiederkehrenden anmerkungsbedürftigen Stellen wären - neben den Aufsätzen - zentrale Anmerkungen sinnvoll, zum Beispiel zu den Sephirot, den Qualitäten Böhmes, den für Oetinger wesentlichen Bibelstellen wie etwa Jes 43,7/45,7 (vgl. dazu die verschiedenen Ausführungen zum Beispiel auf den Seiten 217, 240, 269). Gerade weil auf eine fortlaufende Kommentierung verzichtet wird, wären umfassendere Register wichtig gewesen, um die Einzelanmerkungen zu erschließen. Der 2. Teilband bietet Register zur abgekürzt zitierten Literatur, den Werken Oetingers sowie der in beiden Bänden erwähnten historischen Personen und Werke; hinzugefügt ist ein kurzes Literaturverzeichnis zu Judaica. Der Benutzer, die Benutzerin vermisst ein Register der wesentlichen Oetingerschen Begriffe und natürlich auch zumindest der biblischen loci classici Oetingers.

Dennoch ist die Freude über dieses weitere Hilfsmittel zum Verständnis Oetingers nur wenig getrübt. Sowohl zur Einarbeitung in Oetingers Theologie wie zu speziellen Studien ist diese neue Ausgabe des Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs sehr zu empfehlen. Druckfehler und Versehen sind äußerst selten und harmlos. (Mir fiel auf: T. 1, XVIII letzte Zeile "Theologie" statt Theosophie; S. 35 1. Zeile; T. 2, 28 letzte Textzeile "Mk 2,28" statt 2,18; S. 58 letzte Textzeile "S. 378" statt 379; S. 121 Anm. 86 erste Aufl. von Spalding: Bestimmung "1748", nicht 1768.) Aufmachung und Typographie müssen den Anbruch der Güldenen Zeit nicht fürchten!