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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1178–1180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schilp, Thomas

Titel/Untertitel:

Norm und Wirklichkeit religiöser Frauengemeinschaften im Frühmittelalter. Die Institutio sanctimonialium Aquisgranensis des Jahres 816 und die Problematik der Verfassung von Frauenkommunitäten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 242 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 137. Studien zur Germania Sacra, 21. Lw. DM 54,-. ISBN 3-525-35452-5.

Rezensent:

Matthias Werner

Der Vf. macht es sich in seiner Duisburger Habilitationsschrift zur Aufgabe, die bislang von der Forschung stark vernachlässigten geistlichen Frauengemeinschaften des frühen Mittelalters aus ihrer noch immer vorherrschenden Einschätzung als wenig eigenständige Sonderformen ihrer männlichen Pendants zu lösen und eine Neubewertung "im Spannungsfeld zwischen normativer Regelung und der gesellschaftlichen Entwicklung" (12 f.) vorzunehmen. Angesichts des großen Forschungsinteresses an der Rolle der Frau im Frühmittelalter, der lebhaften Diskussion über das frühmittelalterliche Mönchtum und der intensiven Erforschung hoch- und spätmittelalterlicher Frauenfrömmigkeit entspricht seine Arbeit einem dringenden Forschungsdesiderat und gilt einer in vielfacher Hinsicht zentralen Thematik.

Trotz neuer Sichtweisen zur frühmittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte, wie sie die Forschung gerade in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, verzichtet der Vf. weitgehend auf den spirituellen Aspekt seines Themas und konzentriert sich in einer Betrachtung gleichsam von außen auf "die Dimensionen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Einbindung" der frühmittelalterlichen Frauenkommunitäten in die Realität ihrer Zeit (209). Doch auch dieses Untersuchungsfeld schränkt er noch weiter ein, indem er der 816 beschlossenen "Institutio sanctimonialium Aquisgranensis" eine normative Quelle in den Mittelpunkt seiner Untersuchung rückt und nach deren Umsetzung bzw. Entsprechung in der Realität geistlicher Frauengemeinschaften vorwiegend des 9./10. Jh.s fragt.

Nach einem ausführlichen Forschungsbericht, der das schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens 1907 umstrittene Werk von K. H. Schäfer über die Kanonissenstifter als das noch immer einzige Standardwerk erweist und damit den desolaten Forschungsstand treffend charakterisiert (19-39), nimmt der Vf. zunächst eine Einordnung der 816 auf der Aachener Synode neben der Kanonikerregel erlassenen Institutio sanctimonialium für die kanonikal verfassten Frauengemeinschaften in den Kontext der karolingischen Reformgesetzgebung vor (40-58). Daran anschließend gibt er eine subtile textimmanente Inhaltsanalyse der Institutio, die bemerkenswerte Aufschlüsse zum Idealbild der karolingischer Reformer für nichtbenediktinische, d.h. nichtmonastische Frauenkommunitäten eröffnet und deutliche Orientierungen an pragmatischen Zwängen (z. B. keine lebenslänglich bindenden Gelübde, keine strikten Vorgaben für die Äbtissinnenwahl u. a.) erkennen lässt (59-99), zugleich aber auch den "Eindruck innerer Unausgewogenheit und Uneinheitlichkeit" (144) dieser Regel vermittelt. Der ausführlichste Teil der Arbeit gilt der Bewertung der Institutio. Er behandelt ihre Rezeption und Wirkungsgeschichte, ihre Vorstufen und Grundlagen - hier erweist sich der Vergleich mit der Benediktregel, der Aachener Kanonikerregel von 816 und der Nonnenregel des Caesarius von Arles als ungemein fruchtbar -, und die Methoden- und Forschungsprobleme bei der Überprüfung von Norm und Realität, zeigt die Affinitäten der Institutio zu den Interessen insbesondere des Adels auf und gibt, nachdem die Institutio als ein "Wendepunkt" für die Verfassung kanonikaler Frauenkommunitäten gelten darf, einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Frauenstiftsverfassung bis ins 12./13. Jh.

Das große Verdienst der Arbeit besteht in der facettenreichen Analyse der Institutio von 816 als eines wichtigen, den weiblichen Kommunitäten gewidmeten, aber von der Forschung bislang noch kaum gewürdigten integralen Bestandteils der karolingischen Reformgesetzgebung. Damit leistet der Vf. zugleich einen wichtigen Beitrag zur Verfassungsgeschichte kanonikaler Frauengemeinschaften im Früh- und Hochmittelalter und zur Diskussion über den Differenzierungsprozess monastischer und kanonikaler Lebensform seit dem 8./9. Jh. Die Konzentration auf Fragen der Verfassung und auf vorwiegend normative Quellen bedeutet mit Blick auf das Oberthema der Arbeit "Norm und Wirklichkeit religiöser Frauengemeinschaften im Frühmittelalter" allerdings zugleich auch eine empfindliche Einschränkung. Weite Bereiche sowohl auf der Ebene der Normen - für die ja etwa auch hagiographische Texte stehen -, wie der Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit durch die Zeitgenossen und der Alltagspraxis, die ja nicht zuletzt auch in der urkundlichen Überlieferung fassbar wird, bleiben ebenso fast völlig ausgeblendet wie die frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekte und der unverzichtbare eingehendere Vergleich der kanonikalen Gemeinschaften mit den stärker monastisch geprägten Frauenkonventen. Dieser merklichen Verengung entspricht es, dass der Vf. die Institutio zwar als eine für das gesamte Frankenreich vorgesehene Regel kanonikaler Frauenkommunitäten herausstellt, ihre Umsetzung in die Wirklichkeit fast ausschließlich anhand sächsischer Beispiele - und hier wiederum besonders Essen und Gandersheim - überprüft. Angesichts der tiefgreifenden Unterschiede innerhalb des karolingischen Großreiches, derer sich die Zeitgenossen zu Beginn des 9. Jh.s gerade auch mit Blick auf das geistliche Gemeinschaftsleben besonders bewusst waren, erscheint dies als eine kaum vertretbare Einengung, die die Ergebnisse des Vf.s zum Verhältnis von Norm und Wirklichkeit erheblich relativiert.

Insgesamt bietet die Studie somit eine weiterführende, auch für die Diskussion der karolingischen Reformen ertragreiche Bearbeitung eines zentralen Einzelaspekts und macht in willkommener Weise mit einer bislang zu wenig beachteten und in ihrer Eigenständigkeit nicht genügend gewürdigten Quelle bekannt. Für die umfassendere Untersuchung geistlicher Frauengemeinschaften und Frauenfrömmigkeit im frühen Mittelalter ist damit ein erster wichtiger Schritt getan, dem man baldige weitere Schritte wünschen möchte.