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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1176–1178

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Laarmann, Matthias

Titel/Untertitel:

Deus, Primum Cognitum. Die Lehre von Gott als dem Ersterkannten des menschlichen Intellekts bei Heinrich von Gent ( 1293).

Verlag:

Münster: Aschendorff 1999. XII, 528 S. gr.8 = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, NF 52. Kart. DM 124,-. ISBN 3-402-04003-X.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

"Heinrich von Gent ringt als christlicher Theologe mit philosophischem Verantwortungssinn um eine angemessene Sinngebung des menschlichen Erkenntnisaktes. Die naturale, präreflexive Kenntnis Gottes ist notwendig, damit der Maßstab, mit dem alles andere geordnet und an dem alles bewertet wird, notwendig ,früher' erkannt sein muß. Heinrichs Gottesbegriff ist folglich nicht nur der erste - und sei er noch so indistinkt - erkannte Gegenstand des menschlichen Geistes, sondern zugleich dessen Gewissheitskriterium. Das menschliche Erkennen muß Sicherheit besitzen, um zu seinem Ziel, der Schau Gottes, mit Erfolg zu gelangen" (311).

In diesen Sätzen ist faktisch das Ergebnis der Dissertation des Vf.s zusammengefasst, die er im Wintersemester 1996/97 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eingereicht hat. Laarmanns Intention ist es, die Lehre von Gott als Ersterkanntem des menschlichen Intellekts bei Heinrich (=HvG) im Kontext hochscholastischer Theorien sog. naturaler bzw. impliziter Gotteserkenntnis zu behandeln. Dass die Untersuchung schon durch ihren Umfang "leserunfreundlich" geraten ist, weiß der Vf.; sie ist aber auch hinsichtlich der Diktion, die - wovon obiges Zitat einen kleinen Eindruck gewährt - schwierig und mit zahlreichen ungewöhnlichen Begriffen geradezu gespickt (elizitiv, szientifisch, volitiv, ratiduninal u. v. a.). Dass die Untersuchung für den Druck gekürzt worden ist, merkt man ihr nicht an. Eine wesentliche Straffung wäre ihr sicher gut bekommen; das gilt besonders für die Teile I und IV, die nur indirekt mit dem Thema zusammenhängen. Für eine Dissertation ist die Studie aber nicht nur vom Umfang, sondern auch von ihrem Inhalt sehr gewichtig und sprengt durchaus den Maßstab, der an eine Dissertation gelegt werden muss; auch von einer Habil.-Schrift kann nicht mehr erwartet werden.

Nach einer Einleitung, die Auskunft über die Methodik und Absicht der Arbeit gibt, behandelt L. in einem 1. Teil Leben, Werk und theologische Ausrichtung des HvG, des "Doctor solemnis". Lange Zeit galt er zu Unrecht als Ordenstheologe der Serviten. Erst 1885 wurde deutlich, dass er Weltkleriker war. Er ist stark abhängig von augustinischer Theologie und steht in der Nähe der franziskanischen Theologie; der Einfluss des Alexander von Hales ist gut belegbar. HvG entwickelt seinen Theologiebegriff - wie viele seiner Zeitgenossen - in klarer Abgrenzung von Naturphilosophie und Metaphysik. Das komplementäre Verhältnis von Schriftautorität, mündlicher Überlieferung und authentischer Kirchenlehre ist bei ihm wohl zuerst in der Hochscholastik zu beobachten. Für die Entwicklung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens ist er Vorläufer von Duns Scotus. Die Erbsünde gilt ihm als krankhafte Veranlagung und Verkehrtheit des Willens. Hinsichtlich des Altarsakraments entwickelt er sakramentenontologische Theorien - vor allem hinsichtlich der Transsubstantiationslehre. Hier wäre auch auf Dietrich von Freibergs tractatus de accidentibus hinzuweisen, der schärfsten Kritik dieser Lehre im Mittelalter aus philosophischer Sicht.(1)

Im zweiten Teil stellt L. "Die Reichweite und Geltung aposteriorischer Gotteserkenntnis. Ihre Begründung, Entfaltung und Kritik bei Heinrich von Gent" dar (78-234). Die Ausführungen folgen einer vorzüglichen Hinführung zum Thema auf dem Hintergrund der Fundamentalkrise der christlichen Gottesidee am Beginn des 13. Jh.s. (Die "Krise traf in einer seit frühchristlichen Zeiten nicht mehr gekannten Wucht die Mitte des christlichen Glaubens, die christliche Wahrheit über Gott selbst, über sein Wesen und sein Wirken, über sein Offenbarsein und seine Erkennbarkeit für den Menschen", 82.) Es ging nun darum, eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, die hilft, "den Gott erkennend zu finden, den die biblische Botschaft bekennt als den einen sich selbst schenkenden Gott, der im Herzen der Menschen wohnen will" (88). Leitend ist für ihn der Begriff der Wesenheit, "der in sich vollkommenen, personal-geistigen Wesenheit Gottes" (99); er ist für ihn dasjenige Ziel, "durch das die gesamte Schöpfung zum Gutsein ... vorangebracht wird", er leugnet dabei aber "auf metaphysischer Ebene die Möglichkeit eines einheitlichen, einfachen Seinsbegriffs, der Gott und Geschöpf gemeinsam wäre" (109, 111). Der auch schon zu seiner Zeit geäußerten Kritik einer natürlichen Gotteserkenntnis hält HvG die Schriftautorität entgegen. Er entwickelt, Augustin folgend, eine Lehre vom deus absconditus. Gott offenbart sich nach seinem freien Willen, die "offene Schau" ist aber nur den Seligen im Himmel vergönnt (146). Für HvG ist "unwiderleglich offenbar, daß man notwendigerweise Gottes Existenz behaupten muß, wenn man die Existenz von Seienden behauptet" (Summa 22,4), der Gegenstand der Gotteserkenntnis des Menschen ist nicht die Wirklichkeit Gottes in sich, sondern veritatives Sein. Er betont, es gibt auch eine Vernunfteinsicht, die dem Glauben vorausläuft, das zu Glaubende begründet und den Glauben bewirkt, doch ist diese Einsicht nicht verdienstlich (167-172).

HvG setzt für die Wesenserkenntnis Gottes bei inneren Akten des menschlichen Geistes an, bei denen der Mensch sich seiner Grenzen bewusst wird, sich öffnet und seine Natur transzendiert. Doch das Offenbarsein Gottes ist für ihn nicht erzwingbar. Wichtig bleibt, dass für HvG "die Differenz von Philosophie und (Offenbarungs-)Theologie dahin geltend gemacht wird, daß die Philosophie gemäß der Kraft natürlicher Vernunft vom Sinnenfälligen und Verursachten zum Intelligiblen und Ursachelosen aufsteigt, während der Theologie auf Grund ihres übernatürlichen Erkenntnislichtes der umgekehrte Weg nicht nur möglich, sondern auch eigentümlich ist." HvG treibt "eine konsequente Theologisierung der Erstbegriffe", wobei er durchaus avicennische Begrifflichkeiten verwendet (177, 188, 190). Das Offenbarsein Gottes deutet er als "unerzwingbares Offenbarseinwollen", der Mensch wird der Begrenztheit seines Geistes inne (205). Ähnlich wie Thomas u.a. spricht auch er davon, das "Erkennen sei eine gewisse Angleichung des Erkennenden mit dem Erkannten" (217). Wenn aber vom Nichtwissen gesprochen wird, so ist damit keine neutrale Mitte gemeint, sondern es ist Ausdruck der Ehrfurcht vor der noch nicht erkannten, aber doch ersehnten Wahrheit (223). Hier begegnet uns die auch von Bonaventura rezipierte Lehre Augustins von der docta ignorantia.

Im dritten Teil stellt der Vf. den "Begründungsgang einer Ersterkenntnis Gottes als Teilelement eines apriorischen Gottesbeweises bei HvG" (235-336) nach einer sehr ausführlichen Darlegung seiner Vorläufer dar. Die naturale Gotteserkenntnis wird sofort und naturhaft mit der ersten Intention des Seienden erfasst, die rationale dagegen "in einem achtsamen Erkennen, das der Methode syllogistischer Deduktion folgt"; die Ersterkenntnis Gottes aus den Geschöpfen kann folglich nur als eine Form naturhaften Erkennens zu Stande kommen. Gott ist principium und finis allen menschlichen Erkennens: "Nichts kann noch so unvollkommen erkannt werden, wenn nicht ,früher' zumindest auf einer allergemeinsten Weise auch Gott erkannt ist", und nichts kann vollkommen erkannt werden, wenn nicht zuvor Gott vollkommen gewusst wird (290-294). So ist Gott "Totalgrund allen Wissens".

Die Lehre vom primum cognitum hat HvG fortgesetzt in der Lehre vom verbum informe. Hier entdeckt er Augustins Abditum-Mentis-Lehre neu. Dies hat dann Dietrich von Freiberg weitergeführt; er identifiziert das abditum mentis mit dem intellectus agens. Der Vf. vermutet, dass hier eine gegenseitige Kenntnis beider Denker vorliegt, doch habe HvG sich "einer Totaldivinisierung des menschlichen Intellekts" widersetzt (331, 335).

In einem vierten Teil behandelt dann der Vf. ausführlich das Fortleben der Primum-Cognitum-Lehre des HvG im Zusammenhang mit seiner allgemeinen Wirkungsgeschichte (337-457), worauf hier nicht mehr eingegangen werden kann. In einem Epilog fasst er die Ergebnisse noch einmal zusammen (458-467): Für HvG gibt es ein uranfängliches Erkennen Gottes als des zuerst Erkannten und des zuerst Gewollten. Die intellektuell-voluntative Gesamtaktivität des Menschen hat ihr Fundament in Gott, der sich ihm zu erkennen gibt. Der Mensch sucht zwar Gott, aber er hat ihn auch schon immer gefunden. Gott selber sorgt dafür, dass er in dieser Welt erkannt und verstanden werden kann, und für die Bedingungen, unter denen er erlösen und vollenden will. "Die uranfängliche Gotteserfahrung soll Gott als Wurzel der Rationalität und souveränen lebendigen Ursprung der Wahrheit erweisen" (461).

Fussnoten:

1) Dietrich von Freiberg: Abhandlung über die Akzidentien, übers. von B. Mojsisch, mit einer Einführung und einem kommentierenden Begriffsregister versehen von K.-H. Kandler, PhB 472, Hamburg 1994.