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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1126–1128

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Josuttis, Manfred

Titel/Untertitel:

"Unsere Volkskirche" und die Gemeinde der Heiligen. Erinnerungen an die Zukunft der Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 187 S. 8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-02083-8.

Rezensent:

Reiner Preul

Das neue Buch von Manfred Josuttis hat formal ein berühmtes Vorbild, das ihm aber zugleich inhaltlich als Negativfolie dient: Otto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche. Wie dieses Buch wendet es sich nicht nur, nicht einmal primär, an die Kollegen vom Fach, sondern an die breite Öffentlichkeit und ist entsprechend schmissig formuliert. Aber während Dibelius der vom Staat freigewordenen Kirche einen großen Funktionszuwachs für alle Bereich des gesellschaftlichen Lebens prognostizierte, ist J.’ Buch an solchen Funktionen der Institution Kirche nicht interessiert, ja voller Polemik gegen jede funktionale Kirchentheorie. Dem "Jahrhundert der Kirche", das sich als ein "Jahrhundert der Entkirchlichung" erwiesen habe (14), setzt J. "Die Zeit der Gemeinde" entgegen (167 ff.). Ihm geht es darum, "was Kirche zur Kirche macht und wie Kirche auch in der Zukunft Kirche bleibt" (9), und wenn man das wisse, so die Tendenz des Buches, dann könne man auf Reformkonzepte wie etwa das "München-Programm" (174) und vor allem auf die volkskirchliche Bedürfnisorientierung verzichten und die derzeit vor sich gehenden Veränderungen "geschehen ... lassen" (180).

Was Kirche sei, will J. sich weder von der Kirchenhistorie, noch von der Dogmatik, noch von der Religionssoziologie bestimmen lassen (17 ff.), sondern von einer "phänomenologischen Ekklesiologie", die auf die Kategorie des Heiligen rekurriert: "In der Kirche kommt es zur Gegenwart des Heiligen in der Gesellschaft" (17). Was nun wiederum das Heilige sei, erfährt man allenfalls in Andeutungen; Rudolf Ottos einschlägige Analyse wird seltsamerweise nicht zu Rate gezogen. Nach der Absage an Dogmatik - zu der sich auch die weitgehende Nichtbeachtung der ekklesiologischen Kategorien und Distinktionen reformatorischer Theologie fügt - fragt man sich, wie es dann überhaupt um das spezifisch christlich-theologische Profil dieses "phänomenologischen Ansatzes" bestellt ist. J. gewinnt es mittels einer sich durch alle Kapitel des Buches hinziehenden Auslegung des Epheserbriefes. Dessen (nicht die paulinische) Vorstellung vom Leibe Christi und der darin Gestalt gewinnenden "Fülle der Gottheit" zusammen mit der wiederholten Ankündigung "Die Kirche von morgen wird eine mystische sein" (68, 83) bildet den theologischen Grundgedanken des Buches. Man wüßte dann freilich auch gern, wie J. sich gegen Pius’ XII Enzyklika "Corpus Christi mysticum" abgrenzt.

Die Zukunft der Kirche besteht darin, daß sie sich an die Kirche des Epheserbriefes erinnern läßt. Die Kirche im Sinne des Epheserbriefes, der Leib Christi, wird nun von J. mit eigentümlichen physikalischen Metaphern beschrieben wie "energetisch geladener Raum", "Stromkreis" (55), "Wirkungsfeld der Pleroma-Macht" (58), "energetischer Zirkel der Fülle Gottes" (39), "göttliche Atmosphäre" (113), "morphogenetisches Kraftfeld" (178, vgl. auch 107: "Flußerfahrung der Gottesfülle"). Kategorien klassischer Ekklesiologie und Pneumatologie, die die Kirche als Gemeinschaft von Personen beschreibt, die je einzeln durch das Zusammenspiel von klar ausgerichtetem verbum externum und Wirken des Geistes in die Wahrheit ihrer Existenz vor Gott und den Menschen geführt wurden, treten demgegenüber auffällig zurück.

"Unsere Volkskirche" - stets in Anführungszeichen und wie mit spitzen Fingern angefaßt - muß viel pauschale Kritik einstecken. Etwa: "Homosexualität als biopsychische Gegebenheit bleibt verfehmt. Mammonismus als soziale Realität wird akzeptiert" (165). Darstellungsmittel dieser Kritik ist die Abfolge von Kontrastpaaren (z. B.: "Die Fülle der Gottheit und die Leere der Kirchen", "Die Erwählung durch Christus und die Werbung durch Menschen", "Das Geschenk der Gnade und die Besoldung der Pfarrerschaft"), wobei aber der zunächst pointiert formulierte Gegensatz nicht selten nachträglich relativiert wird und dem Leser als Theaterdonner erscheint. Beachtenswert ist, was J. über die Bürokratisierung und über das Überhandnehmen sekundärer, übergemeindlicher Kommunikation schreibt (124f.). Auch daß er die Zukunft der Kirche in wiederentdeckten Chancen der Einzelgemeinde sieht, scheint mir zustimmungsfähig. Und daß überhaupt die Kirche nicht mit irgendwelchen bestandserhaltenden Bemühungen um die Volkskirche steht und fällt, ist sicher eine entlastende Einsicht.

Im Ganzen kann man dem Vf. aber nicht den Vorwurf ersparen, daß er sich nicht einmal die Mühe macht, sich nach einem tragfähigen Begriff der Volkskirche umzusehen. Die konkrete Gestalt der Kirche will er einerseits, in normativer Absicht, durch die Figur von konzentrischen Kreisen um ein Symbole und Rituale pflegendes Heiligtum - von Personen, "die aus der Kraft des Heiligen und für die Verehrung des Heiligen ihr Leben bestimmen", über Menschen, die "Verpflichtungen zu regelmäßiger Teilnahme und Unterstützung eingehen", bis zu Leuten, "die sich dem Energiefeld des Gemeindezentrums gelegentlich zuwenden" (52) - andererseits, deskriptiv, durch die Begriffstrias "Organisation, Milieu und Leib Christi" (178, vgl. 40, 51) bestimmen. Durch diese Trias soll "die Einseitigkeit einer soziologisch formulierten, aber dogmatisch gefüllten Ekklesiologie vermieden werden" (178). Damit wird aber genau das verworfen, was sachgemäß, orientierungskräftig und mit den Einsichten der Reformation vermittelbar ist. Denn die erfahrbare Kirche ist nun einmal auf allen Ebenen ein soziales System, das als solches nicht nur in seiner Binnendifferenzierung, sondern auch in seinem Verhältnis zum Ensemble der gesellschaftlichen Institutionen mit den einschlägigen human- und sozialwissenschaftlichen Mitteln zu untersuchen ist, aber sie ist, will sie congregatio sanctorum sein, ein solches System, das zu seiner Selbstunterscheidung, Selbsterkenntnis und Selbststeuerung eines von der Systematischen Theologie zu präzisierenden Wesensbegriffes bedarf. Einseitig ist vielmehr ein Entwurf, der die Dimensionen und realen Bedingungen kirchlichen Handelns in ihrer Ganzheit und in ihrem Zusammenhang nicht erfaßt.