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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1167–1172

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Angenendt, Arnold

Titel/Untertitel:

Geschichte der Religiosität im Mittelalter.

Verlag:

Darmstadt: Primus 1997. XII, 986 S., 19 Abb. gr.8. DM 128,-. ISBN 3-89678-017-4.

Rezensent:

Sven Grosse

20 Jahre hat Arnold Angenendt, Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät von Münster an diesem Buch gearbeitet, mit welchem er ein Forschungsdesiderat erfüllt, das Peter Dinzelbacher in seinem 1990 publizierten Aufsatz über ,Mittelalterliche Religiosität' formuliert hat, nämlich eine interdisziplinär angelegte "Geschichte der mittelalterlichen Religiosität", verfasst von einem "einzigen Bearbeiter" (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 80, 14-34, 15 f.).

A. hat damit ein Werk geschaffen, das die Totalität des gegebenen Forschungsgegenstands umfasst, eingehende Kenntnis der Quellen verlangt und sich auf dem neuesten Stand der Forschungsdiskussion befindet. Allerdings führte offenbar eine solch intensive Teilnahme am gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb dazu, dass sehr häufig gar nicht mehr der Fundort in der Quelle selbst angegeben wird, sondern in einem Werk der Forschungsliteratur, und beispielsweise die Beurteilung biblischer Sachverhalte nicht mehr dem eigenen Urteil entspringen, sondern dem einer fachwissenschaftlichen Autorität. - Was Gegenstand und Methode betrifft, greift A. ausdrücklich auf den genannten Aufsatz Dinzelbachers zurück (A., 25), so wie dieser wiederum von Friedrich Heilers großem Werk ,Erscheinungsformen und Wesen der Religion' (Dinzelbacher, 18; Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961, 2. Aufl. 1979) ausgeht. Dinzelbacher definiert nun "Religiosität" als ,"Religion' nur vom Menschen her", unter Absehung von der Frage, ob Religion einen Gegenstand in der Wirklichkeit habe, also ob es eine Transzendenz gebe oder nicht (Dinzelbacher, 17). Religiosität umfasst Spiritualität, Frömmigkeit (den gelebten Vollzug von Glauben, im Unterschied von Spiritualität auch ohne die bewusste Reflexion über sich) und Volksreligion. Die Theologie nimmt Dinzelbacher bei dieser Begriffsbestimmung aus, jedoch spricht auch er von Wechselwirkungen zwischen Hochtheologie und Volksreligiosität (Dinzelbacher, 22, übereinstimmend A., 25 f.), weshalb A. die Theologie ganz konsequent auch als Unterabschnitt (Kap. 7.3) in sein Werk eingefügt hat.

Mit der methodischen Absehung von der Frage einer Existenz der "Transzendenz" unterscheidet sich Dinzelbacher grundlegend von Heiler, der sich mit Nachdruck dazu bekannt und sie zur Grundlage seiner gesamten Darstellung gemacht hat.(1) Noch stärker unterscheidet sich A.s Ansatz, wie Dinzelbacher konsequent mit religionsgeschichtlichen Kategorien zu arbeiten, von einer Begriffsbestimmung der Kirchengeschichte wie der Hubert Jedins in der Einleitung des illustren katholischen ,Handbuchs der Kirchengeschichte': "Der Gegenstand der Kirchengeschichte ist das Wachstum der von Christus gestifteten Kirche in Zeit und Raum", diesen Gegenstand empfange sie von der Glaubenswissenschaft, der Theologie, und halte sie im Glauben fest.(2)

In der Auswahl der Einzelthemen folgt A. wie auch Dinzelbacher (Dinzelbacher, 22-33) weitgehend derjenigen Heilers, jedoch ohne dessen Systematisierung, die davon abhängig ist, dass alle Erscheinungsformen von Religion einen Wesenskern haben, nämlich die Transzendenz, Gott selbst. Von einer konventionellen Kirchengeschichte unterscheidet sich A. damit dadurch, dass beispielsweise Raum, Ort und Zeit, insofern sie religiös aufgefasst sind, eigene Gegenstände der Darstellung sind,(3) und vor allem der breite Raum, den die Liturgie in seinem Werk einnimmt. Die Theologie kommt in diesem Ganzen nur in der Weise vor, dass die Existenz und das Treiben der Wissenschaft "Theologie" Gegenstand der Forschung wird; Ereignisse und Entwicklungen der Kirchengeschichte finden sich eingeordnet in Kap. 10 ,Die Gemeinde und die Gemeinschaft' (10.4. Kaisertum und Papsttum, als Aspekt von 10.3.: Die Gemeinschaft der Heiligen).

Nun hat zwar die Reihenfolge, in die A. seine Einzelthemen stellt, Ähnlichkeit mit derjenigen klassischer Dogmatiken: er beginnt nämlich mit Gott und endet mit der Eschatologie, doch gründet sich darauf keinerlei Systematisierung; die Themen folgen vielmehr katalogartig aufeinander.

Teil I: ,Das "Religionsgeschichtliche Mittelalter'" (enthält die metho-

dologischen Prolegomena und, unter dem Titel ,Epochen und Bewe-

gungen', eine chronologisch geordnete Kurzfassung des ganzen Werkes)

Teil II: ,Die überirdischen Mächte' (angefangen mit Gott, bis hin zu

Maria)

Teil III: ,Offenbarung und Lehre' (nämlich die Bibel und

die Theologie)

Teil IV: ,Welt und Menschen' (darin auch das erwähnte Kapitel 10)

Teil V: ,Die Liturgie'

Teil VI: ,Gnade und Sünde'

Teil VII: ,Sterben, Tod und Jenseits'

Die anderen Elemente des Titels von A.s Buch, nämlich "Geschichte" und "Mittelalter" ergeben sich aus Dinzelbachers Forderung, statt dem Wesen der Religion, wie bei Heiler, ihre Geschichte und ihre Regionalisierung zu betrachten (A., 25; Dinzelbacher, 18). Mit dem Mittelalter ist auch der geographische Raum festgelegt, nämlich das lateinisch-sprachige, das römisch-katholische Europa, denn dort fand Mittelalter statt. A.s Quellen stammen vorzugsweise aus dem damaligen Deutschen Reich, den britischen Inseln, Frankreich und Italien.

Mit der Fokussierung auf die Geschichte der Religiosität gelangt A. nun zu den Prinzipien, die seine Auffassung dieser Geschichte bestimmen und strukturieren. Er greift Karl Jaspers' Begriff der "Achsenzeit" auf und zitiert aus dessen Werk ,Ursprung und Ziel der Geschichte':

"Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden Prozess. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese Zeit sei in Kürze ,Achsenzeit' genannt. In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, ..., in Indien lebten die Upanischaden, lebte Buddha ..., in Palästina traten die Propheten auf ... Griechenland sah ... die Philosophen." (Karl Jaspers, Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, 19 f., bei A., 14)

Zu dem Begriff der Achsenzeit gehören Begriffe wie Hochreligion und Hochgott, ihnen entgegengesetzt ist der Begriff der archaischen, der einfachen Religion bzw. Religiosität. A. übernimmt diese Begriffe aus der Konvention der Forschung, ohne jedoch damit eine eindeutige Wertung zu verbinden. Bei Friedrich Heiler war noch eine Rangfolge konsequent, glaubte er doch, dass eine Religion um so höher stehe, je reiner in ihr das Wesen aller Religion verwirklicht ist.(4) Bei A. fällt diese Wertung aus, weil er auch nicht ihre Voraussetzung macht, es bestehe ein objektiver Wesenskern der Religion. An ihre Stelle tritt ein Respekt des Forschers vor allem, was er wahrnimmt, ja auch eine gewissen Affinität zu den einfachen Formen, die aus A.s "Herkunft aus einer volkskatholischen und doch schon angefragten Dorfwelt" (A., XIII) herrühren mag, und der Sogkraft gegenübersteht, die gleichwohl der Begriff des achsenzeitlichen, entwickelten Denkens ausübt.

Geschichte ist nun für A. beherrscht von der Spannung zwischen diesen beiden Polen. "Genau dieser Widerstreit ist das religionsgeschichtliche Problem des Mittelalters." Sein Beginn ist markiert durch den Zusammenbruch einer Hochkultur, das massive Einbrechen archaischen Denkens mit dem Eindringen der Germanen in den Westen des Römischen Reiches, dann noch einmal mit der Mission irischer Mönche in Germanien.

"Zunächst ist es die Rückläufigkeit, die dem Mittelalter in aller ,aufklärerischen' Forschung den pointiert negativen Stellenwert eingebracht hat, seine ,Finsternis'. Dann aber ist es die Wiedergeburt zu einer neuen ,Helle', die das Mittelalter zu einer Epoche ganz eigener Art werden ließ. Dem Betrachter stellt sich eine herausfordernde Doppelaufgabe: zum einen, welchen Reduktionen das antike und christliche Erbe im Mittelalter unterworfen wurde und welchen Umformungen oder - je nach Beurteilungsweise - welche Deformierungen sich dabei vollzogen; zum anderen, welche Neuaufbrüche und Vorwärtsschübe das Mittelalter hervorzubringen vermochte. Neben den ,Verlusten' ist darum ebenso der ,Gewinn' zu registrieren, der in der Regel ein ,Wiedergewinn' gewesen ist. Das sind die ,Renaissancen', zuerst die karolingische, dann die des 12. Jahrhunderts und endlich die ursprünglich allein so benannte ,Renaissance' der frühen Neuzeit." (A., 25 f.)

Diese Gesamtschau entwickelt A., indem er seine Darstellung in den einzelnen Kapiteln seines Werkes bereits mit dem "bibli-schen Befund", vor allem der neutestamentlichen Schriften, beginnen lässt, die Alte Kirche durchgeht und dann sehr dicht die Entwicklung im Mittelalter. Endpunkt ist dann übrigens häufig Luther. Dabei fällt allerdings schon auf, dass die "Renaissance" der frühen Neuzeit nun doch keineswegs in der Durchführung die Grenze abgibt. Es wäre bei der von A. entwickelten Begrifflichkeit auch zu fragen gewesen, wo denn ein Unterschied oder ein Einschnitt zwischen der Renaissance des 12. und der des 15./16. Jh.s liegt. Das späte Mittelalter schließlich verfügte über eine sehr hoch elaborierte Religiosität. Eine Konsequenz dieses Ansatzes ist auch, dass die "Hellenisierung des Christentums" schon als Fragestellung kaum eine Rolle spielt, stimmen doch "achsenzeitlich" die Propheten Israels und die Philosophen Griechenlands miteinander überein (einzig A., 90-92).

Doch wollen wir uns nun an einigen Beispielen die Durchführung dieses großen Forschungsprojekts ansehen und betrachten, wie A. konkret seine religionsgeschichtlichen Begriffe anwendet.

a) Die Missionierung der Germanen bedeutete, dass sich schon im Frühmittelalter die Vorstellung eines "Hochgottes" durchsetzte. Der "Hochgott" ist dadurch charakterisiert, daß er über allem anderen steht, Vater genannt wird, im Himmel wohnt und der Schöpfer der Welt ist. Diese Vorstellung verdrängte nicht nur die archaischen Vorstellungen von Göttern - wovon A. nicht spricht -, sondern auch von einem blinden, unpersönlichen Schicksal, der "Wurd", die hinter den Göttern steht (A., Kap. 3: Gott, 89 f.; 109-112).

b) Die Bibel hatte bereits in der Alten Kirche eine vergeistigende allegorische Auslegung erfahren. Das überlieferte metaphorische Sprechen wurde nun im Frühmittelalter gar nicht mehr metaphorisch verstanden, sondern archaisierend realistisch (A., 36). In die andere Richtung hin bewirkte die Renaissance des 12. Jh.s, und zwar die Scholastik, eine Eliminierung des metaphorischen Sprechens überhaupt (A., Kap. 7: Bibel und Theologie, 178 f.; 186-188).

c) Die Heiligkeit bestimmter Orte, an denen allein ein besonderer Zugang zum Göttlichen möglich sei, war, typisch achsenzeitlich, mit den Worten Jesu Joh 4,23 f. aufgehoben. Bereits am Ende der Antike begannen Christen dann doch, heilige Stätten zu verehren und aufzusuchen. Doch beruhen sie, anders als in einer ungebrochen einfachen Religiosität, "nicht auf einer naturgegebenen oder kosmischen Heiligkeit", "wohl aber auf dem Segen heiliger Personen". Gleicherweise entstehen auch Reliquien dadurch, dass die ,ethische' Heiligkeit bestimmter Personen an ihren körperlichen Überresten haften bleibt (A., Kap. 8: Raum und Zeit, 208 ff., Zitat 208).

d) Typisch für die archaische Auffassung der Zeit ist die Ursprungszeit, die "primordiale Zeit" an dem im Mythos erzählten Anfang der Geschichte. Alles Bestehende muss sich legitimieren dadurch, dass es sich auf diesen Anfang zurückführen lässt. Diese Zeitauffassung beherrschte auch das Mittelalter. Es geriet jedoch in eine gewisse Spannung hinein dadurch, dass die "ecclesia primitiva" ihren Ort mitten in der historisch erforschbaren Geschichte hat (A., Kap. 8: Raum und Zeit, 223 ff.). Der Mythos hingegen ist ahistorisch bzw. ahistorisierend. Dies zeigte sich in der Typisierung historischer Heiligengestalten in der Legende (A., Kap. 8: Raum und Zeit, 229 ff.).

e) Einschneidend achsenzeitlich war hingegen schon im Frühmittelalter die Entdeckung des Ich. In der archaischen Vorstellungswelt der Germanen gab es kein empfindendes, denkendes, handelndes Ich, sondern ein Einwirken einer körperlich vorgestellten Substanz außerhalb des Menschen auf eine andere, ebenso körperlich vorgestellte Substanz im Menschen, wodurch er zu seinen Empfindungen, Gedanken und Taten kommt. Diese Vorstellung ist schon im ,Heliand' (um 830) im Zurückweichen begriffen: der Mensch erkennt sich als "Ich" (A., Kap. 9: Der Mensch und die Familie, 242 ff.). Andererseits gab es im Frühmittelalter in Visionen die Vorstellung der Seele als etwas Leiblichem: nur durch die Öffnung der Kehle kann sie aus dem Leib entweichen (A., Kap. 9: Der Mensch und die Familie, 259).

f) Archaisch ist das Fehlen der Auffassung von einer umfassenden Welt. Jede Gemeinschaft, jeder Stamm hat einen eigenen Horizont für sich. Es gibt keinen Allgemeinbegriff für Menschen, bzw. "Mensch" ist nur jemand im eigenen Stamm. In den Germanenreichen der Völkerwanderungszeit kehrten solche "Gentilstrukturen" wieder, doch verschwanden sie mit Karl dem Großen. Der christliche Universalismus beherrschte, verknüpft mit der Idee des erneuerten Imperium Romanum, seitdem das Mittelalter (A., Kap. 10: Die Gemeinde und die Gemeinschaft, 295 ff.; 334 ff., insbes. 337).

g) "Wie M. Eliade zufolge", sagt A., "die archaische Welt profane Handlungen nicht kennt und jede verantwortliche Handlung rituell gestaltet, so gilt es auch für das Mittelalter: Liturgie mußte stets zur Hand sein"5. Damit war aber eine Akzentverschiebung gegenüber der Gründungsgestalt des Christentums vollzogen, denn der "zum Heil unabdinglich geforderte Glaube und die Verpflichtung zur Nachfolge Christi sind nicht von liturgischer Art" (A., 352).

Archaisch ist die äußerste Formstrenge bei der Durchführung von Riten. Das liturgisch verwendete Wort musste buchstabengetreu gesprochen werden (A., 37). Im Hochmittelalter begann, sich im Spätmittelalter noch steigernd, eine Gegenbewegung. Der Ritus wurde dabei nicht verändert, doch der Akzent lag nun auf der Verinnerlichung seines Inhalts; innerhalb seiner festgefügten Formen trachtete man zur Ekstase zu gelangen (A., 485 ff., vgl. 535 ff.).

Andererseits gelangte das "portionshafte" Verständnis der Messe, im Frühmittelalter entwickelt, gerade im Spätmittelalter zum Höhepunkt: jede Messfeier bewirkt einen bestimmten, abmessbaren Segen, der also durch die Häufung der Messfeiern gesteigert werden kann. Hier verursachte erst die Reformation in ihrem Einflussbereich einen vollständigen Wandel (A., 494-495).

h) In der Einschätzung dessen, was Sünde ist, setzte sich im frühen Mittelalter der Gedanke durch, dass die verbotene Tat, auch wenn sie nicht mit Absicht begangen worden ist, an sich schon in vollem Umfang zu strafende Schuld darstellt. A. stellt hier die Frage: "Hat etwa das frühe Mittelalter den achsenzeitlichen Zugewinn wieder rückgängig gemacht? Hat dabei das Mittelalter etwas wesentlich Christliches verloren?" Ab dem 12. Jh., bei Abaelard, setzte sich dann aber wieder der achsenzeitliche Begriff der Intentionshaftung gegenüber der Tathaftung durch (A., 619 ff., Zitat 619).

i) Schließlich zeigte sich in der Eschatologie das ganze Mittelalter hindurch archaisches Denken, wenn beispielsweise das Feuer des Purgatoriums und der Hölle als etwa reales, nicht-metaphorisches aufgefasst wurde (A., 706; 737 ff.).

Diese ausgewählten Beispiele belegen, wie weit die religionsgeschichtliche Polarität von archaischer und achsenzeitlicher Vorstellungsweise als heuristisches und als hermeneutisches Prinzip trägt, um Zusammenhänge und Entwicklungen in der Geschichte des Mittelalters zu entdecken und zu verstehen. Besonders gut gelingt A. die Hinführung zu einem Verständnis archaischer Religiosität. Es handelt sich um das Kunststück, den "achsenzeitlichen" Leser seines Buches in eine Welt hineinzuführen, die ihm so fremd ist wie er selber ihr fremd sein dürfte: ein archaisches Bewusstsein ist nicht imstande, eine Geschichte seiner Religiosität hervorzubringen. In dieser heuristischen und hermeneutischen Leistung, in der dichten Materialfülle und in der Totalität der Schau liegen wohl die bleibenden Verdienste dieses Buches. Doch sollen hier auch Grenzen und Einwände zu Wort kommen.

Geht es um das Verständnis der anderen Seite der Polarität, wird A. sehr häufig unscharf und unsicher; nicht selten gleitet sein Urteil ab bei der Darstellung und Beurteilung dogmatischer Sachverhalte. So hält er, trotz der dogmatischen Tradition, die sich diesem Thema gewidmet hat, die Sentenz "deus, qui nullum peccatum impunitum dimittit" für eine angesichts des Gleichnisses vom verlorenen Sohn "geradezu unbegreifliche Aussage" und verkennt, dass sowohl bei Origenes wie bei Tertullian die Güte und die Strenge Gottes sich in einem dialektischen Verhältnis befinden, das sich erst im Eschaton auflöst (A., 629 [Zitat]; 93-106).

Gegen das religionsgeschichtliche Schema sind selbst gleichfalls Einwände zu erheben. Wesentliche Teile der mittelalterlichen Kirchengeschichte wie der Antagonismus von Kaiser und Papst und die christliche Liebestätigkeit werden zwar abgehandelt, doch trägt die religionsgeschichtliche Polarität zu ihrem Verständnis nichts Wesentliches bei. Sodann ist der Pol des hochentwickelten Denkens näher zu bestimmen: ist er "Hochreligion" oder ist er eine auf Vernunft, nicht auf Glaube begründete Metaphysik vom höchsten Sein oder ist er eine kritische intellektuelle Haltung mit einer nur noch sehr abstrakten Beziehung zur "Religion"? Eine solche drückt sich in den Worten von Leszek Kolakowski aus, die A. in seinem Epilog zitiert, um die Frage nach dem Ertrag dieser so sehr von Religion durchtränkten Epoche für uns Heutige zu beantworten: das Christentum könne als "Hilferuf" gelten, denn es "brachte den Menschen deutlich ihre Bedingtheit und die Endlichkeit des Lebens, die Vergänglichkeit des Körpers, die Beschränktheit der Vernunft und der Sprache und die Macht des Bösen in uns zu Bewußtsein".(6)

Schließlich ist zu fragen, ob das Christentum in seiner auch für die mittelalterliche Kirche verbindlichen Gründungsgestalt sich überhaupt als achsenzeitliche Hochreligion auffassen lässt, was A. ständig voraussetzt. Auch ein methodisch von seinem eigenen Glauben oder Unglauben absehender Betrachter wird feststellen, dass ein wesentliches und zentrales Element dieses Christentums nämlich die Menschwerdung des "Hochgottes" ist.(7) Ein weiteres zentrales Element des Christentums ist, sich diesem anschließend, die Erlösung durch Jesu Leib und Blut. Dies ist gerade einem Charakteristikum von Hochreligion entgegengesetzt, das sich nun auch im Christentum findet und von A. immer angeführt wird: dass anstelle des materiellen Opfers das Opfer der Gesinnung tritt (Hos 6,6; Mt 9,13)(8).

Offenbar vereint das Christentum schon in seiner Grundanlage typisch hochreligiöse Elemente mit solchen, die ihnen religionsgeschichtlich bzw. religionstypologisch genau entgegengesetzt sind. Liegt nun darin nicht die Fähigkeit des Christentums begründet, unter Bedingungen eines "archaischen" Bewusstseins zu existieren wie zuvor und später dann wieder unter "achsenzeitlichen" Bedingungen, ohne sich selbst dabei aufzugeben oder im Wesentlichen zu vermischen? Damit ist aber eine neue Fragestellung für die Erforschung mittelalterlicher Kirchengeschichte gestellt, die durch A.s großes Werk provoziert, aber noch nicht selber angewandt wird.

Fussnoten:

1) Heiler, 4-6, vgl. die sein Werk bestimmende Strukturierung der Welt der Religion, 19-21, und, kennzeichnend, die Forderungen, der Religionsforscher habe durch die dargestellten Phänomene hindurch zum Wesen vorzustoßen, Ehrfurcht vor aller wirklichen Religion zu empfinden und selber religiöse Erfahrung zu haben, 16 f.

2) Hubert Jedin, Einleitung in die Kirchengeschichte, Handbuch für Kirchengeschichte, hrsg. v. Hubert Jedin, Bd.1, Freiburg u. a. 1962, 2.

3) Vgl. Dinzelbacher, 16 f., die "Beziehungen des Menschen ... zu seiner irdischen Umwelt" (Mitmenschen, Natur), "insoweit diese Beziehungen dem Bereich der Religion angehören".

4) "... als ließen sich die Anfänge der Religion bei den kulturarmen schriftlosen Stämmen finden. Man kann aber das Wesen der Religion nicht aus ihren ärmlichsten Äußerungen erfassen;" Heiler, 7.

5) A., 353, mit Verweis auf Mircea Eliade, Kosmos und die Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt/Main 1984, 41.

6) Leszek Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt, München/Zürich 1982, 185 f., zit. bei A., 757.

7) Es ist ein Versuch, dies in sein Schema hineinzupressen, wenn A. meint, man könnte "doch die Inkarnation Jesu Christi als Verdichtung, ja als realleibliche Gestalt des Gottesgeistes ansehen", von dem doch zumindest ein metaphorischer Leib ausgesagt werden muss, will man überhaupt von ihm reden, 147.

8) A. stellt beides zusammen, 133; 363-365, ohne auf die grundsätzliche Spannung aufmerksam zu werden, die sich dadurch ergibt.