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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1160 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lindemann, Andreas

Titel/Untertitel:

Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck, 1999. V, 333 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-16-147189-X.

Rezensent:

Jürgen Becker

Der Band vereinigt fünfzehn Aufsätze des Autors aus den Jahren 1976-1998 und ist damit Zeuge einer kontinuierlichen und zugleich souveränen Beschäftigung des Betheler Neutestamentlers mit der Hinterlassenschaft des Paulus. Die Aufsätze sind unter zwei Perspektiven geordnet: Acht Veröffentlichungen stehen unter dem Thema: "Studien zur paulinischen Theologie und Ethik", sieben ordnen sich dem Leitgedanken: "Studien zum ,Paulinismus' und zum frühen Paulusverständnis" zu.

Obwohl die Dokumentation einen Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren einfängt, nimmt der Leser ein in den großen Konturen geschlossenes und sorgsam bedachtes Paulusverständnis wahr. Es ist von der Überzeugung getragen, dass die respektable Wirkungsgeschichte des Paulus kaum zu hoch eingeschätzt werden kann, und der immer wieder neu entdeckte Apostel der Völker wesentliche Anstöße für die Theologie und die Kirche gegeben hat.

Dieses Paulusverständnis lebt zweitens von der richtigen Annahme, dass die paulinischen Briefe als je selbständige Dialoge des Apostels mit seinen verschiedenen Gemeinden zu deuten, dass sie also je als Einzeltexte mit eigenem Profil auszulegen seien. Damit wird einer theologischen Gesamtanschauung des Paulus keineswegs der Abschied gegeben, vielmehr gilt drittens die Überzeugung, dass die verschiedenen Zeugen des Dialogs von einer dahinter liegenden theologischen Position aus entworfen sind, die im Großen und Ganzen rekonstruiert werden kann. Hinzu tritt viertens die Auffassung, dass solche differenzierte Beschäftigung mit Paulus nicht in historischer Rekonstruktion stecken bleiben sollte. Vielmehr zielt A. Lindemann darauf, das durch intensive Exegese gefundene Paulusverständnis für Gegenwartsfragen zu öffnen, also die paulinische Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte fortzuschreiben.

Insofern diese schon im Neuen Testament beginnt, widmet sich der Autor fünftens programmatisch dem Paulusverständnis der ersten zwei Jahrhunderte. Dies ist seit seiner Habilitationsschrift (veröffentlicht 1979) ein Arbeitsfeld des Vf.s, auf dem er in besonderer Weise Experte ist. Hier hat er wesentliche Anstöße gegeben, die Auffassung, die älteste Wirkungsgeschichte des Apostels und seiner Briefe sei paradoxerweise ein Vergessen und Verdrängen gewesen, grundlegend zu revidieren.

Alle Aufsätze haben ihre forschungsgeschichtliche Situation, in der sie ihren Part spielen wollten. So kommen alle großen Brennpunkte der geschichtlich gestreckten Diskussion über Paulus aus den zweiundzwanzig Jahren vor. Durch eine Einführung in die beiden Hauptteile legt A. Lindemann diese jeweilige Situation seiner Aufsätze aus seiner Sicht frei. Dabei ist er - wie es sich für den Autor selbst geziemt - mit der Qualifikation seiner eigenen Beiträge äußerst zurückhaltend. Der Leser wird hier jedoch ein deutlicheres Urteil abgeben wollen: Die Aufsatzsammlung zeigt nämlich eine bestechend souveräne Teilnahme am Prozess der Paulusauslegung der letzten Forschergeneration, ist Zeuge wesentlicher Impulse für diese Diskussion und wird gerade auch in der jetzt vorliegenden gebündelten Form die Forschung weiter beeinflussen. Zur Qualität des Bandes gehört auch noch dieses: Der Autor dekretiert nicht sein Paulusverständnis, sondern argumentiert dialogisch, nimmt also den Leser in seine Erwägungen mit hinein und fördert dabei dessen Eigenständigkeit, selbst in den paulinischen Briefen seine Beobachtungen zu machen. Damit entspricht er im Ansatz der Dialogizität der paulinischen Korrespondenz selbst. Ist solche Schülerschaft nicht wegweisend?