Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1156–1159

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Guttenberger-Ortwein, Gudrun

Titel/Untertitel:

Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. VIII, 361 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 39. Geb. DM 156,-. ISBN 3-7278-1221-4 u. 3-525-53939-8.

Rezensent:

Manuel Vogel

In der von Gerd Theißen betreuten Heidelberger Dissertation vom Wintersemester 1997/98, die nun in überarbeiteter Form vorliegt, geht es, so das einleitende erste Kap. (10-20), darum, "nachzuzeichnen, wie es im Urchristentum zur Entdeckung der Demut als sozialer Tugend kommen konnte, und aufzuzeigen, welche Bedeutung Demut als soziale Tugend für die urchristlichen Gemeinden hatte" (14). Ergebnisse begriffs- und sozialgeschichtlicher Forschung werden vorausgesetzt; methodisch setzt die Studie stattdessen bei D. Ritschls Konzept der "impliziten Axiome" an, das von G. Theißen für das Neue Testament weiter entwickelt wurde, und das die Vfn. mit dem Rollenmodell des Religionspsychologen H. SundÈn verbindet (17-19).

Mit Theißen spricht sie vom "Positionswechselaxiom", das als Wahrnehmung und Verhalten steuernder und legitimierender Faktor frühchristlicher Welt- und Selbstdeutung zu einer Neubewertung von sozialem Status, Hoheit und Niedrigkeit führte. Mit SundÈn und J. A. Belzen, der die Rollentheorie SundÈns um Einsichten der narrativen Psychologie erweitert hat, geht sie davon aus, dass die Sozialsphäre auch des religiösen Bereichs durch Rollenangebote und -erwartungen strukturiert wird. Diese konnten im frühen Christentum christologisch bestimmt sein, so dass "soziale Demut als Imitation Christi (Imitationsmotiv) verstanden oder durch die Identifikation der Niedrigen mit Christus (Repräsentationsmotiv) begründet" wurde (19). Nach Belzen werden Rollen durch "stories" determiniert, d. h. durch Elemente der kulturellen Überlieferung einer Gruppe, die die Inszenierung von Rollen steuern. "Wenn im Urchristentum die soziale Demut als neues Verhalten entwickelt wird, geschieht das, indem die Christusrolle aufgenommen und die 'story' von Gottes eschatologischem Handeln neu inszeniert wird" (19). "[M]ethodisches Proprium" der Untersuchung ist daher "die Frage nach den 'stories', ihren Motiven und Rollen, die Statusgewinn und Statusverzicht im griechischen, römischen, jüdischen und urchristlichen Bereich thematisieren und regeln" (19).

Im ersten Teil der Arbeit (Pagane Antike, 21-88), entwirft die Vfn. ein differenziertes und höchst aufschlussreiches Bild von den "Modelle[n]", die "zur Deutung von Erhöhungs- und Erniedrigungserfahrungen bereitgestellt wurden", sowie von den "Ansätze[n]", die "zu einer positiven Bewertung von Statusverzicht entwickelt wurden" (21). Kap. 2 (22-40) arbeitet den hohen Wert persönlicher und kollektiver Ehre in antiken mediterranen Gesellschaften heraus, die die Vfn. mit B. Malina als Ehre-Scham-Gesellschaften bestimmt. Anschließend fragt die Vfn. nach Rollenangeboten und Deutemodellen von Erhöhung und Erniedrigung in der griechischen (Kap. 3; 41-59) und in der römischen Kultur (Kap. 4; 60-77), sowie nach der Bewertung von Demut in der paganen Antike (Kap. 5; 77-84). Kap. 6 (85-88) bietet eine Zusammenfassung des ersten Teils.

Wichtige Ergebnisse dieses Teils sind: Obwohl die unteren Gesellschaftsschichten nur sehr begrenzte Möglichkeiten zum Erwerb bzw. der Vermehrung von Ehre hatten, war Ehre ein schichtübergreifender Wert. In der griechischen Kultur kann Statusverzicht um des Erhalts der Gruppe willen (Achill) oder aus taktischen Gründen praktiziert werden (Odysseus als Bettler). Ansätze einer statusunabhängigen Würde des Menschen finden sich bei Sokrates (Primat der Vernunft) und, radikaler, im Kynismus. Im römischen Kulturraum gilt Erhöhung als Erwählung und Aufgabe. Statusverzicht gegenüber Niedrigen wird als Scheitern aufgefasst und verachtet (Claudius: Apocolocyntosis). Die Versuche in der Stoa, den Wert des Menschen unabhängig von seinem sozialen Status zu bestimmen (Seneca, Marc Aurel, Epiktet) reflektieren z. T. Erfahrungen von Statusminderung in der römischen Oberschicht seit dem Prinzipat. Angesichts der Wechselhaftigkeit der Verhältnisse wird Unabhängigkeit von den äußeren Gütern erstrebt. Erniedrigung kann als Erziehung durch die Götter verstanden werden. Der Gedanke der Zeuskindschaft ermöglicht ein statusunabhängiges Hoheitsbewusstsein. Demut der Überlegenen gegenüber den Unterlegenen ist nicht nachweisbar. Demut gegenüber Höhergestellten wird gefordert, jedoch meist negativ bewertet. Seit Platon findet sich gelegentlich der Gedanke, dass sich der Herrscher Gott oder dem Gesetz unterzuordnen hat.

Der zweite Teil der Studie (89-160) hat die jüdische Antike (ausschließlich der rabbinischen Literatur) zum Gegenstand. Untersucht werden alttestamentliche Texte (7. Kap.; 93-106), die zwischentestamentliche Literatur Palästinas (8. Kap.; 106-120) und der Diaspora (9. Kap.; 120-128), sowie die Schriften Philos von Alexandrien (10. Kap.; 129-156). Kap. 11 (156-160) fasst die Ergebnisse dieses Teils zusammen. Es ergibt sich folgendes Bild: In der biblisch-jüdischen Tradition erhält Demut als soziale Tugend einen weitaus höheren Stellenwert als in der paganen Antike. Da der Abstand gegenüber Gott stärker empfunden wird, spielt Demut auch als religiöse Tugend eine größere Rolle. Da die göttliche Erwählung dem Niedrigen gilt - dem "kleinsten Volk", dem niedrigen König, dem Gottesknecht-, werden Statusverzicht und Positionswechsel bei Gruppen wie bei Individuen möglich. In der Situation des Heiligen Krieges ist die das demütige Volk repräsentierende rituelle Selbsterniedrigung des Königs Voraussetzung für den göttlichen Beistand. In der apokalyptischen Literatur und den Qumrantexten wird der Positionswechsel angesichts gesellschaftlicher Missverhältnisse zum Hoffnungsbild. Bei Philo findet das Motiv der Erwählung des Niedrigen breite Entfaltung.

Anfragen an den 2. Teil ergeben sich an zwei Punkten: Wenn die Vfn. Philo als Exponent des in der Antike gesellschaftlich durchgängig marginalisierten Diasporajudentums ansieht, so ist dies m. E. bei aller erlaubter und methodologisch gebotener Schematisierung zu undifferenziert, bleiben hierbei doch die vielgestaltigen Prozesse diasporajüdischer Akkulturation und Assimilation unberücksichtigt. Flavius Josephus etwa, dessen Schriften die Vfn. ohne Begründung ausgelassen hat, repräsentiert eine jüdische Diaspora, die sich ihrer römischen Umgebung sehr selbstbewusst als wertvolles und gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft anempfohlen und sich nach den Vorgaben römischer Kultur neu definiert hat. Es ist sicherlich kein Zufall (und eine Bestätigung für die These der Vfn., dass in der römischen Kultur Demut als entwickelte soziale Tugend nicht vorkommt), dass Josephus an seinen Helden der biblisch-jüdischen Geschichte kaum je Demut als besondere Tugend hervorhebt (Eine interessante Ausnahme ist Bell. 4,319: Der Hohepriester Ananons "liebte ... es, auch Menschen von ganz niederer Stellung wie seinesgleichen [isotimon] zu behandeln").

Zu kritisieren ist zweitens, dass die Vfn. mit der Auffassung von den Qumrantexten als Sektenliteratur und der Identifikation ihrer Trägergruppe mit den Essenern einer älteren These folgt, die heute mindestens als diskussionsbedürftig angesehen werden muss. Der These von der Qumran-essenischen Sektenexistenz korrespondiert das Gegenüber "der" jüdischen "Gesellschaft", die es so in neutestamentlicher Zeit auch in Palästina nicht gegeben haben dürfte. Vielmehr ist von einer Pluralität mehr oder weniger konkurrierender Gruppen auszugehen. Deshalb kann auch die Gleichung zwischen gesellschaftlich marginalisierten Qumran-Essenern und der in der hellenstisch-römischen Welt marginalisierten Diaspora (321: "Die Juden waren in der heidnischen Welt in einer ähnlichen Situation wie der Lehrer der Gerechtigkeit in der jüdischen Gesellschaft") nicht überzeugen. Ansonsten bietet aber auch der zweite Teil wertvolle Einsichten in die Entstehungs- und Rahmenbedingungen frühchristlicher Anschauungen von Status und Statusverzicht.

Diese Anschauungen sind Gegenstand des dritten Teils (Urchristentum; 161-317). In drei Kapiteln werden zunächst die synoptischen Evangelien untersucht. Kap. 12 (163-169) bietet eine Analyse der Positionswechsellogien Lk 14,11; Mk 10,31; Mk. 9,35, die die Vfn. in zwei von drei Grundtypen auf Jesus zurückführt. In den Kapiteln 13 (169-184) und 14 (184-208) geht es um die Einwirkung des Positionswechselaxioms auf die "kleinen Einheiten" und die "Konzeption der drei synoptischen Evangelien". Teilweise wird hierbei Bekanntes mit dem angewendeten begrifflichen Instrumentarium neu formuliert, ohne dass ein besonderer Erkenntnisgewinn zu verzeichnen wäre. Mehrheitlich gelingt es jedoch, die strukturbildende Bedeutung des Postitionswechselaxioms für die in den Evangelien erzählte Kommunikation herauszuarbeiten und das besondere Profil der sozialen Wertmaßstäbe Jesu und der Evangelisten im Vergleich mit anderen antiken Sozialstandards kenntlich zu machen.

Ertragreich und spannend ist auch das umfangreichste 15. Kap. (208-287), in dem es um "[d]as Positionswechselaxiom bei Paulus" geht. Der innergemeindliche Dissens in den Fragen des Fleischverzehrs und der sexuellen Askese wird auf zwei unterschiedliche Formen von Hoheitsbewusstsein zurückgeführt, die beide ihre Wurzeln in der paulinischen Anfangsverkündigung haben (15.1). Dem Modell der Partizipation an Gott als Herrscher über den Kosmos entspricht ein unbefangener Umgang mit Sexualität, Götzenopferfleisch und außergemeindlichen Kontakten. Das Modell "Hoheit als Heiligkeit" betont dagegen Reinheit und Abgrenzung gegenüber der Umwelt (209-235). Paulus steht, wie auf S. 235-254 eingehend untersucht wird, "vor der Herausforderung, einerseits das Hoheitsbewusstsein der Gemeindemitglieder nicht zu zerstören, andererseits aber die destruktiven Kräfte des Rangstreits zu bändigen" (235).

Im zweiten Teil dieses Kapitels (15.2: "Die Bedeutung des Positionswechselaxioms für das apostolische Selbstverständnis des Paulus"; 253-287) geht es um den Konflikt um die apostolische Autorität in Korinth. Strittig zwischen Paulus und der Gemeinde sei, so die Vfn., nicht der niedrige Status in der Welt, den auch die konkurrierenden Missionare teilten, sondern der Status des Apostels innerhalb der Gemeinde. Während seine Konkurrenten eine die Gottheit repräsentierende und insofern heilsmittlerische Funktion beanspruchen und daraus Hoheitsbewusstsein entwickeln, verknüpft Paulus seine Autorität mit apostolischer Selbsterniedrigung als Bedingung für die Erhöhung der Gemeinde. Dabei erweist sich der Versuch, seine evidente astheneia in die Vorstellung von Hoheit zu integrieren, als das paulinische Proprium. Während die Konkurrenten mit Legitimationsstrategien arbeiten, für die es pagane Parallelen gibt, kommt der paulinischen Position allenfalls Philo mit der Aussage to asthenes hymon dynamis estin (VitMos 1,69) nahe, doch handelt es sich um eine Ermutigung für das Volk, nicht um die Charakterisierung eines Leiters.

Bedenkenswert ist neben vielem anderen auch die These, dass die in 2Kor 12,16 f. namhaft gemachten Vorwürfe gegen Paulus insofern mit der "Niedrigkeit" seines apostolischen Auftretens zusammenhängen, als sie den Typus des aus unlauteren Motiven sich selbst erniedrigenden Demagogen spiegeln, der auf den Rollentyp des Odysseus als Bettler zurückgeht. Paulus sei von seinen Gegnern als Demagoge diffamiert worden, der sich wie Odysseus nur zum Schein erniedrige, um sich auf Umwegen (Kollekte!) persönlich bereichern zu können (279).

Kap. 16 (287-290) skizziert "[d]ie weitere Entwicklung bei Paulus und in der Paulusschule", gefolgt von einem Kap. über "Statusverzicht im Johannesevangelium" (290-313), das sich hauptsächlich mit der Fußwaschungsszene Joh. 13,1-20 befasst. Ein knapper Überblick über die weitere frühchristliche Entwicklung (Jak, 1Petr, Apk, 1Clem, Ign; 313-315) sowie die Zusammenfassung des dritten Teils (315-317) und die Formulierung des Gesamtertrags (317-325) runden das Bild ab; Literaturverzeichnis und Stellenregister beschließen den Band, der die soziokulturelle Erforschung des Neuen Testaments ein gutes Stück voranbringt.