Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1152–1155

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Betz, Hans Dieter

Titel/Untertitel:

The sermon on the mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3 - 7:27 and Luke 6:20-49). Ed. by A. Y. Collins.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 1995. XXXVIII, 695 S. gr.8 = Hermeneia. $ 72.00. ISBN 0-8006-6031-5.

Rezensent:

Ingo Broer

Der bereits 1995 erschienene monumentale Kommentar des Autors zahlreicher z. T. sowohl in Englisch als auch in Deutsch erschienener Monographien und Kommentare - letztere z. B. zum Galaterbrief und zu 2Kor 8 und 9 - ist das Ergebnis umfangreicher Vorstudien, die auch gesammelt wiederum in deutscher und englischer Sprache zugänglich sind (H. D. Betz, Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985).

Das neue umfangreiche Werk zur Bergpredigt ist in drei Teile gegliedert, die von sehr unterschiedlicher Breite sind: Einführung (mit 39 Seiten Forschungsgeschichte), Exegese der matthäischen Bergpredigt und Exegese der lukanischen Feldrede. Der Schwerpunkt liegt naturgemäß auf der Interpretation der Bergpredigt. Die Auslegung wird ergänzt durch eine umfangreiche Bibliographie sowie durch zahlreiche Register, die das Werk auch als Nachschlagewerk wertvoll machen.

In der Einzelexgese folgt Betz dem klassischen Muster, in der Regel nach dem Schema 1. Einführung - 2. Analyse - 3. Interpretation. Im Anschluss an die Übersetzung folgt meist eine kurze Einführung in den jeweiligen Abschnitt mit Hinweis auf den Zusammenhang im Kontext, auf die Hauptaussage und die Geschichte des zu Grunde liegenden Gedankens in der Antike, dann folgen Hinweise auf die Struktur und die Form des Abschnitts sowie zum jeweiligen Hintergrund in der griechisch-römischen und jüdischen Literatur und Parallelen im Neuen Testament und in der nachneutestamentlichen Entwicklungsgeschichte. Hier kann auch noch einmal die Frage nach den ursprünglichen Adressaten und die nach der Entstehungszeit des jeweiligen Abschnittes gestellt werden. Abschließend erfolgt dann die Interpretation der Einzelverse, wobei durchaus auch noch einmal religionsgeschichtliche Zusammenhänge eine Rolle spielen können. Über die eigentliche Textinterpretation hinaus finden sich insgesamt 14 Exkurse, u. a. die folgenden: "Principles for the Interpretation of the Law in Greek, Roman and Jewish Legal Thougt", "Socrates' Defiance of the Law" und "Theodicy in the Sermon on the Mount". Die Exegese erfolgt durchgehend am griechischen Text, auch die Zitate griechischer Schriftsteller erfolgen in griechischer Sprache, nicht aber ohne sogleich die englische Übersetzung folgen zu lassen. So langweilig das gelegentlich für den Fachkollegen ist, so notwendig dürfte diese Praxis sein, wenn sich wissenschaftliche Kommentare zu neutestamentlichen Schriften nicht weitgehend um ihre Wirkung in Predigt und Gemeindearbeit zumindest bei der jüngeren Theologengeneration bringen wollen. Die Hermeneia-Kommentare sind in dieser Hinsicht einfach vorbildhaft (vgl. auch die Reihe Anchor Bible, die die griechischen Buchstaben in Umschrift bietet, aber auch jeweils mit Übersetzung) - in Deutschland scheint es freilich noch etwas zu dauern, bis sich diese Erkenntnis durchsetzt.

Die literarische Eigenart von Bergpredigt und Feldrede ist nach Betz identisch, es handelt sich nicht, wie man herkömmlich meint, um Predigten oder um katechismusartige Stücke, sondern um zwei Fassungen einer Epitome, also um die Zusammenfassung der Lehren eines Meisters, hier Jesu v. Nazareth, für seine Schüler zum Zwecke der Erleichterung des Eindringens in das Gedankengut des Meisters. Die Bergpredigt ist so weder Gesetz noch Evangelium, richtet sie sich doch an bereits "Bekehrte". Als Parallelen aus der Antike sind etwa Epiktets Encheiridion, Epikurs Kyriai doxai oder jüdische und christliche Weisheitsschriften anzusehen. Nicht nur aus diesem Grund werden zahlreiche Zitate aus der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Literatur angeführt, die der Veranschaulichung und Präzisierung der vorgetragenen Gedanken dienen.

Die bei Mt erhaltene Epitome stammt aus der Jerusalemer Jesusbewegung und ist etwa um 50 n. Chr. entstanden. Sie ist also für Juden-"Christen" geschrieben, die noch im Verband des Judentums leben, und verbleibt deswegen auch noch ganz im Bereich jüdischer Theologie. Die Bergpredigt lässt die Situation der Jerusalemer Gemeinde zur Zeit der Entstehung dieses Dokuments noch erkennen. Die Jerusalemer Gemeinde stand damals in einem doppelten Spannungsfeld, zum einen von jüdischer Seite, die in der christlichen Gemeinde (soweit man davon im Jahre 50 schon sprechen kann) häretische Strömungen wahrnahm, zum anderen von Seiten (heidenchristlicher) Propheten innerhalb der Gemeinde, die Wunder vollbrachten, sich aber nicht an das Gesetz hielten. Entsprechend dem innerjüdischen Standpunkt der Bergpredigt findet sich in dieser auch noch keine hohe Christologie. Weder ist von Jesus als dem Menschensohn noch gar von ihm als Gottessohn im Sinne späterer Christologie die Rede, Jesus wird in der Bergpredigt vielmehr als der wahre Interpret des Gesetzes vorgestellt.

Obwohl Betz die Bergpredigt der Jerusalemer Gemeinde zuordnet, hindert ihn das nicht, immer wieder auch Parallelen aus der griechisch-hellenistischen Literatur heranzuziehen. So findet er in den Antithesen Elemente der griechischen Rhetorik und ordnet sie dem genus legale zu, findet freilich gleichwohl die nächsten Parallelen zu dem Schema "Ihr habt gehört ... ich aber sage euch" in der rabbinischen Literatur.

Die Feldrede des Lukas stammt aus einem ganz anderen Zusammenhang als die Bergpredigt. Sie ist nicht für ein jüdisches Umfeld, sondern für Menschen geschrieben, die aus dem Griechentum zu der Jesusbewegung gekommen sind, und steht im Übrigen theologisch Lukas wesentlich näher als die Bergpredigt dem Autor des ersten Evangeliums.

Während die meisten Exegeten davon ausgehen, dass Matthäus und Lukas für die Bergpredigt bzw. Feldrede auf eine mehr oder weniger identische Vorlage in der Logienquelle zurückgreifen konnten, die wesentlich näher bei der lukanischen Feldrede als bei der matthäischen Bergpredigt stand, wird Betz seit langer Zeit nicht müde, die These zu vertreten, sowohl Matthäus als auch Lukas hätten die Bergpredigt bzw. die Feldrede unverändert aus ihren Quellen übernommen und in ihre Evangelien integriert. Diese These bildet auch die Grundlage der Exegese in diesem Kommentar. Dieses Konzept muss sich natürlich an den Stellen, wo spezifische Themen des jeweiligen Evangelisten zur Sprache kommen, bewähren. Diese Bewährung findet bezogen auf Matthäus u. a. auf dem Felde der Christologie statt, denn das weitgehende Fehlen von Christologie und die Nichtbeachtung des Leidens Jesu in der Bergpredigt sind für Betz ein wichtiges Kriterium dafür, die Bergpredigt nicht für eine matthäische Neubearbeitung eines Q-Quellenstückes, sondern für eine eigenständige Quelle zu halten, die Mt, wie sie heute ist, aus seiner Fassung von Q (QMatth) übernommen hat.

Es versteht sich gewissermaßen von selbst, dass die Ansichten des Verfassers in Auseinandersetzung mit der Literatur entwickelt und dementsprechend auch begründet werden. Es ist dem Verfasser zweifellos gelungen, ein äußerst gelehrtes Werk vorzulegen, das viele Stärken hat, von denen die umfassende Berücksichtigung der hellenistisch-römischen Literatur nur eine ist. Zukünftige Exegese der Bergpredigt wird an diesem opus magnum nicht vorübergehen können!

Es tut dem profilierten Werk des bekannten amerikanisch-deutschen Vf.s keinen Abbruch, wenn der Rez. einige Fragen/ Gegenpositionen vorträgt, wo die Betzsche Ansicht seiner Meinung nach Spielraum für weitere Diskussionen lässt. Hinsichtlich der Beurteilung der fehlenden matthäischen und lukanischen Redaktionstätigkeit in der Bergpredigt bzw. Feldrede wird Betz nach Ausweis der Diskussion der vergangenen Jahre kaum Nachfolger finden. Aber auch sonst ist eine Reihe von Ansichten des Verfassers durchaus weiterer Diskussion würdig, von denen hier nur einige genannt werden können.

Erstaunt hat den Rez. z. B., dass Betz trotz ausführlicher Diskussion fast aller Probleme einige einfach ausblendet, so z. B. das Problem der unterschiedlichen Form der Seligpreisungen bei Matthäus und Lukas (zweite und dritte Person) und die Frage nach der beiden Fassungen zu Grunde liegenden älteren Fassung (94, Anm 13; 571 f.). Man muss kein blinder Verfechter der häufig nutzlosen, weil keine intersubjektiven Ergebnisse zeitigenden Literarkritik sein, um daran Anstoß zu nehmen, da die Form der Seligpreisungen bei Lukas nun einmal sehr auffällig ist (vgl. Betz, 572) und deutlich auf ein früheres Stadium in dritter Person hinweist. Das Gleiche gilt nach Meinung des Rezensenten für die Deutung der "Armen im Geiste" bei Matthäus und der "Armen" bei Lukas. Die erstere Formulierung wird zu Recht in der Literatur und auch von Betz als dem Judentum entnommen bezeichnet, während letztere dem Hellenismus näher steht. Aber nach der Interpretation des Vf.s besteht zwischen beiden Begriffen im matthäischen und lukanischen Kontext nur ein geringer Unterschied. Sollte hier nicht bei Lukas doch ein Zusammenhang mit seiner Armenfrömmigkeit bestehen und damit dann doch wirkliche Armut gemeint sein? Das geht natürlich nach unserem Verständnis nur, wenn die ersten drei lukanischen Seligpreisungen Zuspruchscharakter tragen. Das ist nach Betz allerdings nicht der Fall, sondern die Kondition von V. 22a ist auch auf die vorangegangenen drei Makarismen zu beziehen. "This fact may imply that the conditional nature is to be carried over into the first three beatitudes as well, indicating that the disciples are not simply identified as the poor, the hungry, and those who weep, but whether they want to be included among these people is left up to them. One may conclude, therefore, that what at first appears to be a primitive sentence construction in fact serves a designed paraenetic purpose." (572 f.) Wenn auch die lukanischen Makarismen primär paränetischen Charakter tragen, können in Lk 6,20 mit den Armen natürlich weniger die "economically poor" gemeint sein als ein "way of life as a whole", da sonst gelten würde, "that salvation is promised to the poor simply because they are in economic straits" (576). Dann ist der Unterschied zu den matthäischen "Armen im Geist" gering. Aber ist das "Mißverständnis", dass in Lk 6,20 der "poor crook" gemeint sein könnte, nicht schon durch die Verwendung der zweiten Person und damit durch den Zuspruchscharakter abgewiesen?

An dieser Stelle rächt sich nach Ansicht des Rez. die frühzeitige Ausblendung der traditionsgeschichtlichen Fragestellung. Mag man für den Wechsel von "Armen im Geiste" zu "Armen" oder umgekehrt noch einen Wechsel des kulturellen Hintergrundes verantwortlich machen, so wird man für den Wandel der Person darauf kaum verweisen können, wenn man diesen noch begründen können will. Der Wechsel von der zweiten zur dritten Person oder umgekehrt sollte auch eine Bedeutung für den Sinn des Ganzen haben. Es wird deswegen weiter zu diskutieren sein, ob die Seligpreisungen sowohl in zweiter als auch in dritter Person primär didaktischen Sinn tragen (93 f.). - Man kann immerhin Gründe vortragen, die dafür sprechen, dass dies primär nicht einmal für die Makarismen in der dritten Person gilt.

Diese kritischen Fragen sollen die große Gelehrsamkeit dieses Kommentars zu einem der Urdokumente des Christentums nicht in Frage stellen, sondern gerade hervorheben, dass es sich um ein Werk handelt, mit dem die Auseinandersetzung sich lohnt. Man kann die Produktivität dieses großen Gelehrten nur bewundern und darf wohl auch einmal die Frage stellen, wieso es nicht gelungen ist, ihn für das deutsche Universitätsleben (zurück)zugewinnen.