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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1124–1126

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wannenwetsch, Bernd

Titel/Untertitel:

Gottesdienst als Lebensform - Ethik für Christenbürger.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 366 S. gr.8. Pp. DM 79,-. ISBN 3-17-014841-9.

Rezensent:

Kristlieb Adloff

Der auch anderwärts mit Studien zu ethischen Fragen hervorgetretene Autor beleuchtet mit seiner Erlanger Habilitationsschrift von 1996 die theologische Ethik in einer ungewohnten Weise. Wie der (zutreffende) Titel verrät, meint Ethik den Christenbürger, womit theologische Ethik fundamental politisch bestimmt wird. Bernd Wannenwetsch schaltet sich so als Theologe in eine weitgespannte politologische Diskussion (etwa zwischen ’Liberalen’ und ’Kommunitariern’) ein und will durch "Ermächtigung zum politischen Leben" (Teil III seiner Arbeit) nicht zuletzt mit Ulrich Beck die ’Erfindung des Politischen’ (vgl. 133 A 34; 294 f.) in einer politikverdrossenen Gesellschaft befördern. Dazu dient ihm der Anschluß an ein (gegenüber neuzeitlichen Verengungen auf Gewalt- und Interessenpolitik) weites Politikverständnis, wie es klassisch etwa durch Aristoteles repräsentiert ist ("das bürgerliche Leben in der Polis" als "Vorgang des freien Miteinander-Handelns": 16).

Inspiriert von Hannah Arendts glanzvollen und eigenwilligen Interpretationen (,Vita activa’) hat W. auf seine Weise an einer auch sonst zu beobachtenden Aristoteles-Renaissance (136) teil, was bei einem (in der Tradition von Oswald Bayer) so stark Martin Luther verpflichteten Autor auf den ersten Blick überraschen mag. Doch diese Überraschung wird noch übertroffen und erst angemessen gewürdigt, wenn man liest, daß W. in der Praxis des regelmäßigen, d. h. von der Regel des Geistes regierten Gottesdienstes politischen Gottesdienst und mit ihm nicht die Begründung, sondern das initium der Ethik in Erfahrung zu bringen sucht (25 f.37-44). Der im Titel an erster Stelle stehende Gottesdienst wird indessen keineswegs zum Thema des Buches. Im Gegenteil! Fern davon, im mainstream gegenwärtiger Gottesdienstdiskussion eine neue ’Theorie’ des Gottesdienstes zu entwerfen und den Gottesdienst unter einen Oberbegriff- und sei es den einer (politischen) ’Theologie’ des Gottesdienstes - zu zwingen, geht es W. um Erfahrung, die im theoretischen Bemühen, den Gottesdienst ’funktional’ (auch politisch!) zu verzwecken, gerade verfehlt wird (26-30). Erfahren wird politischer Gottesdienst vielmehr in der Partizipation an seiner spezifischen Lebensform, wobei der im Anschluß an den späten Ludwig Wittgenstein gewählte Begriff ’Lebensform’ sich an den Tätigkeiten orientiert, auf die man sich in einer bestimmten, durch Tradition geprägten Sprachgemeinschaft versteht (35 ff.). Antifunktional ist im Gottesdienst, dessen Teilnehmer im freien Miteinander-Handeln "mit dem Urteil Gottes über die todeswürdigen begnadigten Sünder" übereinstimmen, die "politische (lebensförmige) Bedingung des Ethos" gegeben (37). Ein nicht zufällig dem an Luther orientierten Theologen möglicher weiter ökumenischer Horizont, in dem reformiertes, methodistisches, römisches und vor allem ostkirchliches und anglikanisches Gottesdienstverständnis (82-108) ebenso wie Black Wor-ship (230 f.) wahrgenommen werden kann, erleichtert es dem Autor, der Falle platonisierender Gottesdienstreformer und -gestalter zwischen real existierendem und erträumtem Gottesdienst zu entkommen: Im Begriff des politischen Gottesdienstes, den W. Karl Barth kritisch entwindet und so vielleicht rettet, kann das Lebensphänomen des regelmäßigen Gottesdienstes angemessen zur Sprache kommen und für die Ethik fruchtbar werden.

Wenn W. am Ende dem Leser mit dem Gottesdienst ’Leben aus der Fülle’ (314-338) vor Augen stellen kann, dann darum, weil das Buch von Anfang an aus der Anschauung der Fülle entworfen ist. Solcher sich der theologia prima (78-82) verdankende Reichtum, dem der akademisch-wissenschaftliche Stil einer der theologia secunda geschuldeten Habilitationsschrift wohl widerstreiten muß, erschöpft (sich) nicht, sondern schmeckt nach mehr. Eine Besprechung kann ihm schwerlich gerecht werden. Sie wird, was der Autor offenlassen wollte und mußte, statt es ihm vorzurechnen, gerade als Wink ins Offene an den Leser begreifen.

Dank eines roten Fadens gelingt es W., die nicht ganz leicht mittels einer Systematik zu bändigende, sich überschneidende Vielfalt der Aspekte, die eine Heuristik des Gottesdienstes ermöglicht, zusammenzuhalten. Das Buch hat drei Hauptteile. Teil I ("Gottesdienst als ’Beginn’ christlicher Ethik": 25-108) präsentiert mit dem (politischen) Gottesdienst einen "Entdeckungszusammenhang" für die Ethik (26). Entgegen der begrifflichen und moralisierenden Zersetzung seiner Lebensform (exemplarisch: Hegel, Kant und die Folgen: 44-50) findet der Gottesdienst dogmatisch (pneumatologisch) Grund im Warten auf den sich in Freiheit an die Offenbarungszeichen Wort und Sakrament bindenden Geist (64-71). Dabei steht gerade Luthers die Einseitigkeiten einer Zwei-Regimentenlehre korrigierende Drei-Ständelehre für die Unausweichlichkeit des politischen Gottesdienstes (60-64).

Teil II, der an Umfang gewichtigste (Mittel-)Teil ("Gottesdienst als kritische Kraft christlicher Ethik: Christenbürger in einer zerrissenen Welt": 109-274), macht in historischen und gegenwartsbezogenen Analysen von der kritischen Kraft des Gottesdienstes heilsamen Gebrauch. Dabei geht es im Gottesdienst um die Überwindung der ’klassischen’ politischen Antinomien (135-210). Der ’politische Raum’ mit seiner Totalität und Exklusivität wird bestritten, Polis und Oikos, Freiheit und Notwendigkeit, vita contemplativa und vita activa erscheinen im Licht der Versöhnung. Was unter dem Titel des ’Priestertums aller Gläubigen’ (besser: ’Getauften’) theologisches Postulat bleiben mag, zielt im Gottesdienst auf "Stand und Amt" (170-174) der (aller!) Christenbürger - mit Folgen nicht nur für die Frage der Frauenordination (177 ff.), sondern auch für die politisch-ethische Disziplin der Gottesdienstgemeinde im Blick auf Exkommunikation und Rekonziliation, also für das bei uns sträflich vernachlässigte ’Amt der Schlüssel’ (174 ff.). Konsequent haben bei W. Kinder und Behinderte im Gottesdienst politischen Rang (179)! Im Vollzug des Gottesdienstes wird der Totalanspruch der Gesellschaft - modern bzw. postmodern - abgewehrt: Der Gottesdienst ist nicht und macht nicht ’gesellschaftsfähig’ (210-220). Er bildet vielmehr seine eigene Öffentlichkeit aus (241-274), was u. a. auch für den sog. ’Öffentlichkeitsanspruch’ der Kirche kritisch zu berücksichtigen ist (246-252).

Der knapp gehaltene Teil III ("Gottesdienst als formative Kraft christlicher Ethik: Ermächtigung zum politischen Leben": 275-338) zeigt, was in der Feier des Gottesdienstes, z. B. im Vorgang der Predigt wie der Fürbitte, politisch zu lernen - und entsprechend zu verlernen ist. Wo Geist und (leibliches) Wort nicht dualistisch auseinandergerissen werden, kann man, die ’hermeneutics of suspicion’ verabschiedend, einander (auch streitend!) beim Wort nehmen (275-288) und sich kraft des Geistes in den Anderen als den Anderen versetzen (314-328). Die sabbatliche Feier der Werke Gottes schließlich begrenzt die menschliche Verantwortung und macht so konkretes politisches Handeln möglich (328-338).

Das Gespräch mit dem Autor des zu vielfältigen, mich vor allem zu biblischen und praktisch-theologischen Fragen herausfordernden Buches kann hier nicht geführt werden. Ich will es beispielhaft nur an einer Stelle aufnehmen, wo der Autor selbst angesichts des Gewichtes der Sache dringlich Klärung wünscht (298 f.): Was bedeutet Vergebung im Leben der Völker, etwa zwischen dem deutschen und polnischen - oder gar: dem jüdischen Volk? Und wenn hier, im Blick auf das sich an dieser Stelle zeigende pondus peccati christlich schwerlich (schon?) etwas geantwortet werden kann - welche geschichtlichen Abgründe werden dann durch den freundlichen Bindestrich zwischen ’jüdisch’ und ’christlich’ auch in diesem Buch zugedeckt, also zwischen Martin Luther auf der einen und Abraham Joshua Heschel (330 ff.) und Emmanuel Lévinas (316 ff.333) - wohlverstanden sogar der emanzipierten Jüdin Hannah Arendt - auf der anderen Seite? Es könnte ja sein, daß ’nach Auschwitz’ dem kirchlichen Gottesdienst eine politische-ethische Revolution ins Haus steht, von der sich unsere marktorientierten Gottesdienstreformer, denen W. mit Recht mißtraut, kaum etwas träumen lassen. Wenn "die Wahrheit selbst/unter die Menschen getreten" ist, "mitten ins/Metapherngestöber" (Paul Celan) - was wird dann aus der Sprache, aus dem ursprünglichen Wort-Vertrauen, in dem der Gottesdienst nach W. sein selbstverständliches Wesen hat? Welche Sprache wäre denn - in Deutschland (aber nicht nur hier!) - dem Gericht gewachsen, das mit der Auferstehung der Toten (der Opfer) erwartet wird? Sind die Probleme, mit denen Literaten sich plagen müssen, dem Theologen ganz fremd? Solche Fragen stellen heißt, die Hoffnung ausdrücken, daß der Autor sie aufnehmen könnte. Seine bedeutende Arbeit, der man viele Leser nicht zuletzt bei den Verbildeten unter den Verächtern des regelmäßigen Gottesdienstes wünscht, gibt dazu Anlaß.

An Druckfehlern fielen mir an dem neben dem Literaturverzeichnis mit Bibelstellen- und Personenregister (die Überschneidungen im Buche hätten ein Sachregister lohnend gemacht!) versehenen Buch auf: S. 21 Z.16 ist das "Auge" eine Zeile zu tief gerutscht; S. 66 Z.21 muß heißen: "anerkennen"; S. 91 Z.21: "verwahrt" statt "verwehrt"; S. 137 Z.7 v. u. lies: "Misogynismus"; S. 249 Z.3 v. u. lies: "Machthabenden"; S. 288 Z.9: "das" statt "daß"; S. 299 Z.14 v. u. lies: "verlorene"; S. 317 Z.18: "empathische"; S. 320 Z.6: "gefährliche". Der Titel von O. Bayer S. 194 A. 148 ist mittels des Literaturverzeichnisses nicht zu identifizieren. Gerne ließe ich die "lieblichen Mittel" von Wort und Sakrament (17 vgl. 98; 191 A 142) stehen, wenn W. die schöne Formulierung bei Luther nachwiese.