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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1148 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boccaccini, Gabriele

Titel/Untertitel:

Beyond the Essene Hypothesis. The Parting of the Ways between Qumran and Enochic Judaism.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 1998. XX, 230 S. 2 Tab. gr.8. Kart. $ 25.-. ISBN 0-8028-4360-3.

Rezensent:

Roland Bergmeier

Am Anfang der Epoche, die B. "middle Judaism" (300 v.-200 n. Chr.) nennt, stehen sich zwei Strömungen gegenüber, das an der Mosetora orientierte Judentum der Zadokiden, das literarisch im Wesentlichen durch die biblischen Bücher (außer Dan und Est) repräsentiert wird (68), und die an der ältesten Henochoffenbarung orientierte Apokalyptik ("Book of the Watchers(1), Aramaic Levi, Astronomical Book"), die die Wurzeln des Essenismus darstellt: "The generative idea of this dissident movement was that the good universe created by God was no longer such, since it had been corrupted by the sin of rebellious angels" (185).

B. setzt nun aber die apokalyptische Literatur so mit der Ideengeschichte des mittleren Judentums in Beziehung, dass schließlich Jub, TestXII, IIHen, ApkAbr, 4Esr u. a. m. allesamt zu Dokumenten des "Enochic Judaism" werden (144). In der Zeit der Makkabäerkämpfe entwickelte sich aus der kleinen Gruppe der sog. Henochianer "the center of a vast and composite movement that aimed to replace the Zadokite leadership" (186). Die Bewegung nahm jetzt jenes Erscheinungsbild an, das sich aus den Essenertexten von Philo und Josephus ergibt. Aus ihrer Mitte führte der Lehrer der Gerechtigkeit eine sektiererische Minorität in das freiwillige Exil von Qumran. Eine gegenüber den ursprünglichen Henochianern neue Antwort auf die Frage unde malum? wurde gefunden: Die "Qumransekte" entwickelte eine prädestinatianisch-dualistische Weltsicht "that made God the source of both good and evil" (187). Infolge ihrer Abkapselung sank die Qumrangemeinde zur Bedeutungslosigkeit herab, der "mainstream Essenism" hingegen konnte als eine der Hauptrichtungen des Judentums jener Zeit weiterhin eine bedeutende Rolle spielen (188). Es stellt sich nur die Frage, warum die gesamte frühchristliche und die frühjüdische (sieht man von Philo und Josephus ab) Überlieferung diese "Hauptrichtung" nicht erwähnen.

Wie gewinnt B. das vorgetragene Gesamtbild? Im Einführungskapitel entwickelt er im Gespräch mit ausgewählten Forschungspositionen(2) seine Grundthese: "My claim is that Enochic Judaism is the modern name for the mainstream body of the Essene party, from which the Qumran community parted as a radical, dissident, and marginal offspring" (16). Teil I "Historiographical Analysis" fragt mit Kap. 2 nach dem Essenerbild der antiken Quellen, das aber primär durch Referat, weniger durch Analyse der Originaltexte gewonnen wird.(3) B. interpretiert die antiken Essenerberichte dahingehend, "that the community of the Dead Sea, described by Pliny and Dio, was a radical and minority group within the larger Essene movement, described by Philo and Josephus" (49). Dementsprechend führt Teil II "Systemic Analysis" in den Kap. 3 "The Prehistory of the Sect", 4 "The Formative Age" und 5 "The Schism between Qumran and Enochic Judaism" die Analyse der Vorstellungswelten in ausgewählten Qumranschriften und in der Literatur des Henochkreises "to the overall conclusion that the community of the Dead Sea Scrolls was a radical and minority group within Enochic Judaism" (162). Die Analyse der Qumranschriften im engeren Sinn (59-67) leidet vor allem daran, dass B. die Qumrantheologie grundlegend aus 1QS 3,13-4,26(4) gewinnt und ein sich ausschließendes Verhältnis von "individual predestination" und "human responsibility" (187) zu deren Kennzeichen macht.(5) Hat man die Teile I und II gelesen, ist man gespannt, wie der Spagat zwischen den Essenertexten (Philo und Josephus) und der Literatur der Henochianer gelingen soll, den der Teil III "Comparative Analysis" schließlich zu leisten hat. Aber man war ja schon vorbereitet: Ideologische Strukturen, die historiographische und "systemische" Analyse erheben, "are scattered elements of a puzzle that we have to reconstruct patiently" (9). Ein solches Vorgehen muss scheitern, wenn es sich nicht die Mühe macht, die aufgestellten Hypothesen an der philologischen Basis nachzuprüfen und auszuweisen. So wundert sich B., dass Philos Bemerkung, die Essäer glaubten, die Gottheit sei die Ursache von allem Guten, aber von nichts Schlechtem (prob 84), so wenig beachtet werde. "It is perhaps the most striking piece of evidence of the discontinuity between the two movements. Philo's statement contradicts the teachings of the Qumran community, while it clearly reflects the teachings of Enochic Judaism, that is, of the non-Qumran Essenes" (172). Tatsächlich aber haben wir es mit einem philonischen Philosophumenon zu tun, vgl. Abr 143, conf 161, fug 79 f., das also über die Theologie der Essäer nichts aussagt. Nicht besser steht es um B.s Ausführungen zur Seelenlehre nach Josephus, bell. 2,154-158, deren absichtsvoll hellenistische Farben(6) völlig ausgeblendet bleiben. Mit der Anschauung von den vier getrennten Quartieren in der Scheol (IHen 22,1 ff.) lässt sich die klare Zweiteilung bei Josephus in die guten und schlechten Seelen ( 155) nicht verbinden. Im Übrigen sagt Josephus, und das ist gravierend, nichts davon, dass die Seelen aufbewahrt werden bis zum Jüngsten Tag mit dem großen Gericht (IHen 22,4).

Die Ausführungen B.s zu 11QT und 4QMMT, auch die zu CD sind beachtenswert. Aber dass Damaskus ein Symbol für die geistigen Wurzeln der Bewegung im babylonischen Exil bedeute (126 f.), dürfte angesichts CD 6,19 oder 7,18 f. nicht zu halten sein. Eine Fehleinschätzung ist die typologische Deutung des Ausdrucks "Söhne Zadoks" = "the sectarians" (125). B. übersieht, dass CD 3,18-4,16 in 4Q174 MidrEschata 2,17-3,19 seine Entsprechung hat,(7) wonach die "Söhne Zadoks" zusammen mit "den Männern ihres Rats" den yach.ad bildeten, wie es ja auch in 1QS 5,2 f. u. ö. gesagt wird. Nicht angemessen ist daher das Urteil, die Qumrangemeinde stehe "in a priestly anti-Zadokite tradition" (185). "Beyond the Essene Hypothesis" ist, wie sich herausstellt, nur "a more refined Essene hypothesis", eine Spezifizierung der sog. Groningen-Hypothese (192). Sie leidet wie diese8 an der Unvergleichbarkeit des Essenerbildes der klassischen Quellen mit der Apokalyptik.

Fussnoten:

1) B.s Einschätzung der ältesten Henochliteratur leidet daran, dass er entgegen dem Handschriftenbefund, s. J. T. Milik, The Books of Enoch, Oxford 1976, 22-41, IHen 1-5 vom Buch der Wächter abtrennt (12).

2) Unerwähnt bleibt vor allem diejenige Forschungsrichtung, die mit ihrem Gegensatz von Theokratie und asidim B.s Konzept längst vorweggenommen hat: O. Plöger, Theokratie und Eschatologie, Neukirchen 1959; M. Hengel, Judentum und Hellenismus, Tübingen 31988, 319-394.

3) Einzuwenden ist, dass von der Toilettennotiz bei Josephus, bell. 2,148 f., wonach die Essener ihre Notdurft so verrichteten, dass sie die Exkremente in einer Grube verscharrten, die sie mit ihrer Hacke ausgehoben hatten, kein Weg zu den hebräisch als hawx tyb bezeichneten Latrinen (28, 48) führt.

4) Die weisheitlichen Wurzeln dieses Textes, die A. Lange nachgewiesen hat, s. ThLZ 122, 1997, 252 f., bleiben unbeachtet.

5) B. möchte annehmen, der hebräische Text von Sir 15,14 aus der Kairoer Geniza sei eine Qumran-Interpolation. Aber der gesamte Wortlaut ist schon rein sprachlich sicher nicht qumranspezifisch.

6) Vgl. R. Bergmeier, Die Essener-Berichte des Flavius Josephus, Kampen 1993, 62-64.

7)Vgl. dazu ZNW 86, 1995, 282.

8) Vgl. ThLZ 121, 1996, 1143.