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Ausgabe: | November/2000 |
Spalte: | 1145–1147 |
Kategorie: | Judaistik |
Autor/Hrsg.: | Becker, Hans-Jürgen |
Titel/Untertitel: | Die großen rabbinischen Sammelwerke Palästinas. Zur literarischen Genese von Talmud Yerushalmi und Midrash Bereshit Rabba. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 1999. X, 218 S. gr.8 = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 70. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146867-8. |
Rezensent: | Gerbern S. Oegema |
Das vorliegende Buch des jetzigen Lehrstuhlinhabers für Neues Testament und antikes Judentum in Göttingen wurde im Wintersemester 1996/97 als Habilitationsschrift am Berliner Institut für Judaistik angenommen. Das Buch ist eine Sammlung von Studien zur literarischen Genese von Talmud Yerushalmi (Y) und Midrash Bereshit Rabba (BerR), und zwar anhand einer Reihe von Beispielen. Es ist wie folgt aufgebaut: 1. Kapitel: Einleitung, S. 1-15; 2. Kapitel: Schöpfungs-Aggadot in yHag 2,1 und BerR 1-12, S. 16-60; 3. Kapitel: Halakhische Texte in BerR mit Parallelen im Y, S. 61-104; 4. Kapitel: BerR-Parallelen zu den Bavot-Traktaten des Y, S. 105-133; 5. Kapitel: Die Erzählung vom Tod R. Shemu'el bar Rav Yizhaqs, S. 134-148, und 6. Kapitel: Schluss, S. 149-156. In zwei Anhängen bietet der Verfasser die Übersetzung der analysierten Texte, S. 157-205. Ein Literaturverzeichnis, S. 207-211, und ein Stellen- und Autorenregister, S. 213-218, schließen die Arbeit ab.
Der Vf. behandelt eine Reihe von rabbinischen Texten als Texte, d. i. als faktische Materialisierung von rabbinischen Traditionen, und zwar auf der Grundlage der Handschriften und Drucke mit Hilfe der quellenkritischen Methode. Diese am genannten Institut applizierte und von Peter Schäfer et al initiierte Methode will Recht tun an den methodologischen Problemen der historischen Auswertung rabbinischer Quellen, Probleme, die nach dem Urteil des Vf.s ohne eine Definition der literarischen Ebene ohnehin nicht gelöst werden können, weil der Charakter der rabbinischen Literatur sich gegen die Erforschung ihrer Traditionsgeschichte sträubt (1-2). Damit setzt er sich gegen die Versuche u. a. H. Albecks und v. a. J. Neusners kritisch ab, den Text von BerR bzw. Y, und seine Endredaktion festlegen zu wollen, indem er grundsätzlich die Möglichkeit abstreitet, auf Grund der verfügbaren Handschriften überhaupt zu einem festen und einheitlichen Text gelangen zu können.
Das Ergebnis dieses methodischen Ansatzes ist u. a. in der von ihm und anderen herausgegeben Edition des Talmud Yerushalmi zu sehen: an Stelle eines eklektischen bzw. diplomatischen Textes, wie beim Novum Testamentum Graece, bietet sie eine Synopsis der wichtigsten Handschriften. Methodisch vorbereitet bzw. untermauert und vom Vf. fruchtbar gemacht wurde der Ansatz von G. A. Wevers, Probleme der Bavot-Traktate, Tübingen 1984. BerR und Y sind somit in ihrer materiellen Form, d. i. als Texte, als prinzipiell fließend und unabgeschlossen anzusehen (3-6). Auf Grund dieser Überlegungen werden nun einzelne Texte aus BerR und Y literar- und redaktionskritisch untersucht (7-8). Nach diesen Ausführungen im 1. Kapitel, das mit einer Forschungsgeschichte von L. Zunz, Z. Frankel, M. Lerner und H. Albeck bis J. N. Epstein und E. A. Goldman (8-15) abschließt, bietet der Vf. in den Kapiteln 2 bis 5 eine Reihe von Beispielen und fasst die Ergebnisse in einem 6. Kapitel zusammen.
Wie sieht nun die angewandte Methode in der Praxis aus? Kann der Vf. sein Versprechen einlösen, "daß sich auf der Grundlage einer solchen Arbeitshypothese der literar- und redaktionskritische Befund sehr viel ungezwungener erklären läßt als mit dem bisher angewandten, aber kaum problematisierten, starren Modell der Überlieferung rabbinischer Werke"? (8). Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir hier näher auf das 2. Kapitel eingehen.
Im 2. Kapitel, Schöpfungs-Aggadot in yHag 2,1 und BerR 1-12, werden, wie in den anderen Kapiteln, die jeweiligen Parallelen (16-19) im Einzelnen analysiert (19-58) und dann im Blick auf die Fragestellung in Konklusionen zusammengefasst (59-60). Die Texte finden sich dann noch in deutscher Übersetzung im Anhang, und sind daher leicht nachzuschlagen (157-172). Dabei ist es hilfreich - und kein Zufall, dass für die Untersuchung gerade dieser Textkomplex herangezogen wird -, dass BerR, Parashot 1-12 und yHag 2,1 (77c,16-77d,17) zum größten Teil eine parallele Überlieferung bieten.
Der Vf. vergleicht diese Parallele nun in der Reihenfolge von Y. Diese Reihenfolge setzt jedoch bereits eine Redaktionstätigkeit bei Y voraus, denn die Gemara zu mHag 2,1 ist in vier thematische Blöcke gegliedert: 1) Beschränkungen esoterischer Spekulationen, 2) Buchstabenspekulation, 3) zwei Gleichnisse und 4) Reihenfolge der Schöpfung: Schöpfungstage. Die Reihenfolge der insgesamt 17 Textblöcke (A-Q) in Y unterscheidet sich auf den ersten Blick von der in BerR sehr, und wenn der Vf. in den Einzelanalysen dann eine wieder andere Reihenfolge verfolgt ("im großen nach dem Aufriß der Gemara, im einzelnen dagegen nach BerR"), kann der Leser leicht die Übersicht verlieren; aber der Vf. geht so vor, "um nicht bereits mit der Anordnung der Texte ein mögliches Abhängigkeitsmodell nahezulegen" (19).
Nach den literar- und redaktionskritischen Einzelanalysen fasst der Vf. die Ergebnisse vor allem im Blick auf eventuelle Redaktionstätigkeiten in BerR und Y zusammen: 1) Es gibt keine Hinweise für eine Übertragung einzelner Texteinheiten aus dem einen Werk in das andere; 2) vielmehr haben die Kompilatoren der beiden Werke bereits vorredigiertes Textmaterial verwendet; 3) dieses Textmaterial bestand sehr wahrscheinlich aus vier unterschiedlichen Sammlungen, die 4) ihrerseits Teile umfassender Kompilationen gewesen sein könnten (59-60).
Im abschließenden 6. Kapitel fasst der Vf. die vorangegangenen Einzelanalysen im Blick auf Entstehungszeit und Entstehungsart von BerR und Y zusammen und muss auf Grund des Vorangegangenen 1) einen längeren Textentstehungs- und Redaktionsprozess voraussetzen, wobei es aber keinen "Urtext" gegeben hat. Auch gibt es 2) keine stichhaltigen Argumente für eine gegenseitige Abhängigkeit von BerR und Y. Weil es aber auch keine abschließende Endredaktion beider Werke gibt, "sondern nur Vertextungen oder Teilvertextungen verschiedener Redaktionen, die sich auch nicht zu einem linearen Redaktionsprozeß zusammenfügen" (150), erscheint 3) jede Datierung als ziemlich willkürlich, und lässt sich nur auf Grund von Rabbinernamen und Anspielungen auf historische Ereignisse feststellen. Es lässt sich 4) auch nicht sauber zwischen Redaktoren und Kopisten unterscheiden, was auf unwiderlegbare Weise von der Handschriftenüberlieferung bezeugt wird: es gibt keine einzige Handschrift, die einer anderen gleicht; dies gilt sogar für die Druckausgaben von Venedig bis Krotoschin, so dass 5) der textus receptus des Y, ebenso der der BerR, ein Produkt des Mittelalters und der Neuzeit ist (152). Was die Vorgeschichte beider Werke betrifft, gehen sie 6) auf ältere, vorredigierte und schriftlich fixierte Sammlungen zurück, und zwar unabhängig von Mischna und Schrift und mit einem thematischen Ordnungsprinzip. BerR und Y stellen somit 7) vorrangig diese in späteren Kontexten kompilierten Quellen dar. Und es ist 8) ebenfalls festzustellen, dass die neuen Kompilationen die älteren Quellen nicht nur ersetzt, sondern sie auch von z. B. häretischen Traditionen gereinigt haben.
Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass der Vf. auf überzeugende und eindringliche Weise vorgeführt hat, dass wir nicht mehr in gängigen Begriffen über BerR und Y im Besonderen und über die rabbinische Literatur im Allgemeinen sprechen können. Es gibt weder einen "Urtext" noch eine "Endredaktion", sondern nur eine Handschriftenüberlieferung mit fließenden Übergängen zwischen den jeweiligen Handschriften und auch zwischen den älteren und jüngeren Überlieferungsstadien. Dies erscheint mir als ein unlösbares hermeneutisches Problem, das sich z. B. auch auf traditionsgeschichtliche Fragestellungen übertragen lässt. Aber andererseits ist auch die verzweifelte Frage erlaubt, was denn der Leser bzw. Benutzer vom BerR, Y u. a. - vom Talmudschüler in Israel, und dem Judaistik/Jüdische Studien-Student in Deutschland bis hin zum Religionswissenschaftler ohne große judaistische Vorkenntnisse - mit diesem Ergebnis anfangen soll, wenn er hört, dass der Text, den er gerade liest, nicht das ist, was er denkt, das es ist.
Aber gerade darin liegt das Anregende dieser kleinen und kompakten Studie: Sie regt zum Nachdenken über Altbewährtes an. Sie verdient daher alleine schon wegen des methodischen Ansatzes auch über die Rabbinica hinaus Beachtung, etwa in Bezug auf die Datierung, den Umfang und die Entstehung der Septuaginta und des Masoretischen Textes, und zwar auf Grund der Qumranfunde; auch hier sind nicht nur die Texte fließend, sondern auch der wissenschaftliche Konsens. Ansonsten stellt sie einen gelungenen Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses zweier zentraler rabbinischer "Texte" dar.