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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zöckler, Thomas

Titel/Untertitel:

Jesu Lehren im Thomasevangelium.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. XII, 285 S. gr.8 = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 47. Lw. hfl 141,04. ISBN 90-04-11445-9.

Rezensent:

Jörg Frey

Das Thomasevangelium (EvThom), das in einer vollständigen koptischen Version in Nag Hammadi (NHC II,2) und drei griechischen Papyrusfragmenten aus Oxyrhynchus bezeugt ist, verdient auf Grund seines Inhalts und seiner Bezüge zur synoptischen Tradition besondere Aufmerksamkeit. Dabei besteht in der deutschsprachigen Forschung (E. Haenchen, W. Schrage, M. Fieger) größere Skepsis gegenüber dem Quellenwert des EvThom als in der amerikanischen Forschung, die zum Teil zu extremen Frühdatierungen neigt (H. Koester) und im EvThom z. T. mit einer größeren Zahl authentischer Logien rechnet als in den synoptischen Evangelien. Freilich wurde das EvThom in Deutschland bis vor kurzem allzu wenig beachtet. Die Studie von Z., eine Dissertation, die von dem verstorbenen Bonner Religionswissenschaftler H.-J. Klimkeit betreut wurde, versteht sich nicht zuletzt als ein Beitrag zur Vermittlung der amerikanischen Perspektiven in den deutschen Sprachraum.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste (9-98) behandelt "das Thomasevangelium als Teil der Jesusüberlieferung" und damit die Fragen von Gattung, Verfasserschaft und Überlieferung sowie das Verhältnis zur synoptischen Überlieferung, der zweite (101-252) erörtert "Jesu Lehren im Thomasevangelium". Dabei wird die weisheitliche (d. h. nicht gnostische!) Einordnung des EvThom begründet, dann werden wesentliche Logien unter einer Reihe von Leitmotiven ("Suchen und Finden", "Tod und Leben", "Zwei- und Einssein") zusammengefasst, abschließend werden die Selbstaussagen Jesu im EvThom interpretiert. Es folgen "Resümee und Ausblick" (253-259), Literaturverzeichnis und Register.

Das Ziel der Arbeit, Inhalt und Eigenart der im EvThom enthaltenen Lehren Jesu zu erheben, zielt letztlich auf ein historisches und sachliches Gesamtverständnis des EvThom. Die Schwierigkeit dieses Unterfangens liegt jedoch darin, dass dieses Werk kein klar erkennbares redaktionelles Konzept aufweist, aus dem sich der Rahmen des redaktionell intendierten Textsinnes ergeben könnte. Für die Interpretation des Werks ist es freilich von entscheidender Bedeutung, welche Textbasis bzw. welches Stadium der Überlieferung zu Grunde gelegt wird, ob von der Sammlung als ganzer oder von einzelnen Logien ausgegangen wird. Dies ist v. a. relevant für die Entscheidung, ob die Schrift als gnostisch eingestuft wird oder nicht. Z. entscheidet sich hier für eine Deutung auf dem Hintergrund der Spruchweisheit und gegen eine Ableitung aus gnostischem Denken. So plausibel dies angesichts der großen Zahl weisheitlich geprägter Logien erscheint, bleibt zu fragen, ob diese Logien im Kontext der Sammlung des EvThom nicht doch unter einem veränderten Vorzeichen zu lesen sind (wie dies z. B. der Prolog, Log. 1 etc. nahelegen), ob sich die Überlieferung also doch wenigstens "auf dem Weg zur Gnosis" befindet (J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 140).

Hermeneutisch gesehen, bestimmt der Kontext die Lektüre. Dies gilt auch für ein Werk wie das EvThom, dessen Einzeltexte nicht durch einen narrativen Rahmen verknüpft sind. Z. verkennt dies, wenn er meint, angesichts der unverbundenen Reihung von Einzellogien müsse jedes Logion gerade "für sich betrachtet und ergründet werden" (29). Nur auf Grund dieser hermeneutischen Entscheidung kann Z. die Indizien eines esoterischen oder spiritualisierenden Verständnisses in einzelnen Logien nicht als Lektüreanweisung für das Ganze werten. Faktisch interpretiert er damit aber nicht das EvThom als Logiensammlung, sondern nur thematisch verwandte Einzellogien, d. h. ein früheres Stadium der Überlieferung.

Welche hermeneutischen Probleme sich mit diesem Ansatz stellen, wird Z. wohl nur partiell bewußt. Der einzige vollständig erhaltene Text des EvThom ist ja die koptische Übersetzung der Sammlung, die dem 4. Jh. entstammt und gegenüber der griechischen Version der Oxyrhynchus-Fragmente noch Veränderungen und Umstellungen aufweist. Wo man (wie im Kreis um H. Koester und J. M. Robinson) diese griechische Version sehr früh datiert oder auf Grund der gattungsmäßig vergleichbaren Logienquelle mit sehr weit zurückreichenden, soziologisch gestützten "Entwicklungslinien" rechnet, werden Hypothesen aufgestellt, deren textliche Verifikation außerordentlich schwer fällt.

In seiner Erörterung der Einleitungsfragen referiert Z. fast durchgehend und mit großer Zustimmung die Thesen von Koester, Robinson und ihren Schülern, ohne die Gegensätze zwischen der (vorwiegend älteren) deutschen und der neueren amerikanischen Forschung argumentativ zu überwinden. Er votiert im Anschluss an J. H. Sieber und S. J. Patterson gegen W. Schrage für die weitgehende Unabhängigkeit der Thomas-Logien von den synoptischen Evangelien (wobei z. B. die Kritik von B. Dehandschutter oder Ch. Tuckett kaum gewürdigt wird), er plädiert mit H. Koester und gegen A. Lindemann für die größere Ursprünglichkeit der Gleichnisse des EvThom und mit Ph. Vielhauer und H. Koester für den sekundären Charakter der im EvThom fehlenden apokalyptischen Menschensohn-Worte in der Entwicklung der Jesus-Tradition.

Dabei zeigt sich, dass Z. die neutestamentliche Fachliteratur nur sehr eingeschränkt (und einseitig aus der Sicht des Koester-Kreises) wahrgenommen hat. Ph. Vielhauers Aufsatz zu "Gottesreich und Menschensohn" stammt aus dem Jahr 1957, aber Z. zitiert ihn, ohne den Widerspruch weiter Teile der neutestamentlichen Forschung zu würdigen. Die Forschungslage ist hier gewiss unübersichtlich, aber man sollte von einem Religionswissenschaftler wenigstens erwarten können, dass er Carsten Colpes Artikel Ô ÓÔ ÙÔÜ àÓÚÒÔ im ThWNT beachtet hätte. Dort hätte Z. auch deutlich werden müssen, dass "Gottesreich" und "Menschensohn" schon von Dan 7 her kaum voneinander abgelöst werden können, dass also der in der neueren amerikanischen Forschung beliebten These eines "unapokalyptischen" Jesus gravierende Gründe entgegenstehen. Gerade in der Jesusforschung ist es unerlässlich, die zeitgenössisch-jüdischen Hintergründe möglichst umfassend einzubeziehen. Wo man dies unterlässt, hängen alle Urteile über die Ursprünglichkeit oder Sekundärbildung von Jesusworten in der Luft.

Z. zeigt freilich gerade im Umgang mit jüdischen Traditionen und Quellen große Mängel. Er zitiert die Patriarchentestamente nach der Ausgabe von Charles (1908) und der Übersetzung von Kautzsch (1900) und entnimmt einer entlegenen Monographie aus dem Jahr 1952 den "breiten Konsens", dass diese um 100 v. Chr. in Hebräisch entstanden seien (86). Die ganze Forschung der vergangenen 50 Jahre wird dabei ignoriert. Nicht weniger problematisch ist es, wenn Z. späte rabbinische Traditionen als Parallele zu den Gleichnissen zitiert (154), ohne sich über die chronologischen Probleme Rechenschaft abzulegen. Es ist verwunderlich, dass solche Unsicherheiten im Promotionsverfahren und bei der Drucklegung unbemerkt geblieben sind!

Diese Hinweise sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Z.s Arbeit durchaus auch eine Vielzahl wertvoller interpretatorischer Beobachtungen zu einzelnen Logien des EvThom beisteuert und wichtige Sinnlinien dieses Werks herausstellt. Doch ist der Autor in seiner Gesamtauffassung zu einseitig auf die Thesen des Koester-Robinson-Kreises festgelegt und mit der neutestamentlich-exegetischen Fachliteratur wie auch mit den jüdischen Quellen zu wenig vertraut, so dass er nicht zu einer eigenständigen historischen Einschätzung gelangt. Des Weiteren findet die hermeneutische Interdependenz zwischen historischer Einordnung und sachlicher Interpretation zu wenig Beachtung: Z. erhebt Sinn und Bedeutung der Logien des EvThom, "ohne in erster Linie danach zu fragen, wer sie verfaßt oder wer ihnen die vorliegende Form gegeben hat" (258). Gleichwohl meint er feststellen zu können, dass das EvThom "Eigenständiges, so noch nicht Gehörtes enthält, das sich der Ableitung aus den geistigen und theologischen Konzeptionen anderer Texte weitgehend verweigert" (254). Auch zur Frage der Authentizität einzelner Logien des EvThom will sich Z. nicht festlegen; dennoch spielt er mit dem Gedanken, dass Jesu Lehre - wenn man das EvThom in die Rekonstruktion einbezieht- mehr mit Innerlichkeit und "Mystik" zu tun haben könne, als die gängige - neutestamentlich-theologische - Forschung auf der Basis des synoptischen Jesusbildes zugestehen wollte.

Angesichts der nach wie vor ungelösten historischen Probleme stehen diese Andeutungen leider nur auf einem recht schwankenden Grund. Zu einem überzeugenden Gesamtverständnis des EvThom oder gar zu einer vertieften Sicht der Entwicklung der Jesustradition vermag die Arbeit von Z. daher kaum zu führen.