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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1127–1130

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schüssler Fiorenza, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Rhetoric and Ethic. The Politics of Biblical Studies.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 1999. XI, 220 S. $19.-. ISBN 0-8006-2795-4.

Rezensent:

Christine Gerber

Der Titel des jüngsten Buches der als Krister Stendahl Professor in Harvard lehrenden Neutestamentlerin ist doppelt programmatisch. Er nennt nicht nur Rhetorik und Ethik als die beiden Brennpunkte der hier vorgelegten Wissenschaftskritik, sondern spricht auch e silentio. Die vielfach in feministisch orientierter Exegese und Theologie hervorgetretene Wissenschaftlerin hat diesmal wohl auf die Signalworte "Frau" oder "feministisch" im Titel verzichtet, weil die Erfahrung lehrt, dass Bücher solcher Titel in Bibliotheken oder reviews nur in bestimmten Regalen landen (für die Vfn. die moderne Version des biblischen "Schweigegebots", 3 f.), dies Buch hingegen aus der Tradition feministischer Wissenschaftskritik heraus einen Weg für die ganze exegetische Arbeit, ja für die Theologie überhaupt zu weisen beansprucht.

Die acht Kapitel des Buches gehen größtenteils auf bereits publizierte Aufsätze und Vorträge aus mehr als 10 Jahren zurück und pointieren, so versammelt, die auch monographisch dargelegten Anliegen der Vfn. zur feministischen Hermeneutik, Rhetorik und Politik. Ausgangs- und Bezugspunkt ist die "Presidential Address" auf dem meeting der Society of Biblical Literature 1987, in der die Vfn. einen Paradigmenwechsel in der Forschung zur Bibel forderte. Dieses hier wieder abgedruckte Programm vertieft das Buch in zwei Schritten von je vier Kapiteln: In einem ersten Teil ("Theoretical Explorations") wird die Forderung nach dem wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel genauer beleuchtet und begründet. In einem zweiten Teil ("Rhetorical Practices") folgt die Lektüre von Paulus-Texten im Sinne des verlangten Paradigmas.

Das neue Paradigma der Bibelwissenschaft kennzeichnet Sch. mit den Begriffen "rhetoric" und "ethic" und grenzt es vor allem von dem wissenschaftspositivistischen Verständnis ab, das zu Unrecht Wertfreiheit, Neutralität und Objektivität reklamiere, aber auch von dem (post)modernen hermeneutischen (ausformuliert z. B. als reader response criticism, Semiotik u. ä.), das zwar die Objektivität der Wissenschaft destabilisiere, aber immer noch Wertneutralität beanspruche (vgl. das 2. u. 3. Kap.).

Mit dem Begriff der Rhetorik knüpft Sch. an die "New Rhetoric" an, die Rhetorik nicht mehr als ornatus abtut oder gar als rein manipulativ verdächtigt. Sie weiß um die situative und kulturelle Bedingtheit und Kontingenz jeder menschlichen Rede, die nur zu Wahrscheinlichkeitsurteilen kommt und doch überzeugen will (vgl. z. B. 77). Wird dieses Verständnis von sprachlichen Äußerungen inzwischen in der Exegese gerade von Paulus-Texten vorausgesetzt, so sei dies nur ein "half turn", solange es nicht durch "a rhetoric of inquiry" ergänzt werde (vgl. das 4. Kap.). Die Einsicht in den rhetorischen, d. h. interessierten und intendierenden Charakter der sprachlichen Äußerungen sei auch selbstbezüglich auf die exegetische Arbeit anzuwenden: "This approach understands the Bible and biblical interpretation as a site of struggle over authority, values, and meaning." (vgl. 44 f., Zitat 45).

Dies soll geschehen im Bewusstsein um die eigene öffentliche Verantwortung, und hier wird der zweite Term im Titel, "ethics", zentral. Sch. fordert die Übernahme einer doppelten ethischen Verantwortung (26 ff.). Erstens bedarf es der Reflexion darüber, welche Art der Lektüre den Texten in ihrem Kontext gerecht wird und wie die irritative Kraft der Texte lebendig bleibt ("ethics of critical reading", 27), zweitens des Einstehens für die Konsequenzen der fortlaufenden Lektüre der Texte ("ethics of accountability", 28). In der Sache formuliert Sch. als ethische Kriterien - die gleichwohl gemäß dem Programm erst intersubjektiv erarbeitet werden müssen (67) - "justice and well-being for all" (28 und passim), als Ziel "the radical democratic society" (73 und passim), d. h. die ekklesia, in der alle gleich, frei und politisch engagiert sind. - Die Ethik der seit Jahrzehnten in Amerika lebenden Katholikin aus Deutschland verdankt sich Minoritäten-Theorien, mit denen sie postmodernen Infragestellungen widersteht (9), wie sie auch präpostmodern an der Virulenz des Subjekts festhält; theologisch gesprochen hat sie ihre Heimat in der Befreiungstheologie (vgl. bes. 179 ff.).

Nun wird auch deutlich, warum diese Metareflexion über die Theologie von der feministischen Bibelwissenschaft her entwickelt wird. Sie sieht schärfer noch als die herkömmliche Exegese, die den rhetorischen Charakter der Sprache zumindest im Blick auf ihren Gegenstand gewärtigt hat: Die feministische Linguistik hat auf die reifizierende Kraft der generischen Sprache aufmerksam gemacht; die feministische Geschichtsrekonstruktion hat angesichts der Folgen des gegen die Frauen verhängten Schweigegebots bis in die Gegenwart die Geschichtsmächtigkeit der biblischen Rede nachgewiesen; und die feministische Hermeneutik hat den gestus des Verdachts so eingeübt, dass die impliziten Machtinteressen jedweder Äußerung, auch der Exegese selbst, unübersehbar sind (vgl. 90 ff.). Und vor allem sind es feministische Wissenschaftlerinnen, die ethische und politische Konsequenzen daraus fordern.

Mit solcherart geschärftem Blick analysiert die Vfn. - in einer der lesenswertesten Passagen des Buches (75 ff.) - die gegenwärtige Rolle von Religion als der der Situation von Frauen analog, ja verquickt: Als privatum, als "anderes" wird die Religion inzwischen marginalisiert und feminisiert. Die biblische Wissenschaft habe sich mit ihrem "value-free, factualistic, antiquarian ethos of irrelevancy and of spiritualized edification" (76) ironischerweise selbst ins Abseits gestellt, um ihren Wissenschaftscharakter zu wahren. Wie die feministische Forschung ihre Rolle als "qualified residents" und zugleich "foreign speakers" (74) für die Theologie übernehme, müsse auch die Religion ihre Aufgabe sehen in der Beteiligung am Kampf um "meaning, ethics, and theology" (76).

In dem zweiten Teil wird dieser Ansatz exemplizifiert. Am Beispiel der rhetorischen Analyse des 1Kor (5. Kap.) wird auf deren Bedingungen und Vorgehen grundsätzlich reflektiert. Sch. hält das Interesse fest an der historischen Situation, auf die die Texte reagieren. Gerade Paulus sei als eine Stimme unter anderen zu lesen. In diesem Sinne geht sie auch in einem weiteren, wieder stärker theoretisch orientierten 6. Kap. auf die Geschichtsrekonstruktion ein. In Abgrenzung der historisch-positivistischen Geschichtsschreibung folgt sie zwar den postmodernen Theorien über die Relativität der Geschichtsschreibung, die von der Gegenwart entworfen wird, aber sie zieht daraus andere Schlussfolgerungen: Es bedarf der Produktion eines anderen historischen Wissens, das alle einschließt und das die Texte neu kontextualisiert (142). Hier wie öfter grenzt Sch. sich auch gegen Missverständnisse ihrer eigenen Geschichtsrekonstruktionsarbeit als positivistisch ab (146 f.). Anliegen der Geschichtsforschung ist nicht der Entwurf einer besseren Vergangenheit, sondern "to name the destructive aspects of its language and symbolic universe as well as to recover its unfulfilled historical possibilities" (148). In diesem Sinne analysiert Sch. dann die Auslegungen und Valenzen von der in Gal 3,28 erklingenden Vision radikaler Egalität (Kap.7).

Sch. zieht Schlussfolgerungen aus ihrem Programm in dem letzten Kap., in dem sie am Beispiel der Darstellung der Theologie des paulinischen Christentums noch einmal aufweist, wie in dem gängigen Prozess der Auslegung Ausgrenzungen und Unterordnungen reproduziert werden (durch "othering", Vereinheitlichung und Selbstidentifizierungen, 180 ff.). Gefordert sei, an die Stelle einer Konstruktion von paulinischer Theologie die Frage nach den in den paulinischen Briefen erkennbaren Kämpfen um Gleichheit, Freiheit, "volles Bürgerrecht" in der ekklesia zu stellen. Diese "biblical theology as rhetoric of ekklesia" (188 ff.) sucht nicht nach einem goldenen Zeitalter, legitimiert sich nicht durch einen Kanon im Kanon, sondern begreift Texte als Ausdruck von Prozessen und auch sich selbst als Weg, auf dem erst die Visionen für Gleichheit und Gerechtigkeit sichtbar werden.

Verbinden sich mit dem Begriff der Rhetorik also nicht nur immerwährende Selbstreflexivität, sondern auch das Fehlen jedes außersprachlichen Datums - Sch. bevorzugt deshalb Bewegungsmetaphern wie die des Tanzes oder des Dezentrierens-, so wird der Fixpunkt dieses perpetuum mobile umso wichtiger. Dass die ethischen Ziele, die axiomatisch fungieren, nicht mehr in dem vorliegenden Buch verdeutlicht und begründet werden- dies geschah in früheren Veröffentlichungen -, hinterlässt eine Unruhe, zumindest im protestantischen Paradigma.

Das Buch lässt seinen US-amerikanischen Hintergrund deutlich erkennen, nicht nur in der Benennung und Rezeption von dortigen Diskursen verschiedener Wissenschaften, die das Buch sehr informativ machen, sondern gerade auch in dem geschärften Blick für die Komplexität der hierarchischen Gesellschaft jenseits des Geschlechterdualismus. Die Vfn. hat bereits in früheren Veröffentlichungen den Neologismus "Kyriarchat" an die Stelle des üblichen Analysebegriffs "Patriarchat" gesetzt, um die Verflechtung von weiteren Dominanzkulturen neben der Geschlechterdualität wie Rassismus, Klassengesellschaft und "ageism" zu verdeutlichen. Gerade so ist die Aufsatzsammlung- die allerdings auf Grund ihrer Entstehung z. T. disparat und nicht immer flüssig zu lesen ist - lehrreich für unseren Kontext, in dem die Theologie noch recht monokulturell leibt und lebt und die herrschende Wissenschaftstradition dem Objektivitätsideal noch sehr treu ist. Man erwartet daher kaum, dass dem Umkehrruf zum Paradigmenwechsel viele nachfolgen werden. Doch Gründe dafür, dass der Platz der Theologie auch hier zum Plätzchen am Rande der Gesellschaft wird, sind in der scharfsinnigen Analyse der Vfn. zu finden. Man wünscht dem Buch viele Leserinnen und Leser hierzulande.