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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1125–1127

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lubac, Henri de

Titel/Untertitel:

Typologie - Allegorie - geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Franz. übertr. und eingel. von R. Voderholzer.

Verlag:

Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 1999. XIX, 492 S. gr. 8 = Theologia Romanica, 23. Geb. DM 68,-. ISBN 3-89411-357-X.

Rezensent:

Hans-Josef Klauck

Henri de Lubacs Studien zur Geschichte und Hermeneutik der Schriftauslegung, namentlich das vierbändige Werk ExÈgËse mÈdiÈvale. Les quatre sens de l'Écriture (1959-1964; der Titel täuscht etwas; tatsächlich ist das thematische Feld viel weiter abgesteckt), aber auch die große Origenes-Studie Histoire et Esprit (1950) und einige Aufsätze, haben die deutschsprachige Exegese, katholisch wie protestantisch, seltsam unberührt gelassen, was nicht nur an der Sprachgrenze liegen kann. Die lohnende und notwendige Auseinandersetzung mit seinem Denken wird aber sicher erleichtert durch die Auswahlausgabe in deutscher Sprache, die Rudolf Voderholzer nun vorlegt. Er ist für diese Aufgabe bestens ausgewiesen durch seine sehr beachtliche Dissertation zu de Lubacs Schriftverständnis Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn von 1998 (vgl. ThLZ 125, 2000, 46-48).

Was enthält, das sei unsere erste Frage, der neue Band überhaupt? Geboten wird im ersten Teil (1-261) eine vollständige Übersetzung von de Lubacs Buch L'Écriture dans la Tradition (1966), das seinerseits disparates Material zusammenfasst, nämlich das Schlusskapitel von Histoire et Esprit (jetzt als Kap. 1: "Das geistige Schriftverständnis" [7-92]), fünf ausgewählte Kapitel aus allen vier Teilen von ExÈgËse mÈdiÈvale (jetzt als Kap. 2: "Das zweifache Testament" [93-175] und Kap. 3: "Die Neuheit des Christlichen" [177-256]) und zwei Briefe von L.-H. Vincent, dem Schüler und Mitarbeiter von M. J. Lagrange, aus Anlass des Erscheinens von Histoire et Esprit (257-261). Im zweiten Teil (263-400) sind drei größere Aufsätze zusammengestellt: ",Typologie' und ,Allegorese'" von 1947 (265-317), "Ein altes Distichon. Die Lehre vom ,vierfachen Schriftsinn'" von 1948 (319-341) und "Hellenistische und christliche Allegorese" von 1959 (343-391), die ihrerseits schon eingegangen waren in de Lubacs Aufsatzband ThÈologies d'occasion (Paris 1984, 115-211). Hinzu kommt ein Geleitwort, das Hans-Urs von Balthasar der deutschen Ausgabe (1952) des Schlusskapitels des Origenesbuches mitgegeben hatte (395-400). Der Übersetzer steuert selbst neben einer Einführung mit Abkürzungsverzeichnis (VII-XIX) und dem Personenregister (484-492) noch eine Bibliographie der von de Lubac benutzten Sekundärliteratur (403-418) und vor allem ein umfängliches Verzeichnis (419-483!) der von de Lubac herangezogenen Quellen, in aktualisierter Fassung und unter Einbeziehung der Übersetzungen, bei. Diese ungemein fleißige Arbeit ist für den Benützer besonders hilfreich, vor allem angesichts der teils entlegenen Autoren, die de Lubac auswertet (s. u.). Insgesamt aber kann man sich bezüglich des Inhalts des Bandes nicht ganz des Urteils erwehren: sehr reichhaltig, aber auch verwirrend und uneinheitlich, mehr ein Konglomerat als eine geschlossene Sammlung, was zum Teil auf die komplizierte Druckgeschichte der Vorlagen zurückzuführen ist.

Vor allem in Kap. 2 und Kap. 3 des ersten Teils (den Auszügen aus ExÈgËse mÈdiÈvale) stellt de Lubac seine stupende Kenntnis der theologischen Literatur der Väterzeit und des Mittelalters unter Beweis. Seite um Seite wird der Leser förmlich bombardiert mit Ketten von längeren und kürzeren Zitaten aus teils bekannten (immer wieder Origenes, daneben Augustinus), teils völlig unbekannten Autoren, die irgendwo in den Tiefen der Patrologia Latina (PL) mit ihren zahlreichen Bänden ein verborgenes Dasein führen. (Welcher Exeget kennt auf Anhieb schon Namen wie Angelomus, Dungal, Helinand, Letbert, Marbod, Ratherius, Smaragdus und Thomas von Perseigne, alle in PL vertreten?) Dieses extensive Zitieren hat aber auch Folgen für den Stil: Der Duktus der Ausführungen von de Lubac wirkt oft weniger argumentativ, sondern mehr affirmativ, nicht selten geradezu beschwörend. Der Aneignung seines Denkens und der Auseinandersetzung damit dürfte das im Wege stehen.

In der Sache wird man de Lubac in nicht wenigen Punkten recht geben, so etwa, wenn er die Favorisierung der "Typologie" als völlig eigenständiger Größe gegenüber der "Allegorese" als apologetischen Kunstgriff entlarvt, der von der Tradition nicht gedeckt ist. Auch der innerkatholischen Diskussion um den "sensus plenior", einem Phänomen des 20. Jh.s, kann er nichts abgewinnen. Was die alten Formen der Schriftauslegung, gebündelt in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, angeht, plädiert er ausdrücklich nicht für deren unbesehene Neuauflage. Ihnen gebührt allerdings Respekt hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, die sie in ihrer eigenen Zeit unter Beweis gestellt haben, und ihre Anliegen sind unter veränderten Bedingungen nach wie vor ernst zu nehmen. Damit kommen wir zum geistigen Sinn der Schrift, dessen Rehabilitierung de Lubacs eigentliches Ziel darstellt.

Soweit damit gesagt sein soll, dass Schriftauslegung im Letzten auf die Erarbeitung von theologischen Aussagen abzielt und, metaphorisch gesprochen, dem geistlichen Leben der Gläubigen Nahrung geben will, ist ihm auch darin beizupflichten, zumal die historisch-kritische Exegese, die de Lubac nicht als Gegner, aber als Gegenpol vor Augen hat, an innere Grenzen gestoßen ist. Existentiale, strukturale, narrative, psychologische, intertextuelle und semiotische Lektüren der Texte haben einen neuen Zug ins Allegorische entwickelt, der durchaus an Elemente des vierfachen Schriftsinns erinnert.

Problematisch bleibt die Wertung des Alten Testaments bei de Lubac. Wir erfahren von ihm z. B.: Wo man "mit der Synagoge" allein am Alten Testament festhält, "wird dieser Bund erbärmlich und steril: der lebendige Geist der Prophetie ist in ihm erloschen; er ist ein Körper, an den man sich klammert, nachdem man ihm die Seele genommen hat; er ist tot" (194), oder wenig später: "Der Immanuel ist nicht mehr gegenwärtig unter diesem Buchstaben, an dem der ungläubige Jude noch immer festhält. Festgefahren in feindseliger Unbeweglichkeit, hält er von nun an die Wahrheit, deren Träger er doch eigentlich war, im Unrecht zurück, und ist in seiner Verehrung eines toten Buchstabens auf dem Weg dazu, sich der Haltung des Heiden anzuschließen" (197 f.). Es war de Lubac wohl nicht hinreichend bewusst, dass er damit, ob er will oder nicht, auch eine Aussage macht über eine gegenwärtige, lebendige Glaubensgemeinschaft, für die unser Altes Testament als Heilige Schrift nach wie vor genügt. Es fehlt, anders gesagt, bei ihm eine grundsätzliche Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Gottesvolk Israel und der Kirche, das man heute nicht mehr mit einem einfachen Ablösungs- und Substitutionsmodell beschreiben kann. Relativierend wird man den Zeitkontext bedenken, in dem de Lubac lebte und schrieb, und die Isolierung der obigen Zitate verleiht ihnen zugegebenermaßen eine Schärfe, die sie in seinem Gesamtwerk nicht besitzen. Aber es bleibt dennoch eine exklusiv christologische und ekklesiologische Engführung des Schriftverständnisses zu konstatieren, die sich an dieser Stelle negativ auswirkt und hinterfragt werden muss.

Diese kritischen Bemerkungen richten sich an de Lubac. Sie schmälern nicht das Verdienst des Übersetzers und Herausgebers, der sorgfältige Arbeit geleistet und sich um Bewahrung und Vermittlung des geistigen Erbes von de Lubac verdient gemacht hat.

Einige Korrekturen: Der Titel in Anm. 9 auf S. XVII muss lauten: "Translationes patristicae Graecae et Latinae ...". Pseudo-Heraklit mit seinen "Homerischen Allegorien" wird einmal als Heraklit von Pontus (266, Anm. 3), sonst aber als Heraklides (359, 369, 387) aufgeführt; ein Eintrag im Quellenverzeichnis, der Klarheit hätte schaffen können, fehlt. Antisthenes sollte man, wenn man ihn schon aufnimmt (424), nicht nur nach einer Ausgabe von 1842 zitieren, sondern z. B. auch auf die Edition von F. D. Caizzi (1966) verweisen. Auf die Auflistung der (wenigen) Akzent- und Schreibfehler im Griechischen sei verzichtet.