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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1117–1120

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Holderegger, Adrian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fundamente der Theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1996. 516 S. 8 = Studien zur theologischen Ethik, 72. Kart. DM 90,-. ISBN 3-7278-1027-0 u. 3-451-23970-1.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Dieser umfangreiche Band enthält Beiträge von 26 Autoren. Über die Fachvertreter der katholischen Moraltheologie und Sozialethik hinaus haben auch evangelische Theologen sowie Philosophen einige Artikel beigesteuert. Insgesamt geht es in dem Sammelband, 25 Jahre nach Alfons Auers programmatischer Schrift "Autonome Moral und christlicher Glaube" (1971), um den Ertrag, den die Diskussion zur sog. autonomen Morallehre aus heutiger Sicht erbracht hat (vgl. das Vorwort von A. Holderegger, 13 f.).

Die "autonome Moral" entstand damals wesentlich aufgrund des Problems, welche Kompetenz und Verbindlichkeit Äußerungen des päpstlichen Lehramtes zu moralischen Fragen eigentlich besitzen. Zunächst war vor allem das Verbot künstlicher Methoden der Empfängnisverhütung in der Enzyklika Humanae vitae (1968) strittig. Seitdem hat das Lehramt wiederholt, u. a. in der Enzyklika Veritatis splendor (1993), seinen Anspruch auf bindende moralische Vorgaben bei konkreten ethischen Einzelfragen bekräftigt. So gesehen ist es durchaus folgerichtig, daß im Januar 1998 der Brief des Papstes an die deutschen katholischen Bischöfe jetzt auch die Ausstellung von Beratungsscheinen bei der Schwangerschaftskonfliktberatung durch katholische Beratungsstellen verworfen hat.

Demgegenüber hatten Alfons Auer, Franz Böckle, Wilhelm Korff und weitere Vertreter der autonomen Moral unter Berufung auf Thomas von Aquin, aber auch im Anschluß an Kant die sittliche Entscheidungskompetenz, die Freiheit und die Gewissensverantwortung eines jeden einzelnen katholischen Christen betont. Damit widersprachen sie einem lehramtlichen Normativismus sowie amtskirchlichen moralischen Determinierungen. Ihre Position bietet für die katholische Theologie unvermindert Konfliktstoff.

Der vorliegende Band erwähnt den katholisch-innerkirchlichen Streit, ob lehramtliche Aussagen zur Moral Katholiken in ihrem Gewissen tatsächlich binden, allerdings nur am Rande (vgl. z. B. Dietmar Mieth, 291 f., 310 ff., oder Werner Wolbert, 313). Überwiegend enthält er Begriffsklärungen sowie theoretische Grundlagenüberlegungen über das Verhältnis der katholischen Ethik zur heutigen Philosophie, etwa zur Diskursethik bei K.-O. Apel und J. Habermas (z. B. Hans Schelkshorn, 237-260, oder Edmund Arens, 450-468), und überhaupt zur modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Der Band ist in fünf Kapitel gegliedert: 1. "Kontexte theologischer Ethik"; 2. "Philosophische und fundamentaltheologische Klarstellungen"; 3. "Anspruch und Begründung der ,autonomen Moral’"; 4. "Standortbestimmung und Neuorientierung der christlichen Sozialethik"; 5. "Tendenzen, Argumentationen und Methoden". Daß hiermit freilich kein ganz eindeutiges Aufbauprinzip und kein stringenter Duktus für das Buch vorliegt, räumt der Herausgeber im Vorwort durchaus ein (17). Losgelöst von dieser Kapiteleinteilung des Sammelbandes sollen im folgenden einige ausgewählte Gesichtspunkte hervorgehoben werden.

1. Verschiedene Beiträge erörtern die Veränderungen und Umbrüche, die für die geistig-kulturelle Situation der Gegenwart im Vergleich zu den 70er Jahren, der Anfangsphase der autonomen Morallehre, charakteristisch sind. Zur Sprache gelangen der gegenwärtige Traditionszerfall, der auch christliche Glaubens- und Moralvorstellungen betrifft (Jean-Pierre Wils, 21 ff.), die kulturelle Relativität von Wertvorstellungen und Menschenbildern in der Gegenwart (Dietmar Mieth, 305ff.), die Vernunftskepsis in der heutigen technischen Zivilisation (Hans-Joachim Höhn, 74 ff.) oder die Abschiednahme von einem einheitlichen Vernunftbegriff, insofern die postmoderne Gesellschaft von heterogenen, nicht kompatiblen Diskursen geprägt ist (J.-P. Wils, 30 ff.). Der heutige kulturelle Pluralismus macht es erforderlich, über das Rahmenethos der Gesellschaft neu nachzudenken (Thomas Hausmanninger, 376 ff.). Solche Erwägungen aktualisieren die Intention der autonomen Morallehre aus den 70er Jahren, den Gegenwartsbezug der katholischen Ethik zu sichern und, mit dem II. Vaticanum gesagt, die "Zeichen der Zeit" zu beachten.

2. Innerhalb des Katholizismus hat sich die "autonome Moral" mit ihrer Akzentuierung der persönlichen Freiheit und der ethisch-rationalen Verantwortung jedes einzelnen Menschen freilich keineswegs durchgängig durchgesetzt. Diese zwiespältige Bilanz wird in dem Sammelband nicht verschwiegen (vgl. die Hinweise von Thomas Pröpper, 169, oder von Hans Rotter, 281 f., 288). Nun hat auch die evangelische Theologie des 20. Jh.s, z. B. im Umkreis K. Barths, starke Vorbehalte gegen den neuzeitlichen, von Kant geprägten Vernunft-, Autonomie- und Freiheitsbegriff vertreten (vgl. die Bemerkungen zu Barth bei Hermann Ringeling, 187 f.). Der Aufsatz von Denis Müller/ Lausanne mahnt an, daß der Protestantismus den Autonomiebegriff durch Rückgriff auf Paul Tillich verstärkt aufarbeiten soll (202-220). Wie distanziert sich vor allem aber die heutige katholische Theologie gegenüber der "autonomen Moral" teilweise verhält, macht in dem vorliegenden Band der Aufsatz deutlich, den der an der Gregoriana in Rom lehrende Moraltheologe Klaus Demmer verfaßt hat. Erstaunlicherweise stellt Demmer die autonome Moral ihrerseits unter den Verdacht, überholten, starren scholastischen Positionen verhaftet zu bleiben (264). Sein eigener Gedanke lautet: "zuerst ist man Christ, und dann Mensch" (265). Demmer widerspricht einer wirklichen, konsequenten Öffnung katholischer Morallehre gegenüber heutiger ethischer Plausibilität und Rationalität. Für den Theologen gebe es aufgrund seiner Glaubenseinsicht "keine Nötigung durch Sachevidenzen oder stringente Argumentationsketten" (267); vielmehr könne er sich auf "ungebrochene Tradition" und "fraglose Vorgaben" berufen (273). Für seinen Gedankengang greift Demmer auch kommunitaristische Vorstellungen auf.

Solche Erwägungen sind m. E. kritisch zu diskutieren. Unter anderem ist zu fragen, ob sie nicht einer theologischen Immunisierungsstrategie sowie einer Selbstausgrenzung christlicher Ethik aus der philosophischen und aus der gesellschaftlichen, öffentlichen Ethikdebatte neuen Vorschub leisten.

3. Wie notwendig gerade heute die argumentative Vermittlung und Plausibilisierung theologischer Ethik nach außen ist, lassen Bemerkungen des Philosophen Jean-Claude Wolf erkennen. In der Philosophie seien inzwischen Desinteresse, ja "Ächtungspraktiken" gegenüber der Theologie zu beobachten (127). Solchen Marginalisierungstendenzen sollte die Theologie vorbeugen. Erhellend sind die Denkoptionen, die im Rahmen des Sammelbandes der Bonner Philosoph Ludger Honnefelder zur Möglichkeit einer konstruktiven Verhältnisbestimmung von theologischer Ethik und Philosophie vorträgt. Sein Beitrag diskutiert die Zuordnung von Gott und dem Guten in Platos Dialog Euthyphron sowie bei Wittgenstein. Honnefelder weist auf motivierende, ethosbegründende, normschöpferische und die menschliche Lebenseinstellung stabilisierende Funktionen von Religion hin (113-125).

4. Die generelle Anschlußfähigkeit christlicher Ethik gegenüber modernem Denken hatten Franz Böckle und andere Autoren der "autonomen Moral" bereits in den 70er Jahren im Blick. Sicherlich: Manche Akzente der damaligen autonomen Moraltheorie sind inzwischen mit Zurückhaltung zu betrachten. Dies gilt etwa für die Ausblendung der Gefühlsebene aus dem Moralverständnis (so anknüpfend an feministische Sichtweisen - Marianne Heimbach-Steins, 420 f.). Oder: Unter den Bedingungen der multikulturellen Gegenwartsgesellschaft ist das Verhältnis von Pluralität und Universalität ethischer Urteile und Normen ganz neu zu diskutieren. Diese Notwendigkeit betonen Vordenker der autonomen Morallehre wie Karl-Wilhelm Merks selbst (vgl. Hans Schelkshorn, 238 Anm. 4, 245 ff.).

5. Doch hiervon abgesehen - der wegweisende Gehalt der autonomen Moral tritt auch dadurch zutage, daß ihre Leitideen nicht nur für die katholische Moraltheologie im engeren Sinne, sondern ebenfalls für die katholische Sozialethik von Belang waren und sind. Die katholische Soziallehre begreift sich heute keineswegs mehr als geschlossenes System, sondern als "Gefüge offener Sätze" (Franz Furger, 360). Der Beitrag von Thomas Hausmanninger veranschaulicht dies, indem er die normative und konstruktive Bedeutung des Personprinzips für das Ethos der modernen Gesellschaft hervorhebt (376 ff.).

Weniger überzeugend ist m. E. freilich der - im Anschluß an N. Luhmann und K. Homann vorgetragene - Gedanke, der Gegenstand der christlichen Sozialethik seien nur die in der Gesellschaft geltenden "Systemregeln" oder "Spielregeln" (Michael Schramm, 396 f.). Eine solche Position kann dazu führen, daß die Sozialethik der reinen Binnenlogik gesellschaftlicher Systeme und Institutionen verhaftet bleibt. Die Reflexion der individuellen moralischen Verantwortung sowie der Entscheidungsdilemmata und Konfliktsituationen, in die einzelne Menschen innerhalb gesellschaftlicher Systeme oder Institutionen geraten können, droht hier zu sehr beiseitegeschoben zu werden. Überhaupt tritt die normativ-kritische, kriteriale Komponente der Ethik in dieser Konzeption zu stark zurück.

6. Insgesamt belegt der Sammelband die vielfältige, ja kontroverse Theoriedebatte der heutigen katholischen Ethik. Die Bemühungen der "autonomen Moral", ein statisches, essentialistisches oder kirchlich-autoritatives Ethikverständnis zu überwinden, die Verantwortung des Einzelnen als des ethischen Subjekts herauszustellen und Bezugspunkte zwischen christlicher Ethik und neuzeitlich-moderner ethischer Rationalität aufzuzeigen, sind unverändert relevant. Diese Denkanliegen müssen - wie eine Reihe von Beiträgen in dem Sammelband es ja auch verdeutlichen - jetzt freilich auf die aktuelle kulturelle und geistige Situation, d. h. auf die Anfordernisse der nachkonfessionellen, pluralen Gesellschaft und des kulturübergreifenden Dialogs hin fortgeschrieben werden.