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Ausgabe: | Juli/August/1996 |
Spalte: | 740–742 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Stock, Konrad |
Titel/Untertitel: | Grundlegung der protestantischen Tugendlehre. |
Verlag: | Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 171 S. 8o. ISBN 3-579-00097-7. |
Rezensent: | Udo Kern |
Ein hohes Ziel setzt sich dieses Buch von Konrad Stock. Die protestantische Tugendlehre soll ihr Fundament durch diese Veröffentlichung erhalten. "Es war das Ziel der vorliegenden Darstellung, die Grundlegung einer protestantischen Tugendlehre zu entwickeln." (160) Also ein sehr kühnes und nicht unbescheidenes Vorhaben ist hier bewußt intendiert. Es geht dem Vf. nicht nur um einen Beitrag, sondern ausdrücklich um "Grundlegung der protestantischen Tugendlehre" selbst. Dem Vf. ist zu zustimmen, wenn er das defizitäre protestantisch-theologische Bedenken des Tugendbegriffes beklagt. Seine Veröffentlichung soll das nicht nur signalisieren, sondern wesentlich Abhilfe verschaffen. Wenn sich auch selbstverständlich der Vf. darüber im klaren ist, en detail konkret nicht erschöpfend sein zu können.
Zum Aufbau des Buches: Nach einer Einleitung ("Die Aufgabe einer prostestantischen Tugendlehre", folgen die Paragraphen 1 ("Der Erkenntnisweg einer protestantischen Tugendlehre") und 2 ("Erinnern - Empfinden - Lieben. Eine Theorie der affektiven Erfahrung") und die drei sozusagen trinitarischen Paragraphen: 3 ("Gottes Güte. Eine Theorie des Sollens"), 4 (Das innere Bild Jesu Christi. Eine Theorie des Bilderlebens") und 5 ("Die Frucht des Geistes. Die Bildung der Tugenden").
Eine dem reformatorischen Wirklichkeitsverständnis des Glaubens entsprechende Tugendlehre habe "für die Kommunikation in der kirchlichen Öffentlichkeit, aber auch für den Beitrag des Christentums zum öffentlichen Diskurs der Gesamtgesellschaft größtes Gewicht und weitreichende praktische Relevanz." (17) Mit seiner Grundlegung einer protestantischen Tu-gendlehre verbindet der Vf. die Hoffnung, "der individuellen Selbsterfahrung im Rahmen der christlichen Gemeinde besser gerecht zu werden... als... Ethiken des deontologischen Typs". (19)
Beim wissenschaftlichen Diskurs zur Tugend ist es von elementarer Bedeutung, sich über die Definition des Tugendbegriffes zu vergewissern und zu positionieren. Dies kann solide und effizient nur im Gespräch mit der diesbezüglichen philosophischen und theologischen Tradition geschehen. Das versucht nun auch der Vf., aber zu einem hinreichenden wissenschaftlichen Dialog mit dem traditionellen Tugend-Diskurs kommt es in dieser Arbeit in nicht befriedigender Weise. So sind beispielsweise die Ausführungen des Vf.s zu Aristoteles, Thomas und Kant nicht ausreichend, wenn auch holzschnittartig Wichtiges angerissen wird. Gerade bei der vom Vf. intendierten Grundlegung einer protestantischen Tugendlehre ist das gründliche Gespräch mit den Tugendtraditionen m.E. essentiell.
Kritik an traditionellen Aussagen zur Tugendlehre ist für den Vf. gleichwohl angesagt. An Kant kritisiert S., daß dieser zwar "die Tugendlehre als willentliche(n) Affirmation der Pflicht", nicht aber "die Konstitution der tugendhaften Gesinnung" thematisiere (125). Dagegen beachte Otto Friedrich Bollnow "die ontologische Voraussetzung der Tugend", verbinde sie aber nicht mit der Güterlehre. (125) Alasdair MacIntyre urgiere zu Recht den unbedingten Konnex zwischen Tugend und Gutem, aber hier gäbe es eine Unterbestimmung des Guten. In "einer Phänomenologie der Liebe, in der sich Gottes Gnade an der individuellen Person als wirksam erweist" habe die römisch-katholische Tugendlehre ihre Mitte. (128) Allerdings kranke dieser Tugendbegriff (so der Bernhard Härings) an der Eliminierung der reformatorischen Unfreiheit des Willens.
Der Vf. versteht "unter dem Begriff der ,Tugend' diejenige Kraft, mit der wir ein von uns anerkanntes Ziel in unseren Interaktionsprozessen mit anderen auf geeigneten Wegen in spontaner, kreativer, beharrlicher und sicherer Weise realisieren." (144) Die modalen Bestimmungen dieses Tugendbegriffes sind in dieser apodiktischen Art wohl kaum allgemein konsensfähig. Für S. ist die Frage nach der Tugend die "nach der ,Freude an dem, was sein soll'"(134). Nach dem Guten ist zu fragen, sei reformatorisch theologisch angesagt. Theologisch, christologisch und pneumatologisch konstituiere sich reformatorisch gesehen das Gute. So sei die "reformatorische Lehre vom Wirken des Heiligen Geistes die doktrinale Beschreibung der Konstitution der sittlichen Gutheit der Person, die ihr freies Mitwirken an der gemeinsamen Hervorbringung des Guten allererst ermöglicht." (134) (Der Vf. verweist auf Solida Declaratio III und IV und auf die Bücher III und IV von Calvins Institutio.) Die innere Vergegenwärtigung (erinnerndes Bild) des Todes Jesu als "Urimpression des Guten" (117) evoziere Gutes. "So ist das Kreuz des Auferstandenen das ikonische Zeichen, an welchem das Phänomen der Umkehr zum guten Leben erlebbar wird, die Gott der Vater durch den Sohn ermöglicht und im Heiligen Geist erschließt." (119).
Eine protestantische Tugendlehre bräche eine einseitige sprachlich fixierte Theologie des Wortes Gottes auf und überwinde "die ,Bildvergessenheit' in der theologischen Dogmatik" des Protestantismus (164). Das inkludiere notwendig eine Interpretation der media-salutis-Lehre "im Sinne einer Theorie der Relation von Bild und Sprache". (164). So würden auch berechtigte Anliegen feministischer Theologie berücksichtigt und eine von den ästhetischen Erfahrungen des Glaubenslebens geprägte theologische Ästhetik zu inaugurieren sein.
Tugend sei "unverfügbar", da sie sich in der Geschichte des Volkes Gottes als Gabe des trinitarischen Gottes erweise. Tugend beruhe damit auf "einer Möglichkeitsbedingung", die zu ergreifen "fundamentalanthropologische Aufgabe" sei. (160) Hier greife eine "Theorie der affektiven Erfahrung", die das Moment des ",fühlende(n) In-der-Welt-Sein(s)'" (161) fokussiere. Theologie präzisiere den "Rahmen einer Theorie der affektiven Erfahrung in der Form der Güterlehre" und ermögliche durch ihre Unterscheidung von Gesetz und Evangelium "eine innere Logik in der Konstitution des ethischen Subjekts", die dieses befähige, in einer Entscheidung des gemeinsamen Guten die ethische Aufgabe des Lebens zu erblicken. Theologie wisse um die Unentbehrlichkeit des "Subjekt(es) der Verzeihung" (Robert Spaemann) für den Ethisch-Handelnden, das die Theologie christologisch verifiziere. (163)
Glaube als der "Weg zu ewigem Leben und damit zum definitiven, anfechtungslosen (UK: sic!) Bleiben... in dem Guten" (61) ist für S. fundamental Tugendrelevant. - Es gelingt S., auf die (auch nach dem Erscheinen seines Buches) anstehende Problematik Tugend in reformatorischer Perspektive (in teilweiser origineller Art) aufmerksam zu machen. Er reißt vieles an, assoziiert manches Wichtige zum Thema. Die "Grundlegung der protestantischen Tugendlehre", wie der Titel suggeriert, allerdings ist dieses Buch nicht. Besser und sachgerechter wäre es gewesen und dem Inhalt gemäßer, wenn im Titel der Arbeit von einem Beitrag zur Problematik einer protestantischen Tugendlehre die Rede wäre.
Für die Grundlegung einer protestantischen Tugendlehre bedarf es des fundamentalen präzisen Gesprächs mit der reformatorischen Theologie und damit zusammenhängend einer diesbezüglichen exegetisch gründlich erarbeiteten biblischen Interpretation.