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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

736–739

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Spieker, Manfred [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nach der Wende: Kirche und Gesellschaft in Polen und in Ostdeutschland. Sozialethische Probleme der Tranformationsprozesse.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1995. 430 S. gr.8 = Politik und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 15. ISBN 3-506-76824-7.

Rezensent:

Rudolf Mau

Der vorliegende Band bietet, gerahmt von einer Einführung und einem abschließenden Diskussionsbericht, 20 Einzelbeiträge zu Fragen der postkommunistischen Transformationsprozesse in Polen und Ostdeutschland. Die Untersuchungen beziehen sich für beide Gebiete auf die katholische Bevölkerungsmehrheit bzw. -minderheit. Die Einführung wie auch schon das Vorwort von M. Spieker (Institut "Kirche und Gesellschaft", Universität Osna-brück), thematisieren die Frage, was die katholische Soziallehre für das Verständnis und für die Förderung jener Prozesse zu leisten vermag. Schon 1992 war ein Band zur gleichen Thematik, jedoch mit deutlich anderer Akzentuierung, erschienen. Ging es damals um die Darstellung des konstatierbaren "Beitrags" der katholischen Soziallehre zu den Transformationsprozessen in beiden Ländern,(1) so liegt der Schwerpunkt jetzt bei der Analyse von Problemen und dem Gewinnen von Perspektiven für den weiteren Weg. Dabei steht für alle Beitragenden die maßgebliche, orientierende Bedeutung der katholischen Soziallehre fest.

Je zehn Aufsätze befassen sich mit der "katholischen Kirche" und mit der "Gesellschaft" im Transformationsprozeß. Insgesamt fünf Beiträge gelten den Verhältnissen und Vorgängen in Ostdeutschland. Drei davon sind der ersten Gruppe zugeordnet. Je eine Darstellung über "Kirche und Gesellschaft" in Ostdeutschland stammt von den Bischöfen von Erfurt und Dresden, J. Wanke und J. Reinelt. Eine gemeinsame materialreiche Untersuchung über "Die katholische Soziallehre bei Priestern und Jugendlichen in den neuen Bundesländern" haben C. Dölken und U. Weiß beigesteuert.

In der zweiten Gruppe berichten der Erfurter Pastoraltheologe F. G. Friemel über den "Wandel der Werte im ostdeutschen Transformationsprozeß" und die Soziologin Renate Köcher, auf Ostdeutschland und Polen bezogen, über den "Wandel der Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen im Transformationsprozeß" Alle übrigen Beiträge befassen sich in einem thematisch differenzierten Programm mit Polen. Hier geht es, zunächst auf den Beitrag der Kirche zum Transformationsprozeß bezogen, um die Rolle der Laien (S. Wilkanowicz), der Pfarrgemeinden (Elzbieta Firlit), der katholischen Verbände und Bewegungen (H. Juros, Aniela Dylus), der Klubs der katholischen Intelligenz (Z. Nosowski) sowie des seit 1945 erscheinenden katholischen gesellschaftlich-kulturellen Wochenblattes "Tygodnik Powszechny", dessen Inspiratoren L. Walesa als "meine und unsere Lehrer", die die Solidarnosc "geschaffen" hätten, bezeichnete (194).

Die zehn Aufsätze des zweiten Teils behandeln verschiedene Aspekte des Transformationsprozesses der frühen 90er Jahre. Außer den zwei Beiträgen zu Ostdeutschland (s. o.) geht es hier, auf Polen bezogen, um das Verhältnis von Bürger und Staat (A. Bobko), das Arbeitsethos (J. Tischner), sozialethische Einstellungen (T. Szawiel), um die Rolle der katholischen Soziallehre in den Programmen politischer Parteien (T. Dacewicz) und bei den Sejm-Abgeordneten (J. Auleytner), um das Verhältnis von katholischer Kirche und lokaler Demokratie (P. Kryczka). Auf "stabilisierende und destabilisierende Elemente der politischen Kultur" hin untersucht K. Ziemer, Politologe in Trier, den polnischen Transformationsprozeß; M. Prawda behandelt den "Wandel der Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen" in diesem Prozeß.

Der Aufsatzband, das Ergebnis eines dreijährigen, in Osnabrück betreuten Projekts, vermittelt starke Eindrücke von den Problemen der Wandlungsprozesse. Die Beiträge variieren me-thodisch (z. B. durch das Nebeneinander von statistisch fundierter und mehr auf dem Erfahrungsschatz persönlichen Beteiligtseins beruhender Darstellung), aber auch im Hinblick auf Ak-zentuierungen und Urteile. Der Herausgeber betont, daß die postkommunistischen Transformationsprozesse sich als schwieriger, als zunächst abzusehen war, erwiesen hätten. Vor allem betreffe das "die Rekonstruktion einerZivilgesellschaft", einer "Gesellschaft selbstbewußter Bürger", die Initiativen ergreifen können und wollen, die "Entwicklung einer politischen Kultur, die Demokratie und Marktwirtschaft trägt" (7). Nicht nur das politische System (Wirtschaft und politische Kultur), sondern "auch die Kirchen" seien davon betroffen, obwohl sie weder ihre Botschaft noch die Sakramente, weder ihre Hierarchie noch ihre Liturgie hätten reformieren müssen (vgl. hierzu aber J. Gönner, Die Stunde der Wahrheit; Rez. ThLZ 1996, 497-499!). Sie müßten einen "neuen Standort im demokratischen Verfassungsstaat", in der "pluralistischen Gesellschaft" finden. Dazu gehöre auch "ein neues, die Laien einbeziehendes inneres Gefüge" der Kirche selbst. Die katholische Soziallehre wird als "Entwicklungsressource" beim Aufbau einer Zivilgesellschaft gewertet (8; 225; 333). Aber im Hinblick auf Kenntnis und Ak-zeptanz der Soziallehre - ja schon hinsichtlich ihrer situationsgerechten, aktuell hilfreichen Interpretation - gibt es, wie man wiederholt liest, beträchtliche Probleme. Zur Zeit der DDR bot sie für katholische Priester, ohne anwendbar zu sein, eine "geistige Grundlage und Kriterien" für die Auseinandersetzung mit dem Regime (117). Die soziale Marktwirtschaft sei zwar im Prinzip, nicht aber in ihrer gegenwärtigen Praxis mit dem katholischen Glauben und der Soziallehre vereinbar (120).

Zur gegenwärtigen Situation besonders in Polen wird unter verschiedenen Aspekten ein Bedeutungsverlust der Kirche konstatiert. Traditionelle Einstellungen und Haltungen, das Gegen-über von klerikaler Autorität und verbreiteter Passivität der Laien, erweisen sich als akut problematisch. Seit 1989 habe die Kirche, "genauer ihre Führung", Schwierigkeiten gehabt, ihren Platz im neuen sozio-politischen System zu definieren (Ziemer, 224). Von einer "Verlorenheit der polnischen Bischöfe angesichts der Wirklichkeit des demokratischen Staates" ist die Re-de. Hier zeige sich ein generelles Problem, "das die moderne Demokratie der katholischen Kirche überhaupt gebracht" habe (Stawrowski, 198. 197). In der Bevölkerung Polens gebe es einen Wandel von "Stimmungen", in der Jugend z. B. von der vormaligen "katholischen" jetzt zur "antiklerikalen" Mode (No-sowski, 168). Wiederholt wird der Zerfall früherer Orientierungen, der Wertewandel thematisiert (Friemel, 269-286; Prawda 319-333; Kryczka 382-386 u. ö.)

Einmütig wird die Notwendigkeit betont, daß die katholische Kirche sich ohne Vorbehalt auf die rechtsstaatliche, freiheitliche Ordnung der Demokratie westlicher Prägung einlassen müsse. Die größere Freiheit sei eine größere Chance für das Evangelium. "Was nicht in Freiheit gedeiht, gedeiht überhaupt nicht" (Wanke, 46). In Polen aber habe die jahrelange Debatte um die Abtreibungsfrage (1990-1993) und deren Verquickung mit Wahlen gezeigt, daß die Kirche hinsichtlich der Spannung von Freiheit und (Naturrechts-)Wahrheit dahin tendiere, im Konfliktfalle das "neue" Kriterium der Teilhabe der Bürger am öf-fentlichen Leben der "alten" Doktrin des Naturrechts nachzuordnen (Stawroski, 199). Hier freilich gibt es Widerspruch des Herausgebers gegen ein in die polnische Diskussion hineinwirkendes "jakobinisches Demokratiemodell" (24). Eine bestehende Rechtsordnung müsse auch Grenzen für Mehrheitsentscheidungen setzen, denn die "Grundrechte oder das Naturrecht" seien selbst "eine Legitimitätsbedingung der Demokratie" (404 f.).

Das Buch präsentiert zahlreiche Beobachtungen zu den Be-findlichkeiten katholischer Christen in der Umbruchsphase. Zur Frage der seit 1989 garantierten Redefreiheit ergab sich z. B. für Polen, daß das "Religiositätsniveau" eine diesbezügliche Toleranz "negativ" beeinflusse (302). Verbreitete Orientierungslosigkeit, biographische Aspekte des Umbruchs ("Wendeneurosen") und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Lernprozesse werden zum Anlaß, für "eine Pastoral der christlichen Mündigkeit" zu plädieren. Nur "eine Kirche des Dialoges" könne die großen aktuellen Aufgaben bewältigen (333). Über die evangelische Kirche, ihre Rolle in der DDR und bei der Wende, gibt es differierende Urteile. Sehr entschieden plädiert Bischof Wanke für eine enge Zusammenarbeit im sozialethischen Bereich. Evangelische "Ängste wegen vermeintlichen katholischen Machtstrebens" müsse man entkräften, konfessionelles Denken von der Politik fernhalten (402 f.). Ungeachtet gelegentlicher Irritation "möchte unsere Ortskirche sich nicht von diesem Weg der Ökumene abbringen lassen" (49).

Bei der Lektüre des Aufsatzbandes fällt auf, daß die "katholische Soziallehre" zwar eine generell orientierende Funktion in-nerkatholischer Verständigung bei der Situationsanalyse und Wegsuche im "Transformationsprozeß" hat, daß sie angesichts deutlich beschriebener Herausforderungen aber selbst auch zu einer erst aktuell zu definierenden Instanz wird. Der Band beeindruckt durch die Entschiedenheit und Aufrichtigkeit, sich der Umbruchsituation zu stellen, die Kirche zum Aufbruch aus alten Positionen und Sicherheiten, zur Wahrnehmung ihres Evangeliumsauftrags, und die Katholiken zum entschlossenen Annehmen der Herausforderungen und Chancen der zu bildenden "Zivilgesellschaft" - einer "Zivilisation der Solidarität" - zu ermutigen.

Fussnoten:

1 Manfred Spieker [Hrsg.]: Vom Sozialismus zum demokratischen Rechtsstaat. Der Beitrag der katholischen Soziallehre zu den Transformationensprozessen in Polen und in der ehemaligen DDR. Paderborn 1992. 203 S. (= Bd. 11 der gleichen Reihe).