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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

732–734

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lobe, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. XII, 295 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 68. Lw. DM 158,-. ISBN 3-11-014429-8.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Emanuel Hirsch (= H.) gehört zu den umstrittensten Theologen unseres Jahrhunderts. Sein noch immer nicht hinreichend dokumentiertes Engagement für den Nationalsozialismus wirft düstere Schatten auf sein wissenschaftliches Werk. Diese fallen auch auf die gegenwärtige Hirsch-Forschung, die der gleiche Ideologieverdacht trifft, der H.s Politischer Theologie nachgewiesen werden kann. Diesem Risiko scheint sich auch der Vf. mit seinem Vorhaben, "Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs" zu rekonstruieren, auszusetzen. Wegen ihrer moralisierenden Tendenz sind Teile der theologischen Historiegraphie noch nicht so weit, sich - wie der Vf. - die in der Profanhistorie seit längerem übliche Historisierung des Nationalsozialismus zueigen zu machen. Die vorliegende Studie dokumentiert, daß neben der methodisch kontrollierten Auswertung der Quellen die vom Vf. - im Verein mit neueren Tendenzen der Hirsch-Interpretation - gewählte genetisch-problemgeschichtliche Perspektive am ehesten ermöglicht, die Grundeinsichten H.s "verstehend zu rekonstruieren" (5), ihre "theoriegeschichtlichen Be-züge aufzuweisen" (ebd.), um sodann seine politischen Auffassungen zu analysieren und zu bewerten.

Die problemgeschichtliche Rekonstruktion legt sich bei H. auch deswegen nahe, weil dieser sein Denken stets an klassischen Theoriealternativen entwickelt hat. So legt der Vf. in jedem Abschnitt die jeweiligen Bezüge frei. Im ersten der beiden Hauptteile setzt er zur Rekonstruktion der "A. Genese des Gewissensbegriffs als der Grundkategorie der Ethik Hirschs" (7-125) an. Die "I. Ethischen Grundlegungsfragen" (1-37) be-ginnen bei der Kant-Kritik Fichtes, dessen frühen Gewissensbegriff H. in seiner Promotionsschrift rezipiert. Er hat die Funk-tion, offene Vermittlungsprobleme innerhalb des kantischen Theoriegefüges zu lösen. Gegenüber dem auf formell-rationale Vermittlung abgestellten Modell Kants bevorzugt H. Fichtes These von der "Bestimmung des ethischen Bewußtseins im Sinne der Unmittelbarkeit seiner Gehalte" (104). Sodann zeigt der Vf., daß H. unter dem Eindruck seines Lehrers Karl Holl "II. Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit" (38-75) aufgreift. Mit Holl betont H. den reflexiven und ethischen Charakter von Luthers Religionsbegriff, übernimmt den theozentrischen Grundansatz von Holls Lutherdeutung und führt ihn wie jener mit der Denkform der Antinomie durch. "III. Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit im Gewissensbegriff" (78-125) bietet die Theoriesynthese.

Im Anschluß an Holl deutet H. die Rechtfertigungslehre als Theorie des religiösen Bewußtseins. Die ethische Fassung des religiösen Wirklichkeitsverständnisses geht in den Gewissensbegriff ein, den H. während der theologischen Debatten der zwanziger Jahre durchbestimmt und zum Fundament seiner Theologie und Ethik ausbaut. Während H. mit Luther gegen-über Fichte die Begründungsfunktion der Religion gegenüber der Sittlichkeit betont, grenzt er die Gewissensentscheidung scharf gegen jede Form von Rationalität ab. Sie ist zwar nicht gänzlich irrational, hat aber einen "a-logischen Charakter" (101). Die Theoriesynthese aus Luther und Fichte wiederholt sich auf der Ebene der Sozialphilosophie. Im typologischen Vergleich entwickelt H. einen normativen Begriff von Gemeinschaft, in dem Personalität und Sozialität wechselseitig aufeinander verweisen. Der ethisch-religiösen Begründung von Sozialität steht die empirische gegenüber, beide bedingen einander.

Im zweiten Hauptteil entfaltet der Vf. "B. Die Prinzipien der Ethik Hirschs" (115-277). Die produktive Theoriefortschreibung H.s betrifft auch das "Das Problem der Christlichkeit der Ethik" (117-125). H. radikalisiert die These W. Herrmanns, nach der das Spezifikum des christlichen Verständnisses von Religion und Ethos darin besteht, daß die ethischen Inhalte "von religiösen Voraussetzungen frei..." (123) sind. "I. Hirschs Theorieprogramm: Ethik und Geschichtslehre" (126-163) verdankt sich erneut einer Synthese, die der methodischen Forderung Troeltschs folgt, nach der die Ethik einen gesinnungsethischen und kulturtheoretischen Denkansatz zu verknüpfen habe. Zunächst arbeitet der Vf. die subjektive Seite heraus. Gegen die idealistische Idee eines formalen Sittengesetzes bietet H. "eine alternative Theorie der ethischen Normengewinnung" (147) auf. Seine Konzeption vom "Gesetz des Lebens" führt der ethischen Theorie sowohl den Aspekt des Sollens, der an die humane Intersubjektivitätsbezogenheit angeschlossen wird, als auch die situationsgebundenen Inhalte zu. Die kategoriale Ausgestaltung dieser Synthese erfolgt mittels der Unterscheidung von unendlichem und endlichem Ethos.

Jeder ethische Sachverhalt kann in diesen beiden Hinsichten reflektiert werden. Für sich ist er somit zweideutig. Einheit und Eindeutigkeit können nur durch den Vollzug einer Gewissensentscheidung realisiert werden. Die "Kategorie der Entscheidung verweist auf den Sachverhalt, daß die Auslegung des unendlichen Ethos sich in letzter Hinsicht nicht der rationalen Selbsttätigkeit des Subjekts verdankt, sondern einem vorrationalen Er-schlossenheitserlebnis... Da die Entscheidung... auf diesem Evidenzerlebnis aufruht und nicht rational-reflexiver Selbsttätigkeit entspringt, stellt sie sich über sie..." (155). Damit verbindet sich ein gravierendes Theoriedefizit. Der Vf. stellt heraus, daß H.s an Fichte angelehntes Bestreben, rationale Mo-mente vom Gewissensbegriff fern zu halten, zu einem gefährlichen "Dezisionismus" (ebd.) führt. Bar jeden rationalen Kriteriums trägt allein das Gewissen die ",Last' der Entscheidung" (156). Dadurch stellt sich trotz der Inhaltlichkeit "ein formal-instanzlicher Formalismus" (ebd.) ein, der die Normenbegründung von inhaltlichen Fragen abkoppelt und alles "auf die Hoheit der für sakrosankt erklärten Entscheidungsinstanz" (ebd.) zuspitzt.

Die "II. Geschichtslehre als Theorie der invarianten Formen des konkretes Ethos" (164-230) entfaltet die objektive Ethik (164-201). Der Vf. zeigt, wie H. im Anschluß an Droysen das kulturtheoretische Zweierschema Schleiermachers weiterentwickelt. Den "Ordnungsmächten" (Arbeit und Staat) und "Geistesmächten" (Kunst/Wissenschaft und Religion) werden die "Lebensmächte" (Geburt/Tod, Volk, Ehe und Familie) vorgeschaltet. H. bringt ein lebensphilosophisches Element zur Geltung, wenn er betont, "daß die vitalen Grundlagen des menschlichen Lebens einen ethischen Sinn und Gehalt in sich tragen" (173). Die schöpfungstheologische Durchführung der ethischen Güterlehre liegt als Heiligkeitstheorie vor, die in kritischer Auseinandersetzung mit P. Althaus und A. Schweitzer entwickelt wird. Der Vf. stellt heraus, "daß Hirschs Theorie der Heiligkeit der Lebensmächte... der ethische Ausdruck der schöpfungstheologischen Einsicht in die religiös sanktionierte Unverletzbarkeit des menschlichen Lebens" (184) ist.

"Da die Schöpfungstheologie von Hirsch ausschließlich auf das menschliche Leben bezogen wird, ist sie zugleich die Theorie der religiösen Sanktionierung von menschlicher Intersubjektivität" (ebd.). In der Anwendung verengt H. diesen Gedanken auf das Volk. Es avanciert "zum wichtigsten Repräsentanten von Intersubjektivität" (186). Da H. in vielen Wendungen die epistemische Kautele der Gewissensbestimmtheit dieses religiösen Gedankens unterdrückt, stellt sich eine theoretisch nicht begründete ideologielastige Vereinseitigung des Volksgedankens ein.

Die Prävalenz der Volksidee zeigt der Vf. an der Unterordnung von Staat und Recht auf. H. steht in der Tradition der auf Savigny zurückgehenden Hi-storischen Rechtsschule, biegt aber deren romantisch aufgefaßten Begriff des Volksgeistes zugunsten der NS-Rechtsbeugung um. Hier öffnet sich der sy-stematische Übergang zur Politischen Theologie. Das Volk wird zum Souve-rän des Staates, der sich Verfassung und Recht funktional unterstellt. Das im-pliziert eine scharfe Ablehnung der Demokratie. Seit 1931 wird der Volksgedanke mit den Vorstellungen von Rasse und Blut aufgeladen. "Hirschs Denken tritt in den Schatten einer menschenverachtenden Weltanschauung" (193). Intellektuelle Vorbehalte, die H. gelegentlich anbringt, bleiben marginal. Hinzu kommt der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik (202-231).

Eindrücklich schildert der Vf. H. als einen scharfsinnigen Analytiker der Aporien der Moderne. In enger Berührung mit Max Webers Diagnose hebt H. als wichtigstes Charakteristikum der Gegenwart die v. a. durch das kapitalistische Wirtschaften bewirkte Rationalisierung aller Bereiche der modernen Kultur hervor, die wegen der damit verbundenen depersonalisierenden Wirkungen der Kritik verfällt. Vor dem Hintergrund von ethischer Prinzipienlehre und Zeitdiagnose erscheint H.s Deutung des Nationalsozialismus weniger als emotionale denn als intellektuelle Zustimmung. Sie betrifft v.a. das Ziel, "die dekadente moderne Kultur zu überwinden" (219) und die vitalen und die Persönlichkeit ermöglichenden ursprünglichen Lebensgrundlagen freizulegen. H. nimmt die "Paradoxie" (220) in Kauf, daß dies im Dritten Reich mit den Mitteln gesteigerten zweckrationalen Denkens und in rassisch verengter Weise erfolgt. Mit dieser Verknüpfung von Archaisierung und Rationalisierung antizipiert er, wie der Vf. zeigt, die gegenwärtig in der Historie vertretene Einschätzung des Nationalsozialismus. Der Vf. betont, daß die Bewertung von Ziel und Mitteln des Nationalsozialismus ein "vollständiges Versagen der politischen Urteilskraft" (228f) darstellt, das im Gegensatz steht zu der durchaus hellsichtigen Deutung sowohl der Zeitlage als auch des Nationalsozialismus selbst.

Abschließend erörtert der Vf. "III. Grundprobleme der kontingenten Existenz ethischer Subjektivität" (231-277). Im Re-kurs auf die These W. Wielands von der Aporie der praktischen Vernunft profiliert der Vf. H.s Analyse der Grenzen der ethischen Kompetenz, die an der Voraussetzungshaftigkeit, der Fallibilität und der Unkenntlichkeit des Handelns sichbar wird. Sie legt die antinomische Struktur des ethischen Bewußtseins frei, die den grundsätzlich aporetischen Charakter der ethischen Subjektivität ausmacht, der als Schuldbewußtsein reflektiert wird und nach religiöser Bewältigung drängt. Das Evangelium knüpft an diesen Sachverhalt an. Zunächst ermöglicht es eine "forcierte... ethische Selbsterkenntnis" (273). Sodann verbindet sich mit ihm eine spezifische Sinngebung. "Sie stiftet den Ge-danken der göttlichen Liebe" (276), der die beiden Seiten der Antinomie integriert, ohne sie aufzulösen. "H. sieht im christlichen Glauben... die Reflexionsgestalt des... Ethischen in seiner prinzipiellsten Form" (ebd.). Die Theorie der Aporetik der ethischen Subjektivität deutet auch H.s Leben und Werk. Durch sein "Scheitern in der ethischen Aufgabe, die eigene politische Wirklichkeit zu begreifen und ihr entsprechend handelnd zu begegnen" (280), wird der "Theoretiker der ethischen Aporie zur Figur ihrer deutlichsten Veranschaulichung" (281).

Am Beispiel H.s erfüllt der Vf. überzeugend ein dringendes Desiderat der Theologiegeschichtsschreibung. Zwar entfaltet er die Politische Theologie H.s nicht im einzelnen, legt aber mit der ethischen Prinzipienlehre das Niveau frei, von dem aus ihr gefährliches Potential erst einsichtig wird. Die Politische Theologie entpuppt sich als ein "Knäuel verschiedenartiger Argumentationen" (201), dessen Fäden der Vf. luzide entwirrt. Er weist auf, daß jede der schöpfungstheologischen, ideenpolitischen, rechtsphilosophischen, fundamentalethischen und zeitdiagnostischen Theorieansätze zweisinnig sind. Sie enthalten jeweils einerseits ein hohes theoriegeschichtliches Problembewußtsein, andererseits die Sollbruchstellen. Die Dämme brechen, als der Intellektuelle seine Ideen im Nationalsozialismus wirklich werden sieht. Wie in den "Fällen" von M. Heidegger und C. Schmitt zeigt sich, daß eine nur moralische Verwerfung der Nazi-Intellektuellen nicht genügt. Um ihre Verirrungen beurteilen zu können, muß man ihr Denken rekonstruieren. Der Vf. zeigt eindrucksvoll, daß sein methodischer Ansatz keineswegs zu einer Verharmlosung der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte führt, sondern zu einem differenzierten Verstehen und Beurteilen einer ihrer Protagonisten.