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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

879–882

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Enno

Titel/Untertitel:

Theologie – diesseits des Dogmas. Studien zur Systematischen Theologie, Religionsphilosophie und Ethik.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. IX, 232 S. 8o. Kart. DM 68,-. ISBN 3-16-146244-0.

Rezensent:

Christofer Frey

Hieße der Titel des Buches "Theologie - jenseits des Dogmas", so wäre deutlich, daß der Vf. von einer philosophischen Vergangenheit, die möglicherweise in der Dogmatik der Kirchen verfremdet wurde, her blickte, um eine neue Periode aufgeklärter Theologie anzusagen. Manche Aspekte der 15 in diesem Sammelband abgedruckten Arbeiten deuten darauf hin, daß sich der Vf. Schleiermachers Theologie anschließen möchte. Dann richtete sich der Blick vom "Diesseits" in die Geschichte zurück. Um historische Studien handelt es sich in der Mehrzahl. Sie wollen die nicht seltene Koinzidenz von Anliegen der Philosophie - gerade der antiken - und der christlichen Theologie aufzeigen. R. kann zum Beispiel konstatieren, daß sowohl Heidegger als auch Augustin im Nachdenken über die endliche Zeit menschlichen Lebens die rhetorische Frage des Paulus aufnähmen, wo der Stachel des Todes sei (62).

Der Sammelband enthält Überlegungen der philosophischen Theologie. Der Vf., evangelischer Theologe ebenso wie Philosoph, vermutet in der reformatorischen Theologie eine übergroße Zurückhaltung gegenüber dem Dialog mit der Philosophie, ja, eine Neigung, sich zu isolieren (12). Offenbar hält er die Ablehnung des Aristoteles durch Luther für eine Ablehnung aller Philosophie, aber er hat dabei den Einfluß der topisch-rhetorischen Tradition auf den Reformator verkannt.

Sucht der Leser das gemeinsame Anliegen der hier versammelten, weit streuenden Studien, so wird er es in dem Vorsatz finden, nicht zeitlose Transzendentalien von der Geschichte zu unterscheiden. Deshalb will R. hermeneutische Prozesse herausstellen, in denen die fundamentalen Strukturen des Seins sich in immer neuer Weise geschichtlich und damit auch sprachlich artikulieren. Besonders regt ihn die Philosophie Ernst Cassirers dazu an (1 ff., 213 ff.). Eine ganze Anzahl klassisch-metaphysischer Themen wird im Blick auf dieses Anliegen erarbeitet.

Da ist zunächst das Thema der Zeit, was bei einem Schüler Pichts nicht verwundert und ihn mit der ambivalenten Heidegger-Tradition verbindet. Verwunderlich ist nur, daß der Name Pichts an keiner Stelle fällt. R. hält die beiden bei McTaggart sorgfältig unterschiedenen Zeitschemata zusammen: Das aristotelische Früher und Später (37 ff.), dessen Idealmaß der Gott festsetzt, sowie das augustinische Moment einer Gegenwart, die die Modi der Zeit zusammenhalten soll (50 ff.). Ob diese nun ein Moment der fließenden Zeit bleibt oder ein Aufleuchten der Ewigkeit in der Zeit darstellt, bleibt offen. Wenn das Werden seinen Ursprung in der Zeit nimmt, dann muß der Schöpfer aller Dinge auch der Erschaffer der Zeit sein, während die griechischen Denker mit der Ewigkeit der Welt und der Zeit versöhnt waren (37 ff., 55). Gegen R. ist einzuwenden, daß selbst Augustin in seinen "Confessiones" die einigende Wirkung der Gegenwart nicht definitiv feststellen konnte, ohne sich auf die Barmherzigkeit Gottes zu verlassen (Buch XI, 29, 39). So stößt die philosophische Theologie an eine Grenze! Deshalb wäre die Frage nach dem Eschaton (vgl. 16 ff.) noch einmal verschärft zu stellen: Was könnte es heute und in einer Philosophie der Zeit bedeuten, wenn es die Krise der Zeit, ihrer Einheit und ihrer Kontinuität artikuliert? Die Alternative von Zeitende (1Kor 15,51 f.) oder Endzeit (von Rad, Moltmann) (23 ff.) bleibt dem Gedanken einer abbrechenden Linie zu nahe. Darum sind R.s Erwägungen zur Bedeutung des Augenblicks (und seiner Verbindung zur Ewigkeit) und zur Zeitlichkeit (sowohl bei Kierkegaard als auch bei Heidegger) wichtig (211). Aber bietet die Verbindung von Ewigkeit und Endlichkeit von sich aus eine Deutung des Christusereignisses außerhalb der Dogmatik an?

Die Endlichkeit in Bleiben und Vergehen bietet auch eine Grundlage, um das Thema der Individualität zu bearbeiten. Bei allen Versuchen des Vf.s, die philosophische Theologie des Aristoteles noch einmal neu zu entfalten, muß er doch feststellen, daß Individualität bei Aristoteles undefinierbar sei (67). Erst Erörterungen der Renaissance Cusanus (65 ff.) oder Pomponazzi (217 ff.) weisen in die Richtung einer auch philosophisch festzuhaltenden endlichen Individualität, die gleichwohl nicht frei von Bezügen zur Ewigkeit ist. Sie muß in einer erfüllten Zeit zur Darstellung kommen. Schleiermacher gilt dem Vf. als der Apologet des Individuums, weil er seine Hermeneutik darin gründe, daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstelle (72). Deshalb achtet R. sorgfältig auf Diskurse neuzeitlicher Philosophie, die individuelle Autonomie nicht im Gemeinwillen untergehen lassen wollen (was er selbst Rousseau zugesteht - 109 ff.). Kants Ansatz hingegen laufe Gefahr, das Selbst der Selbstgesetzgebung in Abstraktionen verlorengehen zu lassen (113 ff.). Deshalb ist ihm Schleiermachers Verbindung von Geschichte und Sprache, von Wille und Natur so wichtig (117 ff., 182 ff.). Schleiermacher verlasse sich zu Recht auf Platon, wenn er den Dualismus von Physis und Nomos bekämpfe (185 ff.).

Die Themen der Zeit und - pointiert - der Eschatologie prägen auch R.s Wege zur Ethik. Sehr differenziert erwägt er die Goldene Regel (80 ff.). Er will sie kontextgebunden interpretieren und möchte sie in der Bergpredigt des Matthäus (Mt 7,12) von der Trivialität spätantiker Popularphilosophie befreit sehen. Sie sei eine Dequalifikatonsformel (88 f.) und drücke kein Gleichgewicht zwischen Handelnden und Betroffenen aus, sondern einen christologisch qualifizierten Überschuß, der aus der Absolutheit des göttlichen Willens stamme (94). Somit richte sich die Goldene Regel in der Bergpredigt - neben dem Gebot der Feindesliebe - ausschließlich auf die durch das Liebesgebot charakterisierte Gerechtigkeitsforderung (96). Eine Rezeption im Sinne der alten Naturrechtstraditionen komme deshalb nicht in Frage - die seit Platon gesuchte Vereinigung von Physis und Nomos in der Ethik müsse auch die Formalität des Naturrechts zugunsten materialer Prozesse ethischen Denkens durchbrechen. Obwohl er sich einem Dualismus versagen möchte - und sei der auch nur transzendentalphilosophisch -, nähert sich R. immer wieder Kant an. Er preist dessen aufgeklärte Christologie (146), aber auch den energischen Willen, die Freiheit zu explizieren (132). Der Preis sei allerdings die Suspension ihrer endgültigen Verwirklichung in der Sinnenwelt. Weil sich die Verwirklichung der Freiheit als schwierig erweise, sei eine Weisheitslehre von ihrem angemessenen Gebrauch notwendig (142). Eine gänzlich neue Ethik (wie sie Hans Jonas fordert) sei jedoch verfrüht.

R.s philosophische Theologie hält sich demgegenüber deutlicher an klassische Vorbilder, auch wenn er in deren Rezeption ein Eklektiker bleibt und sich oft nur auf wenige - aber hochinteressante! - Stellen klassischer Philosophie einläßt. Angesichts einer Redogmatisierung gegenwärtiger Theologie (115) sucht R. die Stärken klassischer philosophischer Theologie schon bei Aristoteles (145) und vielleicht auch im Monotheismus, der einst von Peterson der politischen Monokratie verdächtigt worden ist; auch in ihm sei die Differenz Gottes möglich (169 f.). Wenn der Leser erst verstanden hat, daß Abstraktion und konkrete Geschichte, Transzendentalien und lebendige Individualität nicht mehr Alternativen bilden dürfen, ist die Verteidigung eines transzendentalen Deismus bei Kant (171) oder des "neue(n) Ideal(s) der Gläubigkeit" (Cassirer) in der Aufklärung (172) nicht ganz konsequent. Soll die Vernunft in eine religiös begründete Mündigkeit eintreten (176), so muß sie nach R. zugleich ihre Grenzen erkennen. Mehrfach zitiert R. Kants Hinweis, er habe das Wissen aufheben wollen, um zum Glauben Platz zu bekommen (Kritik der reinen Vernunft, AA 3, 19). Der Anspruch der Vernunft auf die Wahrheit des Ganzen, wie er sich auch in der frühen Aufklärung äußerte und dem von R. geschätzten Renaissance-Humanismus nicht fern war, wird in dieser Perspektive wohl zurückgenommen. Wäre es nicht auch eine religiöse Frage, inwieweit der Vernunft überhaupt die Kraft, sich zu begrenzen, zukomme? Dann wäre der Glaube nicht auf die Selbstbegrenzung der Vernunft angewiesen, sondern vielleicht deren Grund. Glauben hieße dann nicht mit Kierkegaard, den Verstand zu verlieren (199), sondern hätte zur Folge, den Verstand als die sich selbst begrenzende Vernunft zu gewinnen. Ob Gott dann noch als Funktion des Subjekts (vgl. 197) gedacht werden kann, würde allerdings fraglich.

Sein energisches Plädoyer, Philosophiefremdheit in der Theologie zu überwinden, könnte den Autor zu weiteren Fragen führen, etwa jener, ob es auch Sinn machen könnte, ebenso wie klassisch-philosophische klassisch-theologische Themen wiederzugewinnen; vielleicht befreiten sie auf andere Weise zu philosophischen Fragen. Das recht verstandene Dogma, diesseits dessen R. denken möchte, hat im 20. Jh. kritische theologische Entwürfe gefördert, die an einem Grunddogma der Schleiermacherschen Individualitätslehre rüttelten, dem Fortschritt einer im Geist Christi gestalteten Geschichte, die sich auf das höchste Gut hinbewegt und dabei fortschreitend Herrschaft über die Natur ergreift. In diesem Sinn wäre Gott die "Krisis" alles dessen, was wir zu erkennen meinen. Jegliche Wiederkehr philosophischer Theologie muß auch diese Krisis berücksichtigen. Sie stellt keine einfache Redogmatisierung dar (vgl. 155). Kritische Anfragen wie diese besagen jedoch nicht, daß die Sammlung brillanter und minutiöser kleiner Studien keine Herausforderung sei - im Gegenteil!