Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1108 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Thorsten

Titel/Untertitel:

"Christen heißen Freie". Luthers Freiheitsaussagen in den Jahren 1515-1519.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XIV, 273 S. gr. 8 = Beiträge zur historischen Theologie, 101. Lw. DM 158,-. ISBN 3-16-146695-0.

Rezensent:

Uwe Rieske-Braun

Diese 1995 von der Ev.-Theol. Fakultät Bochum angenommene Dissertation widmet sich Vorlesungen und Briefen des jungen Luther, damit einem seit Entdeckung der Skripte der Röm-Vorlesung durch Johannes Ficker mannigfach analysierten Textkorpus. Der Vf. sucht die theologische Entwicklung darzustellen, die in der bekannten Doppelthese der Freiheitsschrift von 1520 ihren reflektierten Niederschlag fand: "Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr ueber alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und ydermann unterthan" (WA 7, 21, 1-4). Er versteht seine Arbeit als einen "Beitrag zur theologischen Einschätzung der initia Lutheri," will sich aber nicht "an der festgefahrenen Diskussion um den Zeitpunkt des reformatorischen Durchbruchs beteiligen" (3).

Dies hindert nicht, daß die Arbeit den Prozeß reformatorischen Reifens detailliert analysiert und qualifizierte Stadien des sich entfaltenden Freiheitsverständnisses voneinander abhebt. Sie findet diese vor allem im Spiegel der Luther-Vorlesungen zu den Paulus-Briefen Röm 1515-16, Gal 1516/17 und im GalKommentar 1519. Zudem werden Zeugnisse aus der Zeit des Ablaßstreites 1517-19, vor allem aus den Briefen herangezogen, die die neugewonnene Freiheit des Martinus Luder "Eleutherius" beleuchten.

Diese Auswahl von Quellen verzichtet auf die diesbezügliche Berücksichtigung der Operationes in Psalmos 1519-21 (AWA 1/2), weil sie in der instruktiven Studie von W. Maurer von 1949 bereits erfolgt ist (3). Sie zieht aber ebensowenig die Hebr-Vorlesung 1517/18 heran wie die Luther-Sermone der Jahre 1514-17, die Decem Praecepta praedicata populo 1516/18 und andere, bislang weniger beachtete Texte, an denen sich die Entwicklung des Freiheits-Verständnisses zumindest verifizieren ließe. Der Vf. spart zudem die Heidelberger Disputation von 1518 und ihren engeren historisch-theologischen Kontext aus, damit thematisch die Koinzidenz von opus proprium und opus alienum Dei, und grenzt die frühe Behandlung des servum arbitrium gegen die ihn interessierende Thematik ab: Es bleiben jene Texte unberücksichtigt, "in denen Luther ausdrücklich einen freien Willen des Sünders für die rechtfertigende Gottesbeziehung verwirft". Denn: "Das Wesen der christlichen Freiheit läßt sich auch ohne sie darstellen" (6). Eine gewiß diskutable These. Zweifellos erfährt Luthers Dialektik von libertas und servitus in der Behandlung der Willensproblematik doch zumindest eine konturierende Präzisierung. Der Vf. geht immerhin bei der Analyse der Röm-Vorlesung (49 ff.) auf die Rezeption der augustinischen Begriffe voluntas und liberum arbitrium ein und zeigt in hinteren Partien der Arbeit, daß Luthers Polemik im Gal-Kommentar 1519 gegen Hieronymus und Origenes womöglich dem Humanistenfürsten aus Rotterdam galt (231 ff.). Derlei interessante Beobachtungen werden aber ohne die Heranziehung der einschlägigen Texte in ihrem erhellenden Wert kaum ausgeschöpft.

Die Analyse der behandelten Texte erfolgt detailliert und unter instruktiven Vergleichen mit patristischen und mittelalterlichen Autoren. An der Röm-Vorlesung will der Vf. drei differenzierbare Formen des frühen reformatorischen Freiheitsbegriffes finden, zunächst den "demutstheologischen Ansatz" vor allem in Glossen und Scholien zu Röm 1-3. Die oft beobachtete, disponierende Notwendigkeit der humilitas unterscheidet Luther aber bereits 1515 von der Tradition: "Denn der Impuls zur Demut geht beim Wittenberger Bibeltheologen doch entschieden vom Worthandeln Gottes aus, während sowohl Bernhard als auch Tauler die willentlich-demütige Selbstbewegung des Sünders fordern können" (32). Zu Röm 3-5 wird Luthers Freiheitsverständnis vom "gnadentheologischen Ansatz" geprägt, dessen Aufnahme des Willensbegriffes deutlich die Augustin-Rezeption spiegelt, zugleich aber bereits "dasjenige Verhältnis zwischen Freiwilligkeit und Gesetz" zeichnet, "das Luther 1520 im Freiheitstraktat darlegen wird" (40). Einen "Paradigmenwechsel" zum "glaubenstheologischen Ansatz" (zu Röm 6-7) entdeckt der Vf. aber erst in Luthers Auslegung zu Röm 6,14, dessen "Freiheitsvorstellung die Glaubensfreiheit von der sündenvermittelnden Herrschaft des Gesetzes ist" (67). Hier wird der Auffassung "eine gewisse Berechtigung" zugesprochen, "daß in der Römerbriefvorlesung zuerst das reformatorische Freiheitsverständnis hervortritt" (78): Kein Durchbruch also, aber offenbar immerhin ein "Perspektivenwechsel" im Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung (79).

Zwar findet der Vf. auch fortan "Mischformen" der beschriebenen Facetten, etwa in der Auslegung zu Röm 13 und 14, doch der reformatorische Freiheitsbegriff bleibt spürbar in der Entwicklung. Sie schlägt sich in der Gal-Vorlesung von 1516/17 nieder, etwa in der antithetischen Formulierung Luthers zu Gal 2,19 über Christus als die lex legis (126), deren paradox christologischen Gehalt der Vf. hier nicht ganz auslotet, vielleicht, weil er die "traditionelle Sühnetheologie" andernorts als "für Luther nicht typisch" erklärt (217, erneut 245), ohne dies näher zu begründen. - Findet sich die Konkretion der jungen reformatorischen Freiheit in der Unterschrift des Briefes an Johann Lang vom 15.11.15.17: "F. Martinus Eleutherius, imo dulos et captivus nimis" (WA Br 1, 121 f.)? Der Vf. vergleicht mit dem Freiheitstraktat und der Röm-Vorlesung und vermag diese These Bernd Moellers und Karl Stackmanns (1981) nicht zu bestätigen: Es spreche einiges dafür, daß Luther seine pointierte, neugewonnene Freiheit vor allem als eine solche gegenüber der etablierten scholastischen Theologie begriff, sich aber "schon als ,Eleutherius’ verstand, bevor seine 95 Thesen ... in der Öffentlichkeit Furore machten" (143).

Den vorläufigen "Endpunkt" in der Entwicklung bis zur Freiheitsschrift findet die Arbeit im Gal-Kommentar von 1519, vor allem bei der Auslegung zu Gal 5,1: Hier kommt "das Zugleich der Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten und der Freiheit vom Gesetz samt seinen Werken" nunmehr "als Dialektik von servitus und libertas klar zur Sprache" (224). Die bisherigen Sprachformen lassen sich im Lichte dessen als "Stationen auf dem Weg zur ,Freiheit eines Christenmenschen’" (240 ff.) verstehen.

Nicht alle differenzierten terminologischen Distinktionen und theologischen Detailbeobachtungen des Vf.s dürften Gefolgschaft finden, vielleicht sind auch manche pointierten Passagen in den Vorlesungen eher Reflex einer lebendigen, sich klärenden und exegetisch-situativ entfaltenden Theologie als tatsächlicher Niederschlag von "Paradigmenwechseln". Aber diese eingehende Studie zeigt, welch theologische Kraft und Anregung die frühen reformatorischen Texte Luthers entbinden, sofern man interessante Perspektiven findet, in denen sie erneut ihre Bedeutung entfalten. Für das Freiheitsverständnis gilt dies zweifellos.