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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

728–730

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Köber, Berthold W.

Titel/Untertitel:

Sündlosigkeit und Menschsein Jesu. Ihr Verständnis und ihr Zusammenhang mit der Zweinaturenlehre in der protestantischen Theologie der Gegenwart.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 225 S. gr. 8o = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 73. Kart. DM 64,-. ISBN 3-525-56280-2.

Rezensent:

Ulrich Körtner

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen", lautet Th. W. Adornos lapidare Feststellung in seinen "Minima Moralia" (Frankfurt a.M. 1984, 42). Doch genau das behauptet der christliche Glaube im Hinblick auf das Leben und die Person Jesu von Nazareth. Der traditionelle Ausdruck dieser Überzeugung ist die bereits im Neuen Testament anzutreffende Rede von der Sündlosigkeit Jesu. Verstanden als die Behauptung von der Historizität eines richtigen Lebens im falschen gehört die Sündlosigkeit Jesu zum Kernbestand des christlichen Bekenntnisses und keineswegs, wie unlängst I. U. Dalferth (Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 145 f.) unterstellt hat, zu den sekundären und tertiären Lehrbildungen im Gefolge der altkirchlichen Zweinaturenlehre. Dogmatische Behauptungen über Jesus von Nazareth sind freilich eine Sache, ihre systematische Rekonstruktion unter modernen Verstehensbedingungen eine andere. Um so erstaunlicher ist es, daß die Frage der Sündlosigkeit Jesu in der gegenwärtigen systematischen Theologie kaum diskutiert wird, obwohl doch gerade sie uns ins Zentrum der Christologie führt, insofern mit der Sündlosigkeit Jesu entweder seine geschichtliche Realität oder aber die Einzigartigkeit seines Gottesverhältnisses auf dem Spiel steht.

Beachtung verdient daher die vorliegende Studie des siebenbürgischen Systematikers Berthold W. Köber, die bereits 1982 am Vereinigten Protestantisch-Theologischen Institut Klausenburg-Hermannstadt als Promotions- bzw. Habilitationsschrift angenommen, wegen widriger Zeitläufe aber erst jetzt im Druck erscheinen konnte. Köbers Arbeit ist allerdings keine das Thema in all seinen Aspekten erörternde Monographie, sondern eine kritische Untersuchung der christologischen Entwürfe K. Barths, P. Tillichs, W. Pannenbergs, H. Berkhofs, und G. Ebelings, welche nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Verständnis der Sündlosigkeit Christi und der Zweinaturenlehre in den lutherischen Bekenntnisschriften verglichen werden. Jedoch beläßt es Köber nicht bei einer kritischen Durchsicht der genannten Konzeptionen, sondern legt im Schlußteil seiner Arbeit einen eigenen Entwurf eines neuen Verständnisses der Sündlosigkeit Jesu vor.

In allen Teilen seiner Untersuchung gilt Köbers besondere Aufmerksamkeit "den spezifischen Fragen, die sich aus dem Zusammenhang der Sündlosigkeit Jesu Christi mit der Zweinaturenlehre ergeben" (15). Er folgt dabei der neueren christologischen Entwicklung, den substanzontologischen Interpretationsrahmen der traditionellen Zweinaturenlehre durch ein relationales Denkschema zu ersetzen. Die untersuchten christologischen Entwürfe repräsentieren nach Köber fünf verschiedene Typen des Verständnisses der Sündlosigkeit Jesu. Köber unterscheidet das personale (Pannenberg), das funktionale (Ebeling), das ontische (Tillich), das relationale (Berkhof) sowie das dialektische Verständnis (Barth) (98 ff.). Die herangezogenen Entwürfe werden sodann nach dem jeweiligen Ansatz, Seinsgrund, Erkenntnisgrund sowie der Bedeutung der Sündlosigkeit Jesu befragt. Was den Ansatz der Lehre von der Sündlosigkeit Jesu betrifft, so unterscheidet Köber zwischen einem solchen bei der Inkarnation (luth. Bekenntnisschriften, Barth, Ebeling), der zu einem anhypostatischen Verständnis der Sündlosigkeit Jesu führt, einem Ansatz bei der konkreten menschlichen Situation (Tillich) sowie demjenigen beim irdischen Dasein Jesu Christi (Pannenberg, Berghof) (144 ff.). Nach Köbers Urteil ist letzterer am ehesten gerechtfertigt (147), wogegen bei den beiden anderen entweder die Wirklichkeit der Erlösung oder aber die volle Wesenseinheit Christi mit den sündigen Menschen gefährdet sei. Inhaltlich muß die Sündlosigkeit nach Köber sowohl relational als auch personal verstanden werden, wogegen ihr rein funktionales Verständnis (Ebeling) weder dem Menschsein Christi noch seiner Sündlosigkeit in vollem Maße gerecht werde (153). Hinsichtlich ihres Seinsgrundes unterscheidet Köber zwischen einem anhypostatischen und einem enhypostatischen Verständnis der Sündlosigkeit (Pannenberg, Berghof) bzw. zwischen ihren Definition als impeccabilitas (non posse peccare) oder als impeccantia (posse non peccare) (155 ff.). Letzteres ist insoweit eher gerechtfertigt, weil es im Unterschied zum anhypostatischen gestattet, den Menschen Jesus als Subjekt der Sündlosigkeit ernstzunehmen und seiner Auferweckung nicht nur noetische, sondern ontische Bedeutung zuzubilligen (162). Dementsprechend ist die Auferstehung Jesu der Erkenntnisgrund seiner Sündlosigkeit (164). Die Bedeutung der Sündlosigkeit Jesu aber wird, vor allem im Gegensatz zu Ebeling, nicht als Inhalt, sondern als Bedingung des Heilswerkes Christi bestimmt (167).

In seinem eigenen Entwurf interpretiert Köber die Sündlosigkeit Jesu als dessen Gerechtigkeit. Was darunter zu verstehen ist, wird thesenartig entfaltet. Theologisch unaufgebbar ist die Rede von der Sündlosigkeit Jesu, weil sie im neutestamentlichen Zeugnis fest verankert ist (173). Erkenntnisgrund der Sündlosigkeit Jesu ist "sein im Lichte der Auferweckung verstandener Daseinsvollzug" (184). Inhaltlich ist sie als "die in seinem Verhältnis zu Gott, zu den Menschen wie zur Schöpfung als Gehorsam und Liebe gelebte, durch seine Auferweckung als solche erwiesene Gerechtigkeit" zu bestimmten (190), wobei Köber im Unterschied zu bisherigen Entwürfen neben Christi Verhältnis zu Gott und zu den Menschen sein Verhältnis "zur Natur als Gottes Schöpfung" zum Thema macht (191 ff.). Gemeint ist damit das unmittelbare, ungebrochene Verhältnis Jesu zur Natur als Schöpfung Gottes, wie es in der Bildersprache seiner Gleichnisse, aber auch in den von ihm in den Evangelien geschilderten Exorzismen und Krankenheilungen sowie durch seine Stellung zum Sabbat implizit zum Ausdruck komme. Entsprechend der neutestamentlichen Rede von der Schöpfungsmittlerschaft Christi hat nach Köber auch das Bekenntnis zur Sündlosigkeit Jesu eine kosmologische Dimension (197). Gleiches gilt für ihre inhaltliche Be-stimmung als Gerechtigkeit, insofern bereits der alttestamentliche Begriff der sedaqah nicht nur das Verhältnis des Menschen zu Gott sowie der Menschen untereinander, sondern auch das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und zu seiner naturhaften Umwelt qualifiziert (199). Der Seinsgrund der Sündlosigkeit Jesu aber ist nach Köber seine Auferweckung (204). Dies besagt: "Nicht weil Jesus Gottes Sohn ist, ist er sündlos (an- bzw. enhypostatisches Verständnis), sondern: weil er sündlos ist, ist er Gottes Sohn" (206). Die Bedeutung der Sündlosigkeit Jesu aber liegt schließlich darin, "die Bedingung der Heilsbedeutung seines Kreuzestodes" in dem Sinne zu sein, "daß wir um ihretwillen die Versöhnung mit Gott und Anteil an dieser seiner Gerechtigkeit erlangen, die als solche die Erfüllung der göttlichen Bestimmung zum wahren Menschsein und zur Gemeinschaft mit Gott ist" (211).

Daß Köber die Frage der Sündlosigkeit Jesu in ihrem Zusammenhang mit der vormodernen Zweinaturenlehre diskutiert, macht gleichermaßen die Stärke wie die Grenze seiner Arbeit aus. Gerade seine These, wonach Jesus nicht sündlos, weil Gottes Sohn, sondern umgekehrt Gottes Sohn, weil sündlos ist, führt ihn, wie er selbst notiert, in einen Gegensatz sowohl zur traditionellen Lehre von der Anhypostasie als auch zu derjenigen von der Enhypostasie. Die Subjekthaftigkeit des Menschen Jesus und damit seine Personalität im Sinne des neuzeitlichen Personbegriffs lassen sich eben im Rahmen einer wie auch immer modifzierten Zweinaturenlehre und ihres Personbegriffes nicht konsistent denken. Daraus folgt freilich nicht, wie Köber mit Recht gegen Th. Lorenzmeier einwendet (13 f.), daß die Lehre von der Sündlosigkeit Jesu an sich, wohl aber ihre Formulierung in der Sprache der altkirchlichen Zweinaturenlehre preiszugeben ist. Insofern trägt die Rekapitulation der Christologie der lutherischen Bekenntnisschriften zur heutigen Reformulierung der Lehre von der Sündlosigkeit Jesu nichts bei, weil ihre Begrifflichkeit zwar zur Geschichte des Problems gehört, aber nicht die gedanklichen Mittel zu seiner Lösung an die Hand gibt. Gerade das neutestamentliche Bekenntnis zur Sündlosigkeit Jesu nötigt zur Kritik der herkömmlichen Zweinaturenlehre und ihrer längst "problematischen realistischen Semantik" (I. U. Dalfert, a.a.O., 146). Mag auch das theologische Sachanliegen der Zweinaturenlehre berechtigt sein, so ist doch ihre Begrifflichkeit längst kein geeignetes Mittel mehr, dieses Anliegen zu wahren. Sie wird durch das Schema einer relationalen Ontologie nicht etwa modifiziert, sondern gesprengt.

Was aber das Thema der Sündlosigkeit Jesu betrifft, so wären vor allen systematischen Rekonstruktionsversuchen elementare exegetische Fragen zu stellen. Was soll es z.B. heißen, wenn Paulus in IIKor 5,21 schreibt, Gott habe "den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht"? Bezieht sich eine solche Aussage nur auf den Kreuzestod Jesu, oder ist sie analog zu Phil 2,7 möglicherweise im Rahmen einer Präexistenzchristologie und ihres Schemas von Erniedrigung und Erhöhung des ewigen Logos zu verstehen, so daß also bereits die Inkarnation als das Zur-Sünde-gemacht-Werden Christi zu bestimmen wäre? Ist nicht auch Röm 8,3 in dieser Richtung zu verstehen, wo Paulus mit "Homoioma" nicht die Ähnlichkeit, sondern die Gleichheit Jesu mit dem sündigen Fleisch der übrigen Menschen bezeichnet? Wie dem auch sei, folgt nicht zumindest aus einem relationalen Verständnis der Sündlosigkeit Jesu, daß Jesus - um seiner Willenseinheit mit Gott willen bzw. durch Gottes Liebe - in die Gemeinschaft menschlicher Schuld hineingerät und somit selbst - schuldig wird? Ist ein relationales Verständnis der Sündlosigkeit Jesu folglich ebenso aporetisch wie ihre Interpretation im Rahmen der substanzontologischen Zweinaturenlehre, so daß Adorno mit seiner Annahme recht behielte, es gebe kein richtiges Leben im falschen? Oder inwiefern geraten unter dem Vorzeichen der im Neuen Testament verkündigten Auferweckung Jesu die Maßstäbe falschen und richtigen Lebens ins Wanken? All dies sind Fragen, die Köbers Buch nicht beantwortet, jedoch anregt zu stellen. Dafür ist ihm zu danken.