Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/1997

Spalte:

845–847

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Huizing, Klaas

Titel/Untertitel:

Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. XI, 243 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 75. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-014969-9.

Rezensent:

Jörg Frey

Die Münchener Habilitations-Schrift von H. will die protestantische Schriftlehre aus der Perspektive des Bibellesers neu be-schreiben, sie bietet Prolegomena einer - von H. "Physiognomik" genannten - Lesetheologie: Dabei geht es um die Frage, wie Leserinnen und Leser durch das in der Schrift, vor allem den Evangelien, vorliegende Porträt Jesu affektiv so betroffen werden, daß sie zur (Wieder-)Erkenntnis ihrer Kreatürlichkeit gelangen und zur Nachbildung des in literarischer Form urbildlich vorgeführten Lebens inspiriert werden. Exemplarisch durchgeführt wird dieser Ansatz leserorientierter Bibelhermeneutik in einer parallel erschienenen kleinen Monographie des Vf.s mit Interpretationen lukanischer Szenen (K. Huizing, Lu-kas malt Jesus. Ein literarisches Porträt, Düsseldorf 1996). Im vorliegenden Werk entwirft H. das dogmatische Pendant zur leserorientierten Bibelhermeneutik: eine Skriptologie, die nicht bei der ,Verursacherperspektive' der Inspirationslehre ansetzt, sondern bei dem von der Schrift affizierten Leser.

Herausgefordert zu einem solchem Neuansatz sieht sich H. durch die neuere philosophische Schrifttheorie in den Werken von J. Derrida, E. Levinas und P. Ricoeur, wo in subjektivitätskritischer Wendung die Formungskraft materialer Schrift wiederentdeckt und der Mensch als "homo legens" bestimmt wird. Diese Ansätze versucht H. mit der reformatorisch-theologischen Lehre von den Affekten der Schrift zu verbinden, mit der bei Luther die konkret-leibliche Beziehung zwischen dem gelesenen bzw. gepredigten Wort und seinen Lesern bzw. Hörern sehr viel deutlicher wahrgenommen wurde als im Kontext der späteren orthodoxen Lehre von der Schriftinspiration. Letztere bildet H. zufolge eine - erst durch die gegenreformatorische Polemik veranlaßte - Verfallsform der alten Affektenlehre, die dazu führte, daß die Wirksamkeit der Schrift nur noch aus der Voraussetzung ihrer göttlichen Autorität oder dann in Pietismus und Aufklärung aus der Voraussetzung der frommen Subjektivität verstanden werden konnte. Die Theologie des 20. Jh.s hat dann auf verschiedene Weise eine Rückbindung der subjektiven Glaubensevidenz an die Objektivität der Schrift versucht, und eben dieses Anliegen nimmt H. auf, wenn er in Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Barth, Pannenberg und Ebeling und in Anknüpfung an die philosophische Schriftlehre von Levinas und Ricur seine Skriptologie entfaltet.

Die These lautet, Lese-Theologie sei "die grammatisch-hermeneutische Besinnung auf die im porträtierten Gesicht der Heiligen Schrift erschlossene christliche Lebenswelt" (109). Ihre Ursituation ist die Lektüre: "Wir sind vom Buche her" (Levinas). Dabei wird dieses Buch, die Bibel, wahrgenommen als eine poetisch verdichtete Welt, als eine Summe von Geschichten, die ihre Leser verstricken, von Szenen, die zum Nachspielen und damit zur Postfiguration der in ihnen verdichteten Ausdrucksgestalt einladen. Die Schrift hat, ja sie ist selbst ein "Gesicht", das porträtierte Gesicht Christi, das seine Leser affiziert und sie im Akt der Lektüre auslegt, ihnen die Wirklichkeit des kreatürlichen Lebens erschließt. So ist auch Verstehen kein bloß intellektueller Akt, es ereignet sich vielmehr in der lebensmäßigen Postfiguration der in der Schrift vorgegebenen Ausdrucksgestalt.

Natürlich weiß H. um die Schwierigkeit, daß der Text der Bibel eine Vielzahl porträtierter Gesichtszüge vereint, die erst in ihrer Summe und Interferenz das leiblich affizierende "Gesicht der Schrift" hervorbringen. Aus Eph 1,10 entlehnt er den Gedanken, daß das Ganze in Christus zusammengefaßt, ja "gesichtshaft versammelt" (97; vgl. 126) sei, um so Schleiermachers Rede von der Affektion durch das Universum schrifttheoretisch durch die Rede von der Affektion durch das porträtierte Bild Christi einzuholen. Gleichwohl bleibt die Frage, wo und wie denn in der Schrift das Gesicht Christi zu finden sei. H. verweist hier auf die ,literarischen Porträts' der Evangelien und in ihnen auf die Gleichnisse Jesu, in denen das urbildliche Leben Jesu zum Ausdruck komme und in denen erkennbar und postfigurierbar werde, wie Menschen auf das reagieren, was sie wirklich angeht. In diesen Gleichnissen, bzw. in den ästhetisch perfekten Gebilden ihrer mutmaßlich ursprünglichsten, von den urgemeindlichen Zusätzen gereinigten Form, sieht H. das Vermächtnis Jesu, das formbildende Apriori und den normativen Ursprung jener Lebensform, die, durch die Schrift vermittelt, den Lesern zum Nachvollzug vorgegeben ist.

Damit ist zugleich der kritische Punkt von H.s Entwurfs erreicht. So sehr er einerseits die Materialität der Schrift, die Konkretion der Lektüre und das Affiziertsein der Leserinnen und Leser von der in der Schrift vorgegebenen Ausdrucksgestalt betont, sucht er doch andererseits das Kriterium in einem fast ätherisch verdünnten Poeten und Gleichniserzähler Jesus, der durch seine radikale Relektüre der Schrift aus allen sprachlichen (und anderen) Bindungen befreit und den Menschen zur Wiedererkenntnis seiner Kreatürlichkeit führt - Jesus, "der erste Phänomenologe" (112) -, der aber mit dem historisch erhebbaren Bild des Wirkens Jesu von Nazareth kaum mehr gemein hat als mit dem aus dem Textganzen der Evangelien zu erlesenden Bild Jesu Christi. Die Schrift in ihrer vorliegenden Gestalt kommt auch hier nur gebrochen zur Wirkung; leitend ist erneut ein Apriori ,hinter' dem Buch. Bereits eine Vielzahl von Evangelientexten - von den Gleichnissen und einigen, von H. besonders hervorgehobenen ,Wiedererkenntnis'-Szenen (Emmaus-Jünger in Lk 24) abgesehen - dürften auf der gewählten Basis nur schwer zur Geltung zu bringen sein, von der ntl. Briefliteratur oder dem Lebensreichtum der atl. Texte (den z. B. Luther so sehr schätzte) ganz zu schweigen. Aufgrund des idealisierten Jesusbildes besteht (trotz H.s gegenteiliger Beteuerung 133 Anm. 77) die Gefahr, daß das ganze AT vornehmlich als Verfallsgeschichte in den Blick kommt und daß auch die Wege urchristlicher Theologie eher als Verunreinigung der urbildlichen Lebensform erscheinen denn als ein im Vollzug der poetischen Verdichtung der Tradition erreichter Sprachgewinn.

Trotz dieser ungelösten Probleme sollte man den Entwurf nicht voreilig zur Seite legen: Mit seiner Skriptologie in Korres-pondenz zur modernen leserorientierten Hermeneutik hat H. ein dringendes Desiderat vorgelegt. Eine solche lektoral gewendete Schrifttheologie will weder auf hypothetischen historischen Fakten noch auf offenbarungstheologischen Setzungen gegründet sein, sondern auf der Wahrnehmung der Ausdrucksgestalt der Texte und der Interaktion mit ihren Lesern. Mit gutem Recht betont H. auch die Leiblichkeit der Schrift und damit die leiblich-konkrete Dimension der Schriftlektüre sowie den Anspruch der biblischen Bilder und Szenen, das Leben ihrer Leserinnen und Leser über die bloß kognitive Ebene hinaus formend einzuwirken. Strittig muß dabei allerdings bleiben, ob die evangelischen Geschichten tatsächlich auf lebensweltliche Nachbildung zielen, ob mithin die "soteriologische Mittlerleistung Christi" (9) durch diese Form der Imitatio Christi hinreichend wahrgenommen ist. Auch H.s einseitige Betonung der Skripturalität mag in Anbetracht des oralen Substrats der Mehrzahl der biblischen Texte (insofern diese aus mündlicher Verkündigung erwachsen und zur mündlichen Verlesung verfaßt sind) wie auch der oralen Dimensionen des praktischen Schriftgebrauchs zum Widerspruch bzw. zur impliziten Korrektur herausfordern. Gleichwohl ist H. zu danken, daß er mit seinem Entwurf einen fruchtbaren und - auch durch seine eigenwillig-evokative Sprachgestalt - durchweg anregenden Beitrag zur hermeneutischen Diskussion geleistet hat.