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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

725–728

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Dogmatik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. XXVIII, 719 S. 8o. Kart. DM 78,-. ISBN 3-11-014895-1.

Rezensent:

Dietz Lange

Der Vf. verzichtet auf umfangreiches dogmengeschichtliches Material und auf ausführliche Diskussionen mit Fachgenossen und schafft auf diese Weise ein übersichtlich aufgebautes, gut lesbares Lehrbuch, das diesen Namen wirklich verdient. Es zeichnet sich aus durch eine nüchterne Rationalität, klare Argumentation und Praxisnähe. Seine besondere Stärke sind die vielen sorgfältigen Begriffsanalysen, die oft auch scheinbar Bekanntes in neuem Licht erscheinen lassen.

Diese Vorzüge spiegeln sich insbesondere im Einleitungsteil, der sich mit der Dogmatik als Wissenschaft befaßt, sowie im ersten Hauptteil "Das Wesen des christlichen Glaubens", dessen Gegenstände Glaube, Offenbarung, Bibel, Bekenntnis und "gegenwärtige Lebenswelt" die Koordinaten des Konzepts sind. Beide Teile, die den üblicherweise als Prolegomena benannten Themenkomplex behandeln, haben zusammen den beachtlichen Umfang von 190 Seiten. Härle bezeichnet es darin als die Aufgabe der Dogmatik, den "christlichen Glauben... auf seinen Wahrheitsgehalt hin" zu überprüfen und insofern der Kirche zu dienen (10.19). Er rekurriert dabei auf den Kritischen Rationalismus, dessen Relativierung der Wissenschaft ihm mit dem eschatologischen Vorbehalt und der "Torheit" göttlicher Weisheit (1Kor 1,18-31) zusammenzutreffen scheint (26 f.). Darin zeigt sich das durchgängige Interesse des Vf.s, die christliche Offenbarung als etwas zwar Übervernünftiges, aber nicht Widervernünftiges zu begreifen.

Dem ist zunächst gegen jede Art von Obskurantismus zuzustimmen. Man kann freilich fragen, ob damit die Unverfügbarkeit (69) und Angefochtenheit (61-63) des Glaubens, die doch wohl auf einer anderen Ebene liegen, wirklich zu ihrem Recht kommen. Gibt es denn wirklich "das untrügliche Erkennungszeichen des Geistes, der der Heilige Geist ist" (367)? Hier sind m. E. Zweifel erlaubt. Das hat natürlich Folgen für die Frage der Normativität der Bibel, von der Härle im Anschluß an Karl Barth behauptet, daß sie durch das testimonium spiritus sancti internum "zum Wort Gottes" werde (115), einschließlich des Alten Testaments, das recht umstandslos der christlichen Auslegungsnorm unterstellt wird (126). Dabei ist durchaus deutlich, daß H. keineswegs einen mehr oder weniger naiven Biblizisimus im Sinn hat, insistiert er doch auf der "kritischen Funktion", die der "Mitte der Schrift" für die Auslegung zukomme (138 f.). Diese Einsicht scheint mir jedoch eher die Konsequenz nahezulegen, das Neue Testament als die erste Sammlung von Zeugnissen über das Wort Gottes aufzufassen, welches selbst allein mit Jesus Christus identifiziert werden kann.

Wohltuend ist dagegen die klare Ablehnung gewisser Tendenzen im ökumenischen Dialog, die interkonfessionellen Differenzen durch Kompromißformeln zu verdecken (142.145). Der gleiche Wirklichkeitssinn verrät sich in der - in Dogmatiken nicht eben häufigen! - Konkretheit, mit der die "gegenwärtige Lebenswelt" beschrieben wird (168-192).

Der 2. Hauptteil, die materiale Dogmatik, gliedert sich in zwei große Stücke, deren erstes das Gottesverständnis (Gottes Sein - Christologie - Pneumatologie - Trinitätslehre) und deren zweiter das Weltverständnis (Schöpfung - Sünde - Versöhnung - Vollendung) behandelt. Diese auf den ersten Blick bestechend klar erscheinende, das trinitarische mit dem heilsgeschichtlichen Prinzip verbindende Aufteilung erweist sich freilich auf den zweiten Blick als problematisch. Der Autor sieht selbst die erkenntnistheoretische Problematik, welche die Erörterung am Leitfaden des ordo essendi mit sich bringt (40); auch mit der geforderten relationalen Ontologie (206) läßt sich dieses Vorgehen nur schwer verbinden. (Lediglich innerhalb der Christologie zieht H. die Konsequenz aus seinem relationalen Ansatz für die Gliederung, indem er die Lehre vom Werk Christi derjenigen von der Person Christi vorordnet.) Er beruft sich für sein Verfahren auf die Kompliziertheit des umgekehrten Weges, der zudem viele Wiederholungen erforderlich mache (41). Diese Argumentation leuchtet mir angesichts der nun vorliegenden Fassung, die m. E. zu weit größeren Schwierigkeiten führt, nicht recht ein. So wird die Theodizeefrage in Teil A kurz angerissen (273 f.) und in B ausführlich behandelt (446-455); das Heilswerk Christi wird unter dem Titel der Versöhnung 314-335, das Heil in Jesus Christus zusammen mit der Erwählungslehre 494-510 besprochen; die Gemeinschaft der Heiligen taucht zuerst im Zusammenhang der Pneumatologie 373-376 und dann noch einmal unter der Bezeichnung Gemeinschaft der Glaubenden in der Ekklesiologie 570f auf, usw. Die sachliche Folge dieses Vorgehens ist, daß die erkenntnistheoretisch geforderte Kontrollfunktion für die in A gemachten Aussagen faktisch auf B verschoben wird, wo sie dann aber nicht mehr wirksam geleistet werden kann, nachdem zuvor der ordo essendi die Freiheit geboten hatte, die traditionelle Dogmatik inclusive Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Christi, inclusive Enhypostasielehre und immanente Trinitätslehre rational zu rekonstruieren. Es gelingt H. dabei, diese alten dogmatischen Lehren in ihrer Intention verständlich zu machen - gewiß kein kleines Verdienst, und zudem etwas, das man von einem Lehrbuch erwarten muß. Dennoch erscheint mir dieses Verfahren auf der Basis eines am Kritischen Rationalismus orientierten Wissenschaftsbegriffs problematisch. Der kritische Satz, den Wolfgang Trillhaas in dem Vorgänger-Werk dieser Dogmatik über die Trinitätslehre geschrieben hat: "Sie sagt mehr, als man wissen kann" (Dogmatik, 4. Aufl. 1980, 113), dürfte demgegenüber - unbeschadet des dieser Lehre zugrundeliegenden Wahrheitsgehalts - gerade unter den Prämissen Härles sein Recht behaupten.

Im Unterschied zu den Problemen des Aufbaus scheint mir der inhaltliche Leitfaden dieser Dogmatik sehr fruchtbar zu sein, nämlich alles zu beziehen auf den Gedanken der Liebe Gottes. So verliert die Lehre von den Eigenschaften Gottes ihre Abstraktion. Der Mensch als imago Dei ist der Liebende (436); verfehlt jedoch als Sünder die Liebe (466) und damit die Bestimmung des Lebens (475) bzw. das Leben selbst. Die Vorstellung vom Sühnopfer Christi wird durch den Gedanken der in Christus sich für die Menschen in den Tod hingebenden Liebe Gottes ersetzt (nach Meinung des Autors: interpretiert; aber er muß selber zugeben, daß der Begriff des Opfers die Sache schlecht trifft, 333). Und die Lehre von der Gegenwart Gottes im Geist, d. h. in der Liebe, (362) bildet die Grundlage der Ekklesiologie (571).

Allerdings ist dieser Gedanke dann doch auch mit Schwierigkeiten behaftet. Das liegt daran, daß H. von der Auffassung ausgeht, Liebe sei - im Unterschied zur "Geist-Struktur" - nicht ambivalent (364). Für die Liebe Gottes selbst wird man das gelten lassen wollen, aber kaum für das, was dem Menschen davon in der Erfahrung zugänglich ist, und folglich auch nicht für die entsprechende theologische Reflexion. Von der als eindeutig verstandenen Liebe hingegen muß der Vf. nun aussagen, daß sie niemanden ausschließe (369.508.522). Deshalb ist nur eine Erwählung zum Heil denkbar, wie er mit der FC gegen Luther betont (507). Daß der Mensch dieser Liebe widerstrebt, erklärt H. - für sich genommen ganz plausibel - damit, daß Gottes Liebe nicht zwingt, sondern dem Menschen die Würde der Selbstbestimmung läßt - aber "letztendlich" sei sie doch unwiderstehlich (509 f.).

Die Folgen dieser Entscheidung zeigen sich vor allem an zwei Stellen: in der Theodizeefrage und in der Eschatologie. Der Vf. betont, daß man die erstere "stets im Blick haben" müsse (274). Aber er sieht sich dann - im geschilderten Kontext ganz konsequent - zu einem Lösungsversuch genötigt, auch wenn ein solcher nicht die Dignität eines Beweises beanspruchen könne (449-451). Vorbereitend heißt es zunächst, die Theodizeefrage richte sich nicht gegen Gott, sondern (nur) gegen den Glauben an ihn, und im übrigen falle wie im Rechtswesen die Beweislast dem Ankläger, nicht dem Angeklagten zu (440.442). Abgesehen von den nicht unproblematischen Prämissen dieser Sätze läuft die Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des malum morale auf die schon von Kant als ihren Zweck verfehlend abgewiesene Auskunft von dessen Zulassung durch Gott, hinsichtlich des malum physicum auf die dadurch zu erreichende Reife des Menschen hinaus (293 f. 448 f). Der Vf. weiß natürlich, daß damit dem Problem der Stachel nicht genommen ist, ja daß die Auseinandersetzung mit diesem "oft ein innerer Kampf auf Leben und Tod" ist (455). Doch wirken solche Sätze im Zusammenhang eher wie Konzessionen als wie der Ausdruck des eigentlichen Problemkerns (wenn anders Tillich mit der Unterscheidung zwischen einer [unechten] allgemeinen und der existentiellen Theodizeefrage [Syst. Theologie Bd. 1, 2.Aufl. 1956, 310] recht hat).

In der Eschatologie folgt aus H.s Ansatz eine große Nähe zur apokatastasis panton, wenngleich er an der Lehre vom doppelten Ausgang als Wahrheitsmoment die Berücksichtigung der Relevanz des Glaubens und des irdischen Lebens festhalten und deshalb - wie bereits Schleiermacher und Barth - die apokatastasis nicht ausdrücklich proklamieren will (610-627).

Vielleicht hängt die beschriebene Problematik auch mit dem ausgesprochenen pädagogischen Interesse des Vf.s zusammen. Ein solches ist nicht nur in Schreibweise und Anlage des Buches, sondern auch inhaltlich an zentraler Stelle, nämlich in der Rechtfertigungslehre wahrzunehmen. Nachdem H. die "aktive Passivität des Sichbestimmenlassens" im Glauben (516 - eine der vielen besonders geglückten Formulierungen) zunächst mit Luther in den Zusammenhang des simul iustus et peccator im Sinne des totus iustus - totus peccator gestellt hat, behauptet er daneben mit W. Joest zugleich ein "Teils-Teils", nämlich ein "Wachstum im Glauben und in der Liebe" (163 f.), obwohl er andererseits den zugehörigen tertius usus legis - völlig zu Recht - mit aller Deutlichkeit ablehnt (528-531). (Die seit Joests Buch "Gesetz und Freiheit" [1956, 65-82] durch die Luther-Literatur geisternde Rede vom "Partialaspekt" des simul sollte einmal zurechtgerückt werden. Es läßt sich nachweisen, daß das partim iustus - partim peccator in den von J. angezogenen Stellen WA 39/I 542,5 f.18 f. 562,11 im Blick auf den Kontext mit "einerseits - andererseits" übersetzt werden muß!)

Ein spezifisch moderner Zug dieser Dogmatik sei zum Schluß noch kurz erwähnt: ihr Bestreben, "frauenfreundlich" zu sein (X). Dies schlägt sich z. B. in der zwar nicht konsequenten, dafür aber um so charmanteren Gegenüberstellung von Jüngerinnen und Jüngern einerseits und Zöllnern und Sündern andererseits nieder (559). Fragwürdiger ist freilich der Einwand gegen den Ausdruck Herrenmahl, er wecke sexistische Assoziationen (558): Welche Leserin sollte denn wohl so töricht sein, den ersten Teil des Wortes als einen Plural zu verstehen?

Schließlich noch eine Randnotiz: S.130 spricht versehentlich von den drei Kardinaltugenden statt von theologischen Tugenden.

Alles in allem: H.s Dogmatik ist ein Buch, das man Studenten zum Einstieg ins Fach wie auch zur Examensvorbereitung ebenso empfehlen kann wie Pfarrern und Religionslehrern zur Vertiefung und Weiterbildung - also genau für die Zwecke, für die der Autor sie geschrieben hat (IX).