Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1105–1108

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hohenberger, Thomas

Titel/Untertitel:

Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XVI, 445 S. 1 Taf. gr.8 = Spätmittelalter und Reformation; NR. 6. Lw. DM 188,-. ISBN 3-16-146600-4.

Rezensent:

Andreas Gößne

Die Studie von Thomas Hohenberger wurde 1993 als theologische Dissertation an der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen.

Der Vf. gibt einleitend (1-11) den Disput in der Forschung über die theologische Rezeption Luthers in der Frühzeit der Reformation wieder. Die Rolle der Flugschriften als dem entscheidenden publizistischen Medium ist dabei weitgehend unumstritten. Doch wird teilweise von einer vielgestaltigen Rezeption der Rechtfertigungslehre unter dem Stichwort "Wildwuchs" (F. Lau; S. C. Karant-Nunn) ausgegangen, der seine Ursache in der nicht zu leistenden breitenwirksamen Vermittelbarkeit lutherischen Rechtfertigungsverständnisses hat und nur durch den gemeinsamen Tenor des Antiklerikalismus zusammengehalten wird. Dagegen wird andererseits die These einer "lutherischen Engführung" (B. Moeller) vertreten, die die Kernaussagen der Rechtfertigungslehre bei einem breiten Rezipientenkreis für nachweisbar hält.

Diese Diskrepanz in der Interpretation des Quellenbefundes kann nur durch eine Neufundierung des Bewertungsansatzes überwunden werden. Der Vf. beschränkt deshalb seine Untersuchung auf die Flugschriftenpublizistik im Zeitraum der entscheidenden Jahre 1521/22 (als "erste sogenannte Sturmjahre"), um so die Basis für "eine authentische Momentaufnahme" (9) zu erhalten, auf der aus theologischer Sicht der Epochenumbruch wahrgenommen werden kann. Auf der Suche nach den Rezeptionsvorgängen wählt der Vf. dabei einen dreifachen Zugang. Er stellt die Frage nach den Trägern, den Inhalten und dem Modus der Rezeption, die er als "ein lebendiges Beziehungsgeflecht theologischen Denkens" (10) versteht.

Als Ausgangspunkt für die weitere Analyse wendet sich der Vf. im II. Kapitel (12-151) der Untersuchung des von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommenen Schrifttums Luthers als "des primären Rezeptionspotentials" (13) zu. Dies geschieht stets unter Bezug zur Rechtfertigungslehre als "Verbundlehre" (14) von Luthers theologischem Anliegen. Dabei geht der Vf. auf 40 gedruckte Schriften ein, die bis Ende 1522 eine überdurchschnittliche Ausgabenanzahl erreicht haben (darunter der Ablaßsermon 1518 mit 26 Ausgaben). In diesen Flugschriften sieht der Vf. die "Massenpublizistik Luthers" (32) repräsentiert. Das Anliegen Luthers in den genannten Schriften läßt sich überwiegend als ein erbaulich-pastorales charakterisieren (vgl. die ausgabenstarken Konsolationssermone; 85 ff.) und war mit der Intention verknüpft, sein Rechtfertigungsanliegen auch dem nicht-akademischen Leser in seiner Alltagsrelevanz zu vermitteln (33 ff.).

Bei der folgenden Interpretation der einzelnen Lutherschriften orientiert sich der Vf. an einer 4-Phasen-Unterteilung der Jahre 1518-1522 für die jeweils bestimmte Schriftengattungen und Bezüge auf Zeitereignisse bei der Vermittlung des Rechtfertigungsanliegens vorherrschend sind.

Die Grenzpfeiler des gesamten Zeitraumes sind einerseits durch den 1518 "in Geschlossenheit vorliegenden systemsprengenden Rechtfertigungsansatz" (43) und andererseits durch einen bis 1522 vorherrschenden Konsens im reformatorischen Lager markiert, der Luther zunächst der Aufgabe zu "Abgrenzungen und Spezifizierungen der Rechtfertigungslehre" (46) enthob. Insofern bilden die Schriften zwischen 1518 und 1522 einen Kanon für die Erfassung einer eigentümlich lutherischen Theologie. Die Grundlage einer breiten Öffentlichkeit für die Rezeption der Rechtfertigungslehre wird mit den beiden Sermonen von doppelter und dreifacher

Gerechtigkeit (auf Ende März 1518 bzw. Ende 1518 datiert) gelegt. Beide Sermone unterschreiten aber die vom Verfasser zum Auswahlkriterium erhobene Mindestausgabenanzahl knapp. Dennoch gelten H. beide Predigtveröffentlichungen "als Erstzeugnis rechtfertigungstheologischer Vernetzungen" (48). Dagegen werden 4 Jahre später die Auswirkungen der Rechtfertigungslehre im Lebensvollzug thematisiert, etwa wenn das in der Rechtfertigung vor Gott gestärkte Gewissen zum Maßstab menschlichen Verhaltens wird. Als Einzelschrift ist hierbei das "Betbüchlein" 1522 hervorzuheben, das unter allen herangezogenen Flugschriften auch in späteren Jahren die höchste Anzahl von Nachdrucken erreicht hat. Zwar änderten sich Umfang und Inhalte teilweise gravierend, doch war und blieb das "Betbüchlein" ein "Brevier poimenisch reflektierter Rechtfertigungstheologie" (135) und nimmt einen ganz charakteristischen Rang innerhalb der zeitgleichen lutherischen Massenpublizistik ein.

Als Ergebnis der Auswertung des als massenwirksam einzustufenden Lutherschrifttums mit rechtfertigungstheologischen Inhalten ist für den Vf. "von einer homogenen Rezeptionsgrundlage für die reformatorisch gesinnten Flugschriftenautoren auszugehen, wobei freilich die Aspektvielfalt variiert" (139f.). Dabei ist u. a. eine durch die Wormser Ereignisse hervorgerufene Bezugnahme auf die kirchliche und pastorale Praxis mit ihren das spätmittelalterliche Kirchenwesen sprengenden Implikationen feststellbar.

Der Vf. verdeutlicht dies anhand des Vergleichs der zwei Schriften "Sermo de duplici iustitia" 1518 und "Sermon vom ungerechten Mammon" 1522, die für die gesamte Untersuchung aufgrund ihrer Stringenz in der Wiedergabe der Rechtfertigungslehre als einer durchstrukturierten und -reflektierten Konzeption von besonderem Interesse sind.

In ihrer inneren Vielfalt ist die Rechtfertigungslehre die Quelle, aus der Luthers Rezipienten schöpfen. Hinsichtlich der Rezeption stellt sich somit für H. die frühe Reformation als "eine Partizipation an der Luther-Rezeption" (151) dar.

Zu Beginn des III. Kapitels (152-373) sucht der Vf. den Typus der ,reformatorischen Flugschrift’ zu bestimmen und ihren Standort innerhalb der reformatorischen Entwicklung bis 1522 zu ermitteln. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Ausbreitung des neuen Gedankengutes und immensem Absatz reformatorischer Drucke grundlegend für das Gesamtphänomen Reformation. Denn "ohne Flugschriften [ist] die Ausbildung einer öffentlichen Meinung, die erst eigentlich zur Reformation führte, überhaupt nicht denkbar" (159). Konstituierende Zielgruppe dieser öffentlichen Meinung waren dem reformatorischen Ansatz entsprechend die Laien.

Der Vf. versucht die Gruppe der ,reformatorischen Flugschriften’ unter Zugundelegung der allgemeinen Flugschriftendefinition von H.-J. Köhler "durch eine dynamisch-theologiegeschichtliche Umschreibung" (167) zu bestimmen, um damit einen den Verhältnissen der frühen Reformationszeit angepaßten Maßstab zur Umgrenzung seiner Quellenbasis zu erhalten. Dabei greift der Vf. zunächst auf die in der Forschung gereifte Typologie der Flugschriftenliteratur zurück, um dann die quantitative Steigerung der Druckproduktion seit 1517 und die darin behandelten populären Themen zu erläutern (161-174). Innerhalb des frühen Reformationsprozesses und für dessen breite Wirkung war seine Einbindung in den für Bildung aufgeschlossenen Raum städtischer Öffentlichkeit wichtig.

Unter diesen Voraussetzungen richtet sich dann der Blick auf "die von Flugschriftenautoren rezipierte Gestalt und den allgemeinen Stellenwert der lutherischen Zentrallehre von der Rechtfertigung" (182 f.), und zwar innerhalb der "einmalige[n] historische[n] Situation" (183) der Jahre 1521/22. Die Quellengrundlage bilden - nach eingehender repräsentativer Erfassung und formaler sowie thematischer Untergliederung von Flugschriftendrucken - 60 Flugschriften mit "religiöser und frömmigkeitsgeschichtlicher Thematik" (187). Bei der Auswertung verfährt der Vf. mehrgleisig, indem er zum einen eine theologiegeschichtliche Einordnung unter paralleler Einbeziehung histo risch-biographischer Umstände und textbezogener Erläuterung und zum anderen eine zweiteilige Analyse des Rezeptionsprozesses (Rezeption Luthers durch die Flugschriftenautoren und Rezeption der Flugschriften durch die Öffentlichkeit) vornimmt.

Einige Flugschriftenautoren machten die Rechtfertigungslehre zum Gegenstand theologischer Reflexion mit dem Ziel publizistisch vermittelbarer Klarheit (199-235).

Zu den hervorragendsten Vertretern dieser Autorengruppe gehört Urbanus Rhegius, der als Verfasser von 7 Flugschriften vom Vf. am häufigsten herangezogen wird. Er verfaßte 1521 pseudonym mit der "Anzaygung" eine Flugschrift, die exemplarisch als Beleg für den positiv kritischen Umgang mit lutherischer Theologie und für das Bemühen um ihr unverfälschtes Verständnis gelten kann (202-208). Aber auch die Form des Dialoges stellt eine der bevorzugten Rezeptionsarten lutherischer Lehre dar, da in ihr eine argumentative Auseinandersetzung mit theologischen Themen gut zu leisten war. Schließlich explizieren einige Flugschriftentraktate das Selbstverständnis der ,neue Lehre’ in ihrer biblischen Rückbindung, um die Ursprünglichkeit des Ansatzes lutherischer Lehre öffentlich plausibel zu machen.

Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wurden durch Luthers Rechtfertigungsanliegen in unterschiedlichem Maß angesprochen (236-285). Mit diesem Umstand korrespondieren auch die in Flugschriften zum Ausdruck gebrachten Zielsetzungen von Autoren aus den einzelnen sozialen Schichten (Adel, ,gemeiner Mann’, Klerus und humanistisch gebildete Laien), sofern die angegebenen sozialen Zuweisungen keine ,gespielten Identitäten’ wiedergeben und damit ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Die Festlegung solcher gesellschaftlicher Grenzen wurde durch den systemsprengenden Charakter der mit dem Rechtfertigungsansatz verknüpften Lehre vom Priestertum aller Gläubigen aus den Angeln gehoben. Dieses Phänomen war somit von erheblicher Relevanz für die vielfältige Rezeption der Rechtfertigungslehre. Gleiches gilt auch für die biographischen Vernetzungen zwischen einzelnen regionalen Zentren früher Lutherrezeption (exemplarisch werden vom Vf. Ulm, Augsburg/Hall i. Tirol und Wittenberg verglichen) (286-325).

Die Auffächerung der thematischen Inhalte, des avisierten Leserkreises und der literarischen Gattungen führte zu "einer differenzierten Rezeption und nuancierten Informationsweitergabe" (326) reformatorischer Theologie.

So erfuhren literarische Dialoge in der frühen Reformationszeit eine ungeheure Blüte, da in ihrer disputatorischen Konzeption "die Rechtfertigung allein aus Glauben zum primären Überzeugungsargument" (337) wird. Daneben nehmen Kanzelreden und ihre schriftliche Fixierung eine zentrale Stellung in H.s Studie ein, da etwa die Hälfte der von ihm herangezogenen Flugschriften der Jahre 1521/22 "literarische Predigtwiedergaben" (337) sind. Neben weiteren typischen Gattungen sind besonders noch Streitschriften zu beachten, in denen der systemsprengende Gehalt der "Rechtfertigung allein aus Glauben als Ursache, Auslöser und Gegenstand der theologischen Kontroverse reflektiert und verlebendigt" (363) wird.

Anhand der ausgewählten reformatorischen Flugschriften werden die vielfältigen Bezugnahmen auf Luthers Rechtfertigungsbotschaft sowohl thematisch als auch formal ablesbar. Als zentrale Rezeptionsgrundlage erweisen sich die als massenpublizistisch eingestuften Lutherschriften, in denen der Reformator das System mittelalterlicher Kirchenlehre sprengte. Im Phänomen des "Systembruchs" (B. Hamm) und zugleich in der Schriftbezogenheit reformatorischer Theologie ist der Grund des Interesses der Rezipienten zu suchen. Hinsichtlich der Uniformität der Rezeption der Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521/22 stellt H. abschließend fest, daß sie "eingebettet und integriert [sind] in einen umfassenden Lehrkonsens, der sich an dem von Luther entfalteten Gefüge rechtfertigungstheologischer Glaubenseinsichten orientiert" (373). In der frühen Reformationszeit konnten sich somit geschichtswirksame "Rezeptionsstränge" herausbilden, die den Epochencharakter der Reformation bestätigen (374-390). - Eine überblicksartige Thesenreihe zu den einzelnen Abschnitten sowie einige Textproben runden die Arbeit ab und bieten eine hilfreiche Stütze zur Vertiefung der Thematik (391 ff., 398 ff.).

H.s Studie bietet eine instruktive Gesamtschau des von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Schrifttums Luthers in den "Krisenjahren" der Reformation. Es wird damit dem Leser anschaulich ermöglicht, den Prozeß fortschreitender sprachlicher und inhaltlicher Ausgestaltung der Rechtfertigungslehre aus Luthers Feder zu studieren. Dabei grenzt der Vf. methodisch geschickt seine Untersuchung auf die Jahre 1521/22 ein, in denen das Flugschriftenangebot in einem bis dahin ungekannten Maß angewachsen war. Auch hinsichtlich der Erläuterung reformatorischer Flugschriften stellt diese Untersuchung eine wahre - wenn auch in der durch die Köhlersche Mikrofiche-Serie begründeten Auswahl nicht erschöpfende - Fundgrube dar.