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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

535–537

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Waardenburg, Jacques [Ed.]

Titel/Untertitel:

Scholarly Approaches to Religion, Interreligious Perceptions and Islam.

Verlag:

Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1995. XIX, 464 S. 8o = Studia Religiosa Helvetica Jahrbuch, 1. DM 95,-. ISBN 3-906752-93-3.

Rezensent:

Christoph Elsas

Der von dem jetzt in Lausanne emeritierten, aber weiterhin sehr aktiven und bekannten niederländischen Religionswissenschaftler und Islamspezialisten hg. Band eröffnet eine neue Reihe: "Studia Religiosa Helvetica". Er ist ansprechend aufgemacht und inhaltlich ausgesprochen interessant. Die im Titel angedeutete Untergliederung überzeugt, und die in ihm vereinigten Aufsätze sind bei aller Unterschiedlichkeit gelungen aufeinander bezogen.

In einer wichtigen Hinsicht allerdings war der Rez. unangenehm überrascht: Der Titel des Bandes ist englisch, der Untertitel der Reihe deutsch "Jahrbuch". Aber englisch sind außer Waardenburgs Introduction (I-IV), Preface (1-3) und Schlußbeitrag (413-451: Islamic Studies and the History of Religions) nur ein zunächst 1992 in Genf bei einer Konferenz zum Islam vorgetragener Beitrag (321-357: Mark Batunsky [Köln], Western influences on the development of cultural selfconsciousness of Muslim thinkers in Russia in the late 19th and early 20th century) sowie Table of Contents (XIII-XV), Index of Persons (453-462) und Index of Gods and Goddesses (463 f.). Der englischen Introduction folgt deren französische Fassung - und französisch sind dann auch 13 Beiträge. Erst an dritter Stelle folgt die deutsche Fassung - und deutsch sind nur drei Beiträge (71-95: Jacques Waardenburg [Lausanne], Die Erforschung lebendiger Weltreligionen als wissenschaftliches Abenteuer; 111-141: Lawrence E. Sullivan [Harvard], Körpererfahrung als Grundfrage der Religionswissenschaft; 143-175: Vittorio Lanternari [Rom], Heilung und Erlösung. Von der religiösen Observanz zur mystischen Gläubigkeit in traditionsbestimmten Gesellschaften).

Deutsch sind diese Beiträge, weil sie erweiterte Texte von 1988 im Kolloquium "Aktuelle Fragen der Religionswissenschaft" der Marie Gretler-Stiftung, Zürich, gehaltenen Vorträgen sind. Der Dank der deutschen Leserschaft der "Studia Religiosa Helvetica" wird der Stiftung gewiß sein - verbunden mit der Hoffnung auf weitere derartige Kolloquien. Deutsch als Wissenschaftssprache hängt eben von entsprechender Förderung auch organisatorischer, einschließlich finanzieller Art ab!

Die anderen Beiträge sind aus der französisch-sprachigen Schweiz. Ein Teil stammt von dortigen Wissenschaftlern (7-45: Christian Jungo, Le torticolis de Janus. Identité et science des religions; 47-69: Mondher Kilani, De l'universel et du particulier en anthropologie de la religion; 97-109: Philippe Borgeaud, Le mythe dans l'histoire. Esquisse romaine; 179-207: Didier Devauchelle, A propos de l'étranger et de ses dieux dans l'univers des ansciencs Egyptiens; 209-223: Youri Volokhine, Quelques remarques sur la déesse égyptienne Hathor et ses rapports avec l'étranger; 225-242: Ester Starobinski-Safran, La problématique résultant de la pluralité des religions chez quelques philosophes juifs modernes; 359-389: Carl-A. Keller, Le soufisme en Europe occidentale). Im übrigen handelt es sich um Texte von Vorträgen zum Islam auf Konferenzen in Lausanne 1990 (261-274: Abdelmajid Charfi, Tunis, Polémiques islamo-chrétiennes à l'époque médiévale), 1991 (293-304: Mikel de Epalza, Alicante, Les symbioses culturelles è Al-Andalus; 305-319: Andrea Borruso, Palermo, Regards sur la civilisation islamique en Sicile au Moyen Age) und 1992 (391-410: Nadine B. Weibel, Straßburg, L'Islam-action au féminin ou une redéfinition de l'identité de genre), in Genf 1991 (277-292: Gotthard Strohmaier, Berlin, Réception, propagation et décadence du rationalisme grec en Islam. Essai d'une recherche des causes) und in Cartigny, 1992 (245-259: Guy Monnot, Paris, Les dieux dans le Coran). Wie für viele in Deutschland und Österreich ist für den Rez. Französisch keine der vorrangig erlernten Sprachen, was aus Bequemlichkeit oder Unvermögen auch entsprechende wissenschaftliche Publikationen - leider! - wenig Beachtung finden läßt. Dieser Tendenz wirken die schweizer Religionswissenschaftler mit diesem Band entgegen, und schon das macht ihn für alle, die sich darauf einlassen, zu einer wichtigen und - ggf. trotz Mühen - spannenden Lektüre: Hier kommen wirklich französische und deutsch/englische Wissenschaftstraditionen zusammen, wie auch im Redaktionskomittee, dem Jacques Waardenburg und Philippe Borgeaud aus Lausanne und Genf sowie Fritz Graf, Axel Michaels und Fritz Stolz aus Basel, Bern und Zürich angehören.

Zu den einzelnen Beiträgen müssen wenige Bemerkungen genügen: Den Teil I "The Study of Religion" eröffnend, stellt Jungo die Frage nach der Identität der Religionswissenschaft in den weltgeschichtlichen Kontext der Beobachtungen zu den Religionen der "Anderen". Der schon damit in den Blick kommende notwendige Methodenpluralismus führt aus Engführungen im Bemühen um Autonomie der Religionswissenschaft und im Neben- und Gegeneinander von systematischen und historischen Ansätzen heraus. Kilani spricht die symbolische Wirksamkeit des Mythos an und die Aufgabe der Religionsanthropologie, ein partikulares Symbolsystem in ein anderes Symbolsystem allgemeinerer Art, in die Wissenschaftssprache, zu übersetzen oder auch die Beziehungen zwischen Volks- und Gelehrtenreligion sowie zwischen "postmoderner" und "Wiederkehr des Religiösen" herauszuarbeiten. Waardenburg (71 ff.) führt seine These, daß die wissenschaftliche Erforschung von Religionen abenteuerlich ist, da sie die Religionen anders sieht als sie sich selbst sehen, wenn man die Absicht thematisiert, welche ein Tatbestand beim Menschen hervorruft, an Überlegungen zur Geschichte von Weltreligionen, ihre Interaktion und ihrer Wahrnehmung aus. Diesen drei "Approaches" folgen drei "Themes of Research": die wechselseitige Implikation von Mythos und Geschichte (Borgeaud für Rom), die symbolische Fabrikation und Metamorphose der Persönlichkeit (Sullivan für Südamerika) und die Kultur als Konstruktion der menscheneigenen Kreativität, sich in Zeichen-Deutung nach Ahnen- oder Propheten-Tradition von der ohnmächtigen Unterwerfung unter leidverursachende Kräfte zu befreien (Lanternari für Schwarzafrika).

Teil II "Interreligious Perceptions" wird von zwei Untersuchungen für Altägypten eröffnet: Offiziell bezieht man von Fremden verehrte Gottheiten nur bei entsprechender staatlicher Integration der von ihnen repräsentierten Welt ein, privat bei Kontakt mit Fremden und in der Magie (Devauchelle). Manche Gottheiten aber haben so viele Bezüge zu Fremden und deren Gottheiten, daß die Richtung von Beeinflussungen kaum festzulegen ist (Volokhine). Für philosophische Möglichkeiten der Deutung des Religionspluralismus steht der Beitrag zum Judentum von Mendelssohn, Buber, Rosenzweig, Cohen und Lévinas (Starobinski-Safran). Abschließend zeigen Untersuchungen zum frühen (Monnot) und klassischen (Charfi) Islam, wie Anknüpfung und Abgrenzung aus der Situation notwendiger Konsolidierung der Religionsgemeinschaft erwächst.

Teil III "Islam and European Cultures" umfaßt je drei Artikel zur mittelalterlichen und zur modernen Zeit: Die Geschichte des griechisch-rationalistischen Erbes im Islam läßt erkennen, daß das Erlahmen intellektuellen Lebens mit seiner Schaffens- und Aufnahmekraft stark von gesellschaftlichen Bedingungen ab-hängt (Strohmaier). An der Geschichte der Iberischen Halbinsel lassen sich zahlreiche Affinitäten und Symbiosen zwischen islamisch-arabisch-orientalischer einschließlich berberischer und christlich-romanisch-westeuropäischer Kultur studieren, die mit jüdischem, byzantinischem und hellenistischen Erbe zusammenhängen (Epalza), und ähnlich an der Geschichte Siziliens (Borruso). Trotz starker Ausrichtung auf den Westen ist es im vorkommunistischen Rußland muslimischen Intellektuellen nicht gelungen, zu einer balancierten Synthese von europäischer Zivilisation und islamischer Kultur zu kommen (Batunsky). In Westeuropa läßt sich studieren, wie sich seit Anfang des Jh.s islamisch-mystische und aus ihnen herausgewachsene universal-religiös-mystische Gruppen etablieren (Keller), aber auch betont islamische Identität im Alltagsleben von Bevölkerungsgruppen seit einigen Jahren zunehmend selbstverständlicher geworden ist, nachdem Frauen, die sich verhüllen, immer größere Freiräume zugestanden wurden (Weibel).

Im Schlußteil "The Study of Religion and Islamic Studies" resümiert Waardenburg, wie Einsichten aus der Religionsgeschichte die Islamwissenschaft anregen können zum Studium des Religiösen am Islam. Ein wichtiger Ansatz ist dabei: Welche Gegebenheiten besitzen für eine Gruppe von Anhängern dieser Religion Bedeutung, welchen erkennen sie selber religiöse Bedeutung und damit einen Zeichen- oder Symbolwert zu? Welche Rolle spielt die - so als Netzwerk von auf den Koran und die Prophetentradition bezogenen Zeichen verstandene - islamische Religion für muslimische Gesellschaften, für Muslim-Identität und Muslim-Spiritualität, auch im Verhältnis zu den lokalen Symbolsystemen?