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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

533–535

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schumann, Hans Wolfgang

Titel/Untertitel:

Mahayana-Buddhismus: Das große Fahrzeug über den Ozean des Leidens. Überarb. Neuausgabe.

Verlag:

München: Diederichs 1995. 242 S., 1 Abb. 8° = Diederichs Gelbe Reihe, 114. DM 26,-. ISBN 3-424-01168-1.

Rezensent:

Christoph Kleine

Wie in seinen früheren Arbeiten versteht es Sch. auch in diesem Buch, eine übersichtliche und anschauliche Darstellung eines komplexen Themas zu präsentieren. Er beschreibt im Einleitungsteil die Konflikte, die zum Schisma zwischen den "konservativen" Theravadin und den reformwilligen Mahasa.mghikas führten und zeigt, wie sich aus dem letztgenannten Flügel heraus letztlich folgerichtig der "Buddhismus des Großen Fahrzeugs" entwickelte. Die zentralen Lehrauffassungen wichtiger Schulen werden kurz skizziert.

Im ersten Hauptteil führt Sch. in die Philosophie des Mahayana ein, indem er zunächst die Entwicklung der Leerheitslehre ('sunyatavada) nachzeichnet und anschließend die Hauptgedanken des großen Madhyamaka-Denkers Nagarjuna vorstellt. Im zweiten Kap. des ersten Hauptteils gibt der Autor einen knappen Überblick über die "idealistischen" Theorien des vijñanavada.

Der zweite Hauptteil behandelt "buddhologische" Themen wie die im Mahayana sich allmählich durchsetzende Vorstellung von der gleichzeitigen Existenz einer Vielzahl von Buddhas und die Theorie von den "Drei Leibern" (trikaya). Sch.s Darstellung der trikaya-Lehre ist allerdings mißverständlich, insofern er den Eindruck erweckt, als handele es sich bei den Buddhas des "Dharma-Leibes", des "Genußleibes" und des "Verwandlungsleibes" um unterschiedliche Buddhas und nicht um Aspekte, die jedem einzelnen Buddha eignen. Die Charakteristika und die Ikonographie einzelner Buddhas (Maitreya, Ak.sobhya, Amitabha) werden kurz vorgestellt.

Im dritten Hauptteil erörtert Sch. die spezifisch mahayanistische Vorstellung von den Bodhisattvas, die ihren eigenen Eintritt ins endgültige nirva.na hintanstellen, um die leidenden Wesen zur spirituellen Befreiung zu führen.

Äußerst hilfreich sind die Quellenangaben im Fließtext, die ein problemloses Nachlesen in den Quellentexten ermöglichen. Zahlreiche Illustrationen und Schaubilder lockern den Text auf und veranschaulichen komplizierte Sachverhalte. Positiv hervorzuheben ist zudem, daß Sch. dem deutschsprachigen Publikum kommentierte Übersetzungen und Teilübersetzungen wichtiger Originaltexte vorlegt. Leider weist die Arbeit aber auch gravierende Mängel auf:

Im Grunde bietet sie gegenüber früheren Darstellungen der Ideenwelt des Mahayana nichts Neues. Dem Anspruch, den Mahayana-Buddhismus darzustellen, wird Sch. keinesfalls gerecht. Der Autor befindet sich in einer Tradition von Gelehrten, die das Wesen einer "Hochreligion" allein in ihren Heiligen Schriften, in ihren Dogmen und philosophischen Abhandlungen verorten. Nirgendwo begegnet uns der von Alltagssorgen geplagte Gläubige, die Nonne, die vor einer ungewollten Heirat in das Kloster geflüchtet ist, der Asket, der in die Wildnis zieht, um durch Entsagung und magische Praktiken übernatürliche Fähigkeiten zu erlangen, der abgedankte Kaiser, der in prunkvollen Gewändern und in luxuriöser Umgebung den Mönch spielt usw. Buddhismus ist bei Sch. ein System mehr oder weniger scharfsinniger Gedanken, weniger gelebter und praktizierter Glaube. Als Indologe beschränkt Sch. sich weitestgehend auf die Darstellung des indischen Mahayana-Buddhismus, und dieser ist eine institutionell praktisch erloschene Religion. Lebendiger Mahayana-Buddhismus ist heute vor allem in Ostasien zu beobachten; der ostasiatische Buddhismus wird aber bezeichnenderweise lediglich in kurzen Exkursen über Zen- und Amida-Buddhismus gestreift. Dabei bilden diese beiden in China entstandenen Glaubensrichtungen seit über tausend Jahren das Schwergewicht des Mahayana-Buddhismus. Zudem sind die diesbezüglichen Angaben Sch.s inhaltlich höchst fragwürdig. Die Namen der großen chinesischen Denker und Schulgründer, die den bis heute von Abermillionen von Menschen praktizierten Buddhismus ebenso maßgeblich wie nachhaltig prägten, sucht man vergebens. Die autoritativen Texte des Mahayana werden nahezu ausschließlich als Träger religiöser Ideen behandelt, wobei ihr spezifischer "Sitz im Leben", ihre kultische und liturgische Funktion völlig mißachtet wird. Von einem aus religionswissenschaftlicher Sicht inadäquaten Verständnis des Buddhismus zeugt auch Sch.s Unterscheidung des "historischen Buddha" des Pali-Kanons vom "transzendenten Buddha 'Sakyamuni" der mahayanistischen Schriften.

Sch.s Desinteresse am ostasiatischen Buddhismus offenbart sich auch in den an sich lobenswerten Illustrationen. Sämtliche bildlichen Darstellungen von Buddhas und Bodhisattvas stammen aus Indien, Nepal oder Tibet, ohne daß Zeitpunkt und Ort ihrer Entstehung immer kenntlich gemacht würden. Da die ikonographischen Unterschiede je nach Kulturraum jedoch be-
trächtlich sind, wäre es zumindest angebracht, die Herkunft eines Bildnisses
anzugeben, um nicht den Eindruck zu erwecken, hier handele es sich um eine universell gültige Darstellungsform.

Sch.s Buch ist zwar durchaus empfehlenswert für Leser, die sich einen Überblick über zentrale Aspekte der Mahayana-Philosophie Indiens verschaffen möchten. Ich meine aber, daß es an der Zeit wäre, den Buddhismus - ebenso wie andere lebende Religionen - als komplexe und dynamische, von Menschen gelebte, geglaubte und praktizierte, in einem sozio-kulturellen, ökonomischen und politischen Zusammenhang stehende Systeme zu behandeln und nicht als die Gedankenspiele weniger Gelehrter der Vergangenheit, an denen sich die Gelehrten der Gegenwart delektieren.