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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

788 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Plisch, Uwe-Karsten

Titel/Untertitel:

Die Auslegung der Erkenntnis (Nag-Hammadi-Codex XI,1). Hrsg., übers. u. erkl.

Verlag:

Berlin: Akademie-Verlag 1996. XVI, 174 S., 4 Taf. gr.8 = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 142. Geb. DM 220.- ISBN 3-05-003008-9.

Rezensent:

Kurt Rudolph

Der nur wenig bekannte Text (abgekürzt: Inter, d. h. Interpretation; griech. Hermeneia) aus den koptischen Nag-Hammadi-Codices (MHC) erhält hier erstmalig eine deutsche Bearbeitung, wofür dem Vf. aus der Schule von H. M. Schenke uneingeschränkt zu danken ist. Die singuläre Schrift, die bisher in keiner anderen Version oder durch ein Zitat nachweisbar ist, wurde zuerst von J. Turner in Zusammenarbeit mit E. Pagels ins Englische übersetzt (Nag Hammadi Library in English, hg. von J. M. Robinson, 1977, 427-434; 3. Aufl. 1988, 472-480) und dann in der amerikanischen Coptic Gnostic Library (NHC XI, XII, XIII, ed. C.W. Hedrick, 1990 = NHS 28) ediert. In der Faksimile-Ausgabe war sie schon seit 1973 zugänglich. In die Gnosisforschung ist sie durch E. Pagels (The Gnostic Gospels, 1979, 95 f.; dt. Versuchung durch Erkenntnis, 1981, 73 f.) und vor allem durch K. Koschorke (Die Polemik der Gnostiker ge-gen das kirchliche Christentum, 1978, 69-71; Eine neugefundene gnostische Gemeindeordnung, ZThK 76, 1979, 30-60) eingebracht worden. Leider ist der Text nur zur Hälfte erhalten (von den 21 Seiten sind 19 im oberen Teil, teilweise bis zur Mitte, zerstört), was das Verständnis des Zusammenhangs er-heblich erschwert und z. T. unmöglich macht.

Die vorliegende Ausgabe beschränkt sich primär auf den Text, seine Edition und Rekonstruktion bzw. Emendation, woran sich eine daran orientierte Kommentierung anschließt. In einer kurzen Einleitung (1-5) werden die wichtigsten Probleme der Schrift aufgegriffen: ihre Datierung nach der Hs. in die Mitte des 4. Jh.s, ihre vorkoptische Entstehung als griechisches Original zwischen 100 und 350, eine nähere Eingrenzung wird zwar anvisiert (3 oben), aber nicht weiter verfolgt. Die literarische Form wird, wie schon bei Pagels/Turner, als Homilie bestimmt. Eine Zuweisung zur valentinischen Schule, wie sie Pagels, Turner und Koschorke vornehmen, wird in Frage ge-stellt, da dafür keine überzeugenden Beweise beizubringen seien; der Autor sei "ein christlicher Gnostiker in bewußter Paulustradition" (4). Das Koptische von Inter ist ein lykopolitanischer (früher: subachmimischer) Dialekt mit einigen Besonderheiten, worüber auch die Indices (53-68) näher Auskunft geben.

Die Edition (8-49) beruht auf Autopsie der Kairoer Handschrift und bringt an einigen Stellen gegenüber dem von Turner hergestellten Text bessere oder mehr gesicherte Lesarten, aber für das Gesamtverständnis keine gravierenden Fortschritte. Die Versuche, trotz Zerstörung zahlreiche Lacunae zu füllen, zeugen zwar für den philologischen Scharfsinn, sind aber letztlich kein festes Fundament für die Interpretation, auf das man bauen kann. Der Rez. bedauert, daß sehr viel Platz im Kommentar für die Diskussion über eine mehr oder weniger sichere Rekonstruktion bzw. Emendation der erheblichen Lücken verwandt wird. Man hätte sich mehr Raum für eine inhaltliche und religionsgeschichtliche Vertiefung der erhaltenen Passagen ge-wünscht, auch wenn gerade der schlechte Erhaltungszustand dazu wenig einlädt.

Der Kommentarteil (75-162) folgt den kleineren und größeren Satz- und Sinnabschnitten, aber ohne den Versuch einer gewissen Gliederung oder Themaangabe im Sinne der Abfolge der Homilie. Pagels/Turner haben dazu mehr geboten (22 ff.). Man hat den Eindruck, daß der Text für den Editor aus lauter Einzelstücken besteht, wie schon H. M. Schenke einmal vermutet hat (3 unten). Dem ist aber m. E. nicht so. Während in einem ersten Teil (1-14) Leiden und Werk (inklusive der Kirche) des Soter Christus vorgestellt wird, zieht der zweite Teil (14-21) daraus Konsequenzen für die kritische Situation der Gemeinde, indem der Vf. das paulinische und deuteropaulinische Bild vom Leib Christi und seinen Gliedern (Röm. 12,4-8; 1Kor 12,12-31; Ep. 4,11-15) bemüht, um die Spaltung aus "Neid" zu überwinden (15-19). P. gibt dazu auch einen (einzigen) Exkurs (146-149), der die Unterschiede zwischen Inter und Paulus deutlich macht. Die Schrift zeigt insgesamt, wie eindeutig frühchristliche (neutestamentliche) Theologumena mit der typisch gnostischen Vorstellungswelt (vgl. bes. 9,28-35) in einer eigenständigen Weise verbunden werden konnten, die nur für einige Spezialisten dann als "häretisch" erklärt worden sind. Auffällig ist, wie schon Koschorke feststellte, die Bindung an die (paulinische) Idee von der geistgewirkten Gemeinschaft als Grundlage der Einheit der Kirche, die im 2./3. Jh. in der Großkirche nicht mehr primäres Thema war. Die Realität der Kreuzigung Christi wird hierbei ebenso wenig bestritten (1,21; 5,30 ff.; 13,25 ff.) wie daß das Leiden Christi der Sündenvergebung dient (12,26; 5,30-33).

Daß Paulus, der selbst nicht direkt genannt wird, in der christlichen Gnosis eine dominante Autorität war, zeigt Inter erneut auf eindrucksvolle Weise. Vielleicht hat P. mit seiner Vermutung recht, daß nach 2,28-31 Paulus als Erster der "Spur" oder dem "Fußstapfen" des Soter folgte (82). Die Betonung von Gnade oder Gabe, die den "Kämpfern des Logos" (21,28) oder "Gottesmenschen" (20,30) gegenüber den "Ungeübten" oder "Einfältigen" (idiotes) und "Unverständigen" geschenkt ist, fällt ebenso auf wie der wiederholte Bezug auf den Glauben: Die Gläubigen stehen den "Heiden" (ethnoi) gegenüber (21,30; dazu 161). Die Gemeinde, die der Autor anspricht und aus der er selbst stammt (19,22 ff.; dazu 150 f.), ist offensichtlich eine aus den "Geist"- oder "Logos-Kämpfern" (Pneumatikern) und einfachen Gläubigen (Psychikern?) bestehende Kirche, die sich als Erbe frühchristlicher Tradition gegenüber den "toten Gliedern" versteht, die "unwissend" sind (17,22 ff.), womit offenbar großkirchliche Christen gemeint sind (s. 140 f.). Es handelt sich offenbar um zwei bzw. drei Fronten, die Inter im Auge hat: die mit der eigenen Struktur der (gnostischen) "Emanation der (Geistes-)Ga-ben" (16,30) in der Gemeinde Unzufriedenen ("Neidischen") und die bereits zur Großkirche Abgefallenen (vgl. 17,23 f.) bzw. die außerhalb der Gemeinde (Kirche) befindlichen Leute, die dem (irdischen) Leben dienen (19,27 f.) und dem Teufel verfallen sind (20,18), vielleicht die "Heiden" (21,30). Für diese Situation erscheint mir doch die valentinische Kirche als Einzugsbereich für den Vf. von Inter wahrscheinlich zu sein, wie auch einige Stellen naheliegen (Sophie, Pleroma, "Größe", Finsternis als Abtrennung von der "Mutter" in 13,14 ff., Logos, Rolle Christi bzw. Jesu, Sündenvergebung u. a.; vgl. die Stellen bei Pagels/Turner 24 ff., 77 ff.; M. R. Desjardin, Sin in Valentinianism, Atlanta, GA 1990). Dies weist auf die 2. Hälfte des 2. Jh.s bis zur 1. Hälfte des 3. Jh.s als Enstehungszeit hin.

Die sorgfältige Bemühung um die nicht einfach zu ,interpretierende' NHC-Schrift durch Plisch verdient hohe Anerkennung. Mit ihr ist ein weiteres Stück frühchristlicher Literaratur auch der deutschen Leserschaft zugänglich geworden.