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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

635 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Müller, Joachim

Titel/Untertitel:

Anthroposophie und Christentum. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung.

Verlag:

Freiburg(Schweiz): Paulusverlag 1995. 235 S. 8o = Weltanschauungen im Ge-spräch, 13. Kart. DM 39,80. ISBN 3-7228-0360-8.

Rezensent:

Gert Hummel

"In einem Klima des Unbehagens an gegenwärtiger Technik, Medizin, Wissenschaft, Erziehung, Religion und Kirchen wächst heute offensichtlich die Sympathie für anthroposophische Ideen", schreibt der Hg. dieses Sammelbandes zu Recht in seiner Einführung (7). Und er fügt hinzu, daß dieses Interesse wohl vorrangig den "praktischen Alternativangeboten" von der Lebensmittelproduktion bis zur (Heil-)Pädagogik gilt, aber neuerdings vermehrt auch dem anthroposophischen Erkenntnisweg als solchem (ebd.). In der Tat finden seit Jahren regelmäßig anthroposophisch-theologische Gespräche - zum Beispiel in der Evang. Akademie Bad Boll - statt. Auch die vorliegende Vortragssammlung verdankt sich einer erwachsenenbildnerischen Maßnahme: der Tagung der Ökumenischen Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz" 1993 in Zürich.

Wie zumeist in derartigen Sammelbänden sind die einzelnen Beiträge freilich von recht unterschiedlichem intellektuellen und sachlichen Gehalt. C. Willmann (9-19) bietet lediglich einige Aphorismen zur Wahrnehmung Steiners durch Zeitgenossen. Auch der Beitrag von H. Buser (43-53) über das "Göttliche im Menschen" führt nicht über ein paar Zitate zum Thema aus Steinerschriften oder aus der Bibel hinaus. Von A. Heertsch stammt ein zweiteiliger Aufsatz (67-97) über "Wiederverkörperung und Schicksal im Alltag", dessen zahlreich eingeflochtenen Beispielgeschichten von der Sache eher ablenken als sie klären. Und die Beobachtungen des Herausgebers über das anthroposophische Erziehungssystem und den christlichen Religionsunterricht an Waldorfschulen (114-124) hätten um der vielen Betroffenen willen durchaus gründlicher reflektiert werden dürfen.

Hingegen ist nun die von J. Finger stammende Studie über das Jesus-, Christus- und Weltbild der Anthroposophie (54-66) eine kurze, aber sachkundige und prägnante Einführung in diesen wichtigen Aspekt des Systems. Das gleiche ist von den Ausführungen G. Schmids (98-113) zum heute vieldiskutierten Problem der Reinkarnation zu sagen, die zudem durch ihre Ausgewogenheit den Charakter des Dialogs erhalten. Die interessantesten Partien des Buches bilden jedoch die Streitgespräche, die C. Bohlen in seinen beiden Beiträgen einerseits mit A. Grom, andererseits mit G. O. Schmid führt: A. Grom, der selbst durch eine Monographie zum Thema des Sammelbandes hervorgetreten ist (Kösel 1989), bringt hier eine konzentrierte Fassung (20-42) seiner dortigen Darlegungen zum Menschen- und Weltbild der Anthroposophie, welche er als pantheistisch, pluralistisch und transpersonal charakterisiert; dem hält C. Bohlen im Rahmen seines ersten Beitrags zur Steinerschen Erziehungsidee und dem Anteil der Religion in ihr das Ziel der "Erziehung zur Freiheit" des sich und seine Welt erkennenden und verantwortlich gestaltenden Ich entgegen. G. O. Schmid behandelt im umfangreichsten Artikel des Bandes (138-194) die in theologischen Gesprächen seltener vorkommenden Äußerungen Steiners zu Volksseele und Rasse, die er reichlich mit Belegen versieht, und die Steiner u. a. den Vorwurf des Rassismus, Nationalismus oder Germanozentrismus eingetragen haben. C. Bohlen wehrt sich (195-212) vehement gegen diese von ihm als unqualifiziert und verleumderisch bezeichneten Vorwürfe, wobei er weniger von Einzeläußerungen als vom Gesamtdenken der Steinerschen Geisteswissenschaft her argumentiert.

Das Schlußwort von M. Scheidegger (217-228) weist zu Recht darauf hin, daß die meisten der angesprochenen Probleme weiterer Klärung und damit der Fortsetzung des Dialogs bedürfen. Daß dieser notwendig erscheint und die Zeit der nur doktrinären Auseinandersetzungen der Vergangenheit an-gehören muß, wenn man einer Lösung der eigentlichen geistigen Fragen der Gegenwart näherkommen will, wird gerade dort deutlich, wo in diesem Band zur Sache geredet wird - gewiß nicht "zum ersten Mal", wie der Klappentext glauben machen möchte, aber hoffentlich nicht zum letzten Mal.